Revolution in Rosa

Die pinken Saris sind das Markenzeichen der Gulabi Gang. © Jörg Böthling
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Der etwa 13 Jahre alte Junge hat sofort erkannt, wer da durch die Straßen seiner indischen Heimatstadt Mahoba marschiert: „Das ist die Gulabi Gang“, sagt er. „Und mit ihren Stöcken verprügeln sie die Männer.“ In seiner Stimme liegt eine ­gewisse jugendliche Bewunderung. Aber auch eine gehörige Portion Respekt. Dabei sind es alles andere als finstere Gestalten, die den jungen Mann so beeindrucken. In leuchtend rosa Sari-Gewändern gekleidet, ziehen diese Frauen durch die Stadt. Ihr Ziel: das Büro der Bezirksverwaltung.

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„Denn dort liegen die Probleme“, sagt die Anführerin der Gruppe. Sampat Pal Devi heißt sie, und sie hat die „Gulabi Gang“ – übersetzt: „die rosafarbene Bande“ – im Jahr 2006 gegründet. „Seitdem kämpfen wir gegen gewalttätige Ehemänner und korrupte Beamte.“ Und wenn es eben sein muss, wenden die Frauen dabei selbst ­Gewalt an. Deshalb tragen sie ihre Lathis mit sich, jene langen Bambusstöcke, mit denen sonst Hirten ihre Kühe und Ziegen vor sich her treiben.

Ein ums andere Mal haben diese ­Stöcke der Gulabi Gang schon zu ihrem Recht verholfen. Da war zum Beispiel diese große Lieferung Reis, die eigentlich für die Ärmsten der Armen bestimmt war. Die Regierung hatte Lebensmittelkarten ausgeteilt, und dafür sollte es den Reis geben. Nur kam davon nichts bei den ­Bedürftigen an. „Alles schon weg“, meinten die zuständigen Beamten nur. Doch die Frauen um Sampat Pal fanden heraus, dass die Regierungsleute den Reis heimlich schon auf dem Schwarzmarkt verscherbelt hatten. Als die Polizei nur wenig Interesse zeigte, diesem Vorwurf ­nach­zugehen, platzte den Gulabi-Frauen der Kragen. Gemeinsam zogen sie los – und verwüsteten die Polizeistation.

Dabei wehrt sich Sampat Pal heftig ­dagegen, wenn sie als aufrührerische Banditin hingestellt wird. „Wir kämpfen doch nur für Gerechtigkeit“, sagt sie dann. ­Unrecht hat sie selbst oft genug erfahren. Als Tochter eines Ziegenhirten wurde sie mit zwölf Jahren verheiratet, das erste Kind kam, als sie 15 war. Immer öfter lehnte sie sich auf – gegen die Brahmanenpriester aus der obersten Kaste, die sie schikanierten, und die Schwiegereltern, die sie unterdrückten. Schließlich wurde sie fortgejagt aus dem Dorf ihres Mannes.

Doch Sampat Pal hatte Glück – ihr Mann ging mit ihr, gemeinsam schlugen sie sich irgendwie durch. Sie arbeitete als Näherin, dann traf sie auf Mitarbeiter einer lokalen Hilfsorganisation und schloss sich ihnen an. Doch auf Dauer wollte sie mehr erreichen.

Tatsächlich scheinen die Probleme schier übermenschlich groß in diesem Teil von Uttar Pradesh, der auch Bundelkhand genannt wird. Seit bald zehn Jahren lässt die anhaltende Dürre Hirse und Weizen auf den Feldern verdorren. „Wenn wir nur endlich mehr Wasser ­hätten“, klagen die Menschen in den Dörfern.

