Ingeborg Rapoport: Die Kämpferin
Ingeborg Rapoport ist 102 Jahre alt und hat soeben ihren Universitätsabschluss gemacht, einen Doktor in Medizin. 45 Minuten lang wurde sie dafür von drei Prüfern befragt, Diphtherie war ihr Thema. Doch Ingeborg Rapoports späte Doktorwürde ist mehr als eine Geschichte von Menschen, die es im hohen Alter allen beweisen wollen. Hier geht es um Schuld. Und darum, ob man sie wiedergutmachen kann.
Aber erst einmal bittet Ingeborg Rapoport in ihr Haus in Berlin-Pankow. Sie lebt allein hier, seit ihr Mann vor zehn Jahren starb. Ein Wohnzimmer mit einem Flügel neben den Bücherschränken. Bevor sie an einem kleinen Tisch Platz nimmt, stellt sie das Telefon aus. Es klingelt ständig dieser Tage, die Nachricht von ihrer Promotion ging um die Welt. Aus den USA, Kanada oder Japan rufen sie an, später wird noch ein Journalist aus Spanien vorbeikommen.
Ingeborg Rapoport sitzt aufrecht in ihrem Sessel, weißes Haar umrahmt das zarte Gesicht. Sie ist aufmerksam und zugewandt. Sie strahlt die kluge Selbstsicherheit von Menschen aus, die es gewohnt sind, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen. Rapoport erzählt gleich von ihrer Prüfung, spricht über die „schwierige Forschungssituation“ und „den Stand der Wissenschaft“. Aus jedem Satz hört man die Ärztin und Wissenschaftlerin heraus, die sie ein Berufsleben lang war, zuletzt hatte sie an der Berliner Charité einen Lehrstuhl für Neugeborenenmedizin inne.
Das Lernen sei „etwas knifflig“ gewesen, sagt sie, wegen der nachlassenden Augen. Die Schwiegertochter hat für sie Sachen im Internet recherchiert und ihr am Telefon vorgelesen. Das hat sie gelernt oder der Schwiegertochter neue Fragen mitgegeben, so ging das viele Wochen lang hin und her.
Rapoport sagt das alles ganz ruhig, die Hände im Schoß gefaltet. Als sei es das Alltäglichste, mit 102 dermaßen im Leben zu stehen. Sie weiß, was auf der Welt vorgeht, spricht über amerikanische Politik, die Flüchtlinge im Mittelmeer und dass in Lüneburg gerade einem 96-Jährigen der Prozess gemacht wird, weil er SS-Mann in Auschwitz war. „Einmal muss er vor Gericht, das ist man den Opfern schuldig“, sagt Rapoport.
Dann wird sie ernst und still. In gewisser Weise sind der Prozess und ihre Promotion zwei Seiten derselben Medaille. Denn der Grund, warum Ingeborg Rapoport erst mit 102 Jahren Doktor wurde, ist, dass ihr der Titel 1938 verweigert wurde. Da hatte sie, die als Tochter eines Kaufmanns und einer Pianistin aufwuchs, an der Universität Hamburg ihre Doktorarbeit fertig. Es ging um die Lähmungen, die von der Diphtherie kommen. Doch weil ihre Mutter Jüdin war, wurde Ingeborg nicht zur Prüfung zugelassen, ihre akademische Laufbahn war zu Ende.
Kurz darauf musste sie aus Deutschland fliehen. Sie ging allein nach Amerika, machte dort einen neuen Abschluss und wurde Kinderärztin in Cincinnati. Sie heiratete und bekam vier Kinder, die ebenfalls in der Wissenschaft oder Medizin gelandet sind.
Rapoports Fall dürfte einer von vielen an deutschen Universitäten sein. Aber eine Frage stellt sich doch: Warum erst jetzt? Anruf bei Uwe Koch-Gromus. Er ist Dekan am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, vergangene Woche saß er als Prüfer in Ingeborg Rapoports Wohnzimmer.
Auf Rapoports verweigerte Doktorwürde stieß er, als die Charité sie zu ihrem hundertsten Geburtstag ehrte. Er hat ihr dann einen Ehrendoktortitel vorgeschlagen, was sie ablehnte. Wenn Doktor, dann richtig. Die Arbeit selbst ist zwar verschollen, aber Koch-Gromus fand noch eine Bescheinigung ihres alten Doktorvaters, der sich trotz des Druck für die jüdische Studentin eingesetzt hatte.
Koch-Gromus schwärmt von „der gestochenen Sprache“, mit der Rapoport 77 Jahre später ihre Arbeit verteidigte. Es ist dieselbe wache Klarheit, wie sie die beiden jungen Filmemacherinnen festhielten, die Ingeborg Rapoport und ihren Mann Samuel Mitja im Jahr 2003 besuchten. In dem Film sieht man, wie ein Mann und eine Frau, beide über 90, in ihrem Garten sitzen und ein Jahrhundert Revue passieren lassen. Ihre Flucht und das Fremdsein, das sie als das Schlimmste empfunden hätten. Und die Liebe, die sie zusammengehalten hat. „Das Funkelnde daran“, sagt sie. „Ich habe noch immer das alte Entzücken, wenn ich ihn sehe.“
„Die Rapoports – Unsere drei Leben“ heißt der Film. Drei, weil Ingeborg Rapoport auch aus ihrem zweiten Leben vertrieben wurde, das sie sich als Kinderärztin in Amerika aufgebaut hatte. Sie und ihr Mann waren überzeugte Kommunisten, und das war Anfang der McCarthy-Ära der 50er-Jahre in den USA existenzbedrohend. Die Familie musste einmal mehr auswandern. Sie gingen zurück nach Deutschland, ins zerbombte Ost-Berlin, wo Samuel Mitja der international bekannteste Biochemiker der DDR wurde.
Kann es eigentlich Wiedergutmachung geben? „Ich sehe dieses Wort immer unter Anführungsstrichen“, sagt sie und deutet auf eine Straße gegenüber. Eine überlebende Widerstandskämpferin
habe dort gewohnt, und als sie alt und dement wurde, „kam das Quälende Nacht für Nacht in ihren Träumen wieder“. Wie solle man so etwas wiedergutmachen? Auch ihr hatten die Erinnerungen
in den vergangenen Wochen den Schlaf geraubt.
Die Belohnung: Die 102 Jahre alte Ingeborg Rapoport schloss ihr Studium mit Magna cum Laude ab.
Ingeborg Rapoport: Meine ersten drei Leben (Nora-Verlag)