Indien: Gegen alle Tabus
Die Aktion war rekordverdächtig: Millionen Frauen haben im indischen Bundesstaat Kerala am Neujahrstag eine rund 620 Kilometer lange „women’s wall“ gebildet, sprich: eine Mauer aus Frauen. Ein symbolischer Protest für mehr Gleichberechtigung aus konkretem Anlass.
Im vergangenen Herbst hatte das Oberste Gericht ein wegweisendes Urteil gefällt: Frauen zwischen zehn und 50 Jahren sollte es zukünftig gestattet sein, den hinduistischen „Sabarimala Temple“ zu betreten. Der in den Bergen der Westghats gelegene Schrein ist eines der berühmtesten Wallfahrtsziele des Landes und zieht jährlich Millionen Pilger an. Männliche Pilger, denn Frauen im „menstruierenden Alter" war der Zutritt zum Tempel bis vor kurzem noch strikt untersagt.
Die Auffassung, dass menstruierende Frauen „unrein“ sind und während ihrer Periode ein Gotteshaus bzw. Tempel nicht betreten dürfen, ist nicht nur unter orthodoxen Hindus verbreitet, sondern findet sich historisch betrachtet unter Strenggläubigen aller Weltreligionen. In diesem Fall soll der sagenumwobene Gott Ayyappan, dem der Tempel geweiht ist, zudem im Zölibat gelebt haben – und wird dafür von seinen Gläubigen verehrt. Dass Frauen den Tempel besuchen wäre für sie reiner Frevel.
Der indische Supreme Court erklärte dieses religiöse Gesetz für verfassungswidrig. Es verletze das „Recht der Frauen auf Gleichberechtigung“ und „freie Religionsausübung“. Dieses Urteil hat viel Zuspruch, aber auch eine scharfe Kontroverse ausgelöst, die Indien nun schon seit Monaten beschäftigt.
Im Oktober gab es erste gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern des Verbots und der Polizei, 2.000 Menschen wurden festgenommen. Alle Frauen, die versucht haben, seither den Tempel zu betreten, sind gescheitert. Sie wurden von fundamentalistischen Hindus auf dem Weg zu dem Tempel mit Gewalt aufgehalten.
Zumindest bis jetzt. Am vergangenen Mittwoch schlichen sich zwei 42-jährige Frauen kurz vor Sonnenaufgang ganz in Schwarz gehüllt und unter Polizeischutz durch den Personalzugang in den Tempel. Ein Video von der Aktion kursiert im Internet - und löste prompt wieder gewaltsame Proteste im ganzen Bundesstaat aus. Inzwischen ist die Gewalt eskaliert. Ein Mann wurde getötet, 15 verletzt. Bei Zusammenstößen zwischen Hindu-Fundamentalisten und der Polizei wurden erneut 1.370 Menschen festgenommen. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Blendgranaten und Tränengas ein. Laut Medienberichten wurden in Kerala 20 Büros der kommunistischen Partei angegriffen und selbstgebaute Sprengsätze in Häuser von Politikern geworfen. Der oberste Priester ließ den Tempel nach der Aktion erst mal schließen, um ein „Reinigungsritual“ zu vollziehen.
https://www.youtube.com/watch?v=LDe0klH5BF8
Für viele InderInnen ist die Frauenkette dennoch eine historische Aktion. „Eine solche Massenbewegung von indischen Feministinnen gegen religiöse Traditionen ist so gut wie beispiellos in der Geschichte des Landes“, schreibt die renommierte Times of India.
Der Protest zündete nicht zufällig. Seit Monaten ist der indische Subkontinent von einer Sexismus-Debatte erfasst, die sich unter dem Hashtag #MeTooIndia von Bollywood aus ins ganze Land ausgebreitet hat. Wochenlang brach sich die Wut der indischen Frauen in sozialen Online-Netzwerken Bahn, die sich über Jahre aufgestaut hatte. In diese Zeit fiel auch das Sabarimala-Urteil.
Im Bundesstaat Kerala wechselt sich seit Jahren die marxistisch orientierte Kommunistische Partei Indiens mit der liberalen Kongresspartei an der Spitze ab, beide drängen auf eine Umsetzung des Supreme-Court-Urteils. Auf nationaler Ebene aber regiert die rechtkonservative, hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party, kurz BJP, unter Narendra Modi.
Seit Modi an der Macht ist, haben die fundamentalistischen Hindus in Indien Aufwind. Kritiker werfen dem Premierminister vor, dass er die Tempelkontroverse nutzt, um die Stimmung im Hinblick auf die anstehenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2019 erst recht aufzuheizen. Die BJP und die verwandte radikal-hinduistische Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) verwandele den Sabarimala-Tempel in "eine Kampfzone", klagte Pinarayi Vijayan, Regierungschef von Kerala. Zuletzt musste die BJP bei Regionalwahlen erhebliche Einbußen einstecken.
Dabei weist die Schärfe und auch das Durchhaltevermögen, mit dem indische Frauen aller Klassen und Kasten nun seit Monaten ihre Rechte einfordern, schon auf ein weiteres Novum hin: Frauen und ihre politischen Forderungen könnten erstmals in der Geschichte des Landes einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie die Parlamentswahlen im April und Mai ausgehen.