Arbeiten würden sie sofort, aber die wenigsten besitzen überhaupt eigenes Land. Seit Jahrhunderten hält sich hier ein Feudalsystem, das diejenigen bevorzugt, die zufällig in eine hohe Kaste ­hineingeboren worden sind. Eine Frau namens Ladku aus einem Dorf, in dem die unteren Kasten und Dalits („Kasten­lose“) leben, sagt: „Die Landbesitzer ge­ben uns Arbeit, wenn wir bei der Ernte helfen sollen. Den Männern zahlen sie 100 Rupien am Tag. Wir Frauen bekommen nur 60 Rupien. Dabei arbeiten wir sogar mehr als die Männer!“

Hundert Tage bezahlte Arbeit im Jahr will die Zentralregierung in Delhi der ­verarmten Landbevölkerung garantieren. Doch die Umsetzung scheitert an den ­gewählten Dorfvorstehern aus oberen Kasten. „Sie geben uns doch nur dann etwas, wenn sie unsere Wählerstimmen wollen“, sagt die alleinstehende Ladku. Im Arm hält sie einen kleinen Jungen, wohl ein Jahr alt. „Mein Sohn“, sagt sie lächelnd. Ladku ist 50.

„In diesen Dörfern kann eben alles passieren“, sagen die Leute. Jeder kennt hier Geschichten von Frauen, die Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung wurden. Manchmal kommen die Täter aus der eigenen Familie, oft aber sind sie Mitglieder der höheren Kasten. Und mit ein bisschen Geld ­können sie nach der Tat auch dafür ­sorgen, dass der zuständige Polizeimeister die Anzeige des Opfers im Papierkorb ­verschwinden lässt.

Viele Frauen versuchen ihr Glück zumindest zeitweise woanders. Ladkus Nachbarin Bathi erzählt, wie sie sich von dubiosen Arbeitsvermittlern anwerben ließ und in Städten landete, die sie kaum vom Namen kannte. In Delhi und Mumbai musste sie auf Baustellen schuften, damit die Hochhäuser und Einkaufspaläste des neuen, reichen Indien schnell fertig werden. Nachts campierten sie in löchrigen Zelten, irgendwo unter dem Baugerüst, bis sie mit ein paar Rupien in der Tasche wieder zurück nach Bundelkhand geschickt wurden.

Nicht nur die Not ist hier groß, sondern auch die Wut. Nur zu bereitwillig gehen immer mehr Frauen mit, wenn jemand wie Sampat Pal über die Dörfer zieht und ihnen mit einer einfachen Botschaft etwas Großes verspricht: „Folgt mir, gemeinsam können wir für unser Recht kämpfen!“ Was hätten sie auch zu verlieren? An die 40.000 Mitglieder soll die Gulabi Gang inzwischen haben, verstreut in der ganzen Region, organisiert in kleinen Gruppen, mit einer Kommandantin in jedem Dorf und in jeder Stadt.

Vielleicht einhundert mögen es sein, die vor dem Bezirksamt von Mahoba sitzen und ihrer Anführerin zuhören. Sampat Pal ist eine charismatische Rednerin, und noch leichter gewinnt sie ihre Zuhörer, wenn sie ihre Botschaften in einem Lied verpackt. Wie weit wird diese Bewegung sie tragen? Sie ist nicht die erste Frau in dieser Gegend, die die Armut besiegen will.

Eine von Sampat Pals Vorgängerinnen war Politikerin und wurde zur Banditin. Eine andere war Banditin und wurde ­Politikerin. Die eine heißt Kumari Maya­wati und regiert gerade als Premierministerin in Lucknow, der Hauptstadt des Bundesstaates Uttar Pradesh. Auch sie ­gehört zu den Dalits, den „Unberührbaren“.

Entsprechend große Hoffnungen und viele tausend Wählerstimmen aus den unteren Schichten haben sie ins Amt gehoben. Aber jetzt ist die Enttäuschung groß. „Mayawati ist die Korrupteste von allen“, wettert Sampat Pal. Einigen Günstlingen habe sie Posten und Ämter verschafft. ­Ansonsten sei sie vor allem damit beschäftigt, sich in Lucknow mit einer riesigen Statue ihr eigenes Denkmal zu errichten.

Die andere war Phoolan Devi, die in den 1980er Jahren als „Königin der Banditen“ halb Indien in Atem hielt. Sie stahl Geld von den Reichen und gab es den Armen. Bis sie einen Parlamentssitz ­gewann, dann war es mit den Wohltaten des weiblichen Robin Hood bald vorbei. 2001 wurde sie ermordet.

