Meinungsfreiheit für Kinderpornos?
Der Zorn auf Ursula von der Leyen ist groß. "Knallhart erpresst" habe sie die Internet-Provider, die an diesem Morgen in Berlin den Vertrag zur Sperrung von Kinderporno-Seiten im Internet unterzeichnen: den "ersten deutschen Zensurvertrag", mit dem "unliebsame Inhalte nach Gutdünken des Bundeskriminalamtes" gesperrt werden sollen.
"Zensursula" prangt deshalb auf den Plakaten mit dem Konterfei der Ministerin, die die rund 300 DemonstrantInnen vor dem Pressezentrum der Bundesregierung in die Höhe recken. Zum Protest aufgerufen hat der Chaos Computer Club (CCC), dessen Sprecher Andreas Bogk ankündigt, jetzt die Kunden der Provider wg. "Internetzensur" mobilisieren zu wollen: "Die sollten den Provider verklagen."
Der CCC, ein 1982 gegründetes Netzwerk von Hackern und Datenschützern, investiert viel Zeit, Energie und (Wo)Manpower in den Kampf gegen die geplanten Kinderporno-Sperren. Wie auch Franziska Heine, die Verfasserin der Petition an den Bundestag, die vor einer "Gefährdung des Grundrechts auf Informationsfreiheit" warnt und die Abgeordneten aufruft, das Gesetz, das die Sperrung der Seiten erlauben soll, nicht zu verabschieden.
"Ich bin halt viel im Netz unterwegs und Meinungs- und Informationsfreiheit sind mir wichtig", erklärt die Mediengestalterin aus Schwerin. Auch in ihrem Bekanntenkreis sei "der Unmut groß" gewesen. Also verfasste die 29-Jährige die Petition, die inzwischen fast 100.000 UnterzeichnerInnen gefunden hat – so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Kein Zweifel, konstatiert auch das Bundesfamilienministerium: "Die Internet-Community ist gut organisiert."
Die Community wirft der Ministerin vor, "Wahlkampfgetöse" zu betreiben, denn de facto seien die geplanten Sperrungen der Seiten im Kampf gegen Kinderpornografie uneffektiv, ja sogar kontraproduktiv.
Was also genau plant Ursula von der Leyen? Das Bundeskriminalamt soll eine Liste mit Internetseiten erstellen, auf denen Kinderpornografie zu sehen ist. Diese Liste, die täglich aktualisiert werden soll, wird an die acht großen Provider weitergeleitet. Und die sind dann verpflichtet – zur Zeit vertraglich, später gesetzlich –, die entsprechenden Seiten innerhalb von sechs Stunden abzuschalten. Auf dem Bildschirm des Users erscheint sodann ein Stoppschild und der Hinweis, dass es sich hier um illegale Inhalte handelt.
Allerdings: Die fragliche Seite ist damit nicht aus dem Netz entfernt. Die Sperre – das so genannte "Access Blocking" – ist lediglich eine Art virtueller Vorhang, der das Angebot verdeckt. Deshalb können Internet-Kundige diese "Abdeckung" auch mit einigen Mausklicks umgehen. Wirklich getilgt wären die Kinderpornos erst, wenn sie auf den Servern der Anbieter gelöscht sind.
"Die Ministerin stellt eine spanische Wand davor und sagt mit viel Tamtam: Dahinter ist Kinderpornografie", kritisiert CCC-Sprecherin Constanze Kurz und erklärt: "Ich habe null Verständnis dafür, dass die Strafverfolger nicht ausrücken und die Server sperren!" Die Organisation CareChild, ein Verein gegen Missbrauch und Kinderpornografie mit Sitz in Münster, demonstrierte, wie einfach das gehen könnte: Sie wählten 20 Links der dänischen Liste mit indizierten Kinderpornografie-Websites aus, ermittelten deren Provider und wiesen sie in einem Schreiben darauf hin, dass sie unter ihrem virtuellen Dach ein strafbares kinderpornografisches Angebot beherbergten. Nach wenigen Tagen hatten die Provider 16 der 20 fraglichen Server abgeschaltet.
Betreibt die Ministerin also Etikettenschwindel, um die Mängel in der tatsächlichen, auch strafrechtlichen Verfolgung der Anbieter zu vertuschen? Das behauptet der "Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur", dem sich nicht nur Datenschützer wie der CCC oder der "Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung" anschlossen, sondern auch die Gruppe "Missbrauchsopfer gegen Internetsperren" (MOGIS). "Die Regierung tritt auf den Gefühlen der Opfer herum, weil wir ganz genau wissen: Es geht doch gar nicht um uns", sagt MOGIS-Sprecher Christian Bahls. "Mit dem Sperrbegriff zu suggerieren, die Inhalte wären danach weg", sei "Demagogie."
