Massenproteste in Indien halten an

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Drei Wochen nach der bestialischen Vergewaltigung einer jungen Frau in Delhi halten die Proteste des jungen, modernen Indien auf den Straßen der großen Städte an. Das ist die gute Nachricht. Doch nach dem Tod der 23-Jährigen, die von einer verängstigten Regierung noch eilends zum Sterben nach Singapur geschafft worden war, gehen die Vergewaltigungen überall im Lande weiter, so als sei nichts geschehen. Das ist die schlechte Nachricht. Eine Vierjährige hier, eine Zwölfjährige dort, eine 40-Jährige, die das Pech hatte, als Angehörige der Dalits, der so genannten Unberührbaren, einem höherkastigen Mann über den Weg zu laufen, eine Gruppe junger Mädchen, die einem Trupp Soldaten gerade recht kam – kein Tag vergeht, ohne dass die Zeitungen nicht voll sind mit solchen Berichten. Hunderte ähnlicher Fälle werden wie eh und je verschwiegen, weil die Ehre der Familie, die Ehre des Mannes angekratzt werden könnte, oder weil sich das Opfer umbrachte aus Scham über die Schande. Viele der jungen Frauen und, zum ersten Mal, auch der jungen Männer, die mit dem Ruf nach Gerechtigkeit für Frauen auf die Straße gehen, glauben, dass Indien nicht mehr so weiter machen kann wie bisher.

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Denn die aufstrebende, moderne Mittelklasse der Städte hat sich weder durch Wasserwerfer einschüchtern, noch durch die bislang immer wieder funktionierende Hinhaltetaktik des Staates einlullen lassen. Überall sind schließlich Städte die Motoren des Wandels. Doch die große Masse der InderInnen lebt nach wie vor auf dem Dorf, 800 Millionen Menschen, und jede Inderin, jeder Inder trägt nach wie vor das Dorf „seiner Ahnen“ mit sich herum, auch in die Slums der Städte, wo ständig neue kleine Dörfer entstehen.

Aus solch einem Slum kamen die Vergewaltiger der jungen Frau, von denen drei am Freitag vor Gericht auf nichtschuldig plädieren wollen, weil die Polizei sie ohne Beisein von Anwälten verhört und Beweise manipuliert habe, ja, weil es noch nicht einmal gelungen sei, das richtige Alter des jüngsten Beschuldigten festzustellen, der behauptet 17 zu sein und deshalb mit einer Höchststrafe von drei Jahren davonkommen könnte, während die Demonstranten für alle die Todesstrafe verlangen.

Dass sich mit Hinrichtungen gesellschaftlicher Wandel nicht erreichen lässt, zeigen freilich Beispiele aus der ganzen Welt. Indien befindet sich in einer Phase gewaltiger Umwälzungen, jetzt, da es den Anschluss an das globale Zeitalter sucht. Aber so, wie Indien „tickt“, kann das nicht gelingen. Das schöne, zauberhafte, harmonische Indien mit seinen Gurus und Heiligen mag für die Werbung vom „Incredible India“ taugen.

Indische Realität dagegen präsentiert sich anders: Ein Staat, der kein Interesse daran hat, seine BürgerInnen zu schützen oder gar für deren Wohlergehen zu sorgen; Politiker, die nur die eigene Selbstbereicherung im Auge haben; eine überwältigende Korruption, für die Familien ein Drittel ihres Einkommens ausgeben müssen; eine selbstgefällige Bürokratie, die vor allem den Armen jede Chance auf ein besseres Dasein nimmt; Gerichte, die nicht Recht sprechen; eine Polizei, die ihre Aufgabe darin sieht, sich bei Politikern und wichtigen Herrschaften beliebt zu machen, aber nicht, die Menschen - schon gar nicht Frauen - zu schützen.

Wer in Indien Macht, Geld und Einfluss hat, für den gelten die Gesetze nicht. Die Masse der Inder dagegen ist recht- und machtlos. Das ganze System ist total verrottet, dieses System, das auf Diskriminierung aufbaut, dass diejenigen schikaniert, die auf der sozialen, vor allem aber Kasten-Leiter tiefer stehen. Ganz unten stehen die Frauen.

Die Frage ist, wie verändert man ein System, das von über einer Milliarde Menschen bisher ohne Revolution hingenommen wurde – wohl auch, weil ihre Religion sie glauben macht, dass im nächsten Leben alles besser werden kann? In erschreckender Weise wird deutlich, dass sich die Dörfer in den patriarchalischen und kastenhierarchischen Strukturen derzeit verhärten, offenbar eine Antwort auf die moderne Welt der Städte.

Die Antwort ist einfach, ihre Verwirklichung jedoch schwer und langwierig. In den Köpfen der Menschen auf dem Lande muss ein neues Denken einziehen, bei Männern, aber auch bei Frauen, denen man einredet, dass nur Söhne etwas wert sind. Weil die Männer kaum freiwillig auf ihre Privilegien verzichten, müssen Frauen die traditionelle Gesellschaft von der Männerdominanz befreien. Das geht nur, wenn Mädchen und Frauen Bildung und Ausbildung erfahren, wenn sie selbstbewusst und selbstständig sind.

Die Autorin unterstützt mit dem Anugraha-Projekt von LIFT e.V. genau dieses Ziel. Denn die dort geförderten Mädchen haben bereits begonnen, ihre Umwelt zu verändern. Sie sind die Hoffnungsträger für ein menschlicheres Indien.

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