Sampat Pal von der Gulabi Gang scheint noch irgendwo dazwischen zu ­stehen. Nicht ganz Banditin, noch nicht Politikerin. Obwohl sie das letztere doch für erstrebenswert hält. Gouverneurin in einem unabhängigen Bundesstaat Bundelkhand, das wäre etwas! Natürlich nur, „wenn das Volk es will“, sagt sie.

Einstweilen gibt es noch genug zu tun. Fast jeden Tag sprechen Frauen vor, die unterdrückt, missbraucht, betrogen werden. „Werdet Mitglied in der Gulabi Gang,“ sagt ihnen Sampat Pal, „Dann wird euch geholfen.“ Längst nicht alle finden das gut. Für ihre Prügelaktionen hat die Gruppe eine ganze Reihe von Anzeigen ­erhalten: Störung der öffentlichen Ordnung, Hausfriedensbruch und so weiter. Manche halten sie für bloße Unruhestifter, andere mutmaßen gar, Sampat Pal werde heimlich von Terroristen unterstützt.

Entsprechend argwöhnisch beäugt ein kleines Polizeiaufgebot die Kundgebung in Mahoba. Unter die vielen Schaulustigen mischen sich allerlei sonderbare ­Gestalten. Zwei Herren gehen durch die Reihen und behaupten, sie seien Offiziere des indischen Geheimdienstes. Mit grimmiger Miene notieren sie Namen und Adressen der ­Zuhörer. Ein anderer Mann sagt: „Auch ich setze mich für die Rechte der Armen in Indien ein.“ Zwei Minuten später gibt er sich als Mitglied einer hindu-nationalis­tischen Vereinigung zu erkennen, die ­bekanntermaßen vor allem zwei Dinge ­anstrebt: die Vormacht des Hinduismus über alle anderen Religionen, und den ­Erhalt des Kastensystems. Gleichberechtigung der Frauen gehört da eher nicht dazu.

Sampat Pal lässt sich erst einmal nicht beeindrucken. „62 Jahre nach der Unabhängigkeit herrschen in Indien immer noch Armut und Korruption“, ruft sie ihrem Publikum zu. Ohne einen Rückblick auf Mahatma Gandhi geht es nicht. Im gewaltlosen Widerstand zwang dieser die gesamte britische Kolonialmacht in die Knie.

Im Gegensatz zur Gulabi Gang hat Gandhi nie zur Waffe gegriffen. „Ich verehre Gandhi, aber meine Taktik ist anders,“ sagte Sampat Pal zu Journalisten. Ist es in Ordnung, sich einfach mit dem Bambusstock zu holen, was einem zusteht? Gewalt soll nur das letzte Mittel sein, würde Sampat Pal sagen. „Ich versuche immer erst, eine Kompromiss­lösung auszuhandeln.“

Auch jetzt, in Mahoba kommen die Lathi-Knüppel nicht zum Einsatz. Plötzlich braust ein dunkler Landrover über den staubigen Platz. „Das ist der Bezirks-Unteroffizier“, raunt es in der Menge. Der Beamte steigt aus dem Auto und geht auf Sampat Pal zu. Diese liest ihm gehörig die Leviten und überreicht ihm ein so ­genanntes Memorandum. Auf zweieinhalb Seiten haben sie ihre Forderungen zu Papier gebracht. Von mehr Arbeit für die Armen bis zu einem Ende der Gewalt gegen Frauen ist die Rede. Geduldig hört der Regierungsmann sie an. Dann unterschreibt er und verspricht, sich dieser Forderungen anzunehmen. Ob es ihm ernst damit ist? Oder hat er nur um des lieben Friedens Willen unterschrieben?

Die Gulabi Gang ist erst einmal zufrieden. Sunam Singh, Kommandantin der Stadt Mahoba sagt: „Er weiß, dass er sein Versprechen halten muss, weil wir sonst mit unseren Stöcken in sein Büro kommen.“ Und Sampat Pal ergänzt: „Wenn zwanzig Frauen mit ihren Holzstöcken vor der Tür stehen, dann haben alle Angst, sogar die Polizei und die Regierung.“

Die wollen dem Herrn also genau auf die Finger schauen – und wenn es sein muss, dann werden sie ihm auf diese Finger klopfen.
 

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www.gulabigang.in
Weitere Fotos der Gulabi-Gang von Jörg Böthling

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