Selbstverständlich sei das Access Blocking nur Teil eines Gesamtplans, erwidert Ministerin von der Leyen. "Das Wichtigste ist, die Täter zu verfolgen und zu stellen. Zweites Ziel ist, die Quellen zu schließen. Und der dritte, aber unverzichtbare Punkt bleibt: Web-Seiten zu blocken."
Das macht in der Tat zum Beispiel dann Sinn, wenn der Server, auf dem die Seite liegt, im Ausland steht, so dass Bürokratie oder fehlende Rechtshilfeabkommen das Abschalten erheblich schwieriger machen. Bisher hatten sich die deutschen Provider in diesem Fall auf den Standpunkt gestellt, den Vodafone-Sprecher Thomas Ellerbeck angesichts der tobenden Internet-Community jetzt noch einmal formulierte: "Wir sind keine Internet-Polizei." Will heißen: Man wusch seine Hände in Unschuld – und die Seiten blieben im Netz. "Damit", so das Ministerium, "ist jetzt Schluss".
Eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen, aber der Chaos Computer Club und seine Mitstreiter wittern in dem Verfahren einen Generalangriff auf ihr Goldenes Kalb: das Internet als antibürgerliche Gegengesellschaft, das nach dem Willen so manchen Nerds tunlichst ein rechtsfreier Raum bleiben soll. "Strafverfolgung im Netz? Will ich nicht", schreibt ein User.
Wer einmal anfängt, Inhalte im Netz zu blockieren, so die Schreckensvision, der schrecke bald auch nicht mehr vor der Sperrung illegaler Musikdownloads oder Glücksspielseiten zurück. Dass Ursula von der Leyen unablässig versichert, dass sie all das "überhaupt nicht interessiert" und für die Sperrung weiterer Inhalte ein ganz neues Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden müsste, interessiert wiederum die Datenschützer nicht. Sie sorgen sich stattdessen um User, die "aus Versehen" auf eine gesperrte Kinderporno-Seite gelangen und deren IP-Adresse, also die Kennung ihres Computers, dabei gespeichert werden könnte. Auch so mancher Journalist bläst ins selbe Horn. Zum Beispiel Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der erklärt: "Das BKA soll den Providern täglich eine Liste mit inkriminierten Pornoseiten vorlegen? Das nennt man Zensur." Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von Seiten, auf denen Säuglinge und Schulkinder vergewaltigt und gefoltert werden.
Der Spiegel sieht Blogger zensurgefährdet, auf deren Seiten durch so genannte Affilate-Vermarkter – also Werbungs-Händlern, die unwissenden Seitenbetreibern Werbung auf ihre Seiten spielen – Anzeigen für kinderpornografische Angebote landen. Darauf antwortet Ursula von der Leyen: "Eigentlich müsste den Seitenbetreibern die Stopp-Seite dann doch willkommen sein. Es kann doch nicht in ihrem Interesse sein, dass unter ihrem Label die Vergewaltigung von Kindern gezeigt wird." Seit Wochen ist die Ministerin gezwungen, wieder und wieder zwei Selbstverständlichkeiten auszusprechen. Erstens: Das Internet ist eben kein rechtsfreier Raum. Zweitens: Datenschutz darf nicht länger Täterschutz sein.
"Datenschutzrechtliche Bedenken" hat nun auch die SPD angemeldet: Auch hier sorgt man sich um die User, die "versehentlich" auf gesperrte Seiten gelangen, und die Überlastung der Polizei, die das auslösen könnte. Einträge auf der BKA-Liste müssten gerichtlich kontrolliert werden, und überhaupt müsse ein eigenes Gesetz her: Lediglich das Telemediengesetz zu ändern, berge Zensurgefahr.
Die Änderung des Telemediengesetzes war jedoch maßgeblich im Hause der sozialdemokratischen Justizministerin mitformuliert worden. Das war allerdings vor dem Sturm der Datenschützer. Handelt es sich bei dem Umschwung womöglich um "Wahlkampfgetöse"? Nun ist jedenfalls unsicher, ob das – jetzt neu zu formulierende – Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann.
Dabei wird "Zensursula" von jenen gestützt, die sich seit jeher intensiv dem Kampf gegen die Kinderpornografie widmen. "Wer die Brutalität der Filme kennt, der weiß: Hier sind datenschutzrechtliche Belange absolut sekundär", sagt Manfred Paulus, Kriminalhauptkommissar und Autor der Bücher "Grünkram – die Kinder-Sex-Mafia in Deutschland" und "Pädokriminalität weltweit". "Viel wird sich durch das Blocken am Milliardenmarkt Kinderpornografie nicht ändern", sagt auch er. "Dennoch ist es ein kleiner Schritt in die richtige Richtung." Größere Schritte müssen dringend folgen: "Diese Dinge schreien nach einer konsequenteren Handhabung und Strafverfolgung."
Zum Beispiel nach einer Aufstockung der gerade einmal ein Dutzend Beamten zählenden Abteilung, die im BKA für die Bekämpfung von Kinderpornografie im Netz zuständig ist. "Es wird dringend mehr Personal und Know-how benötigt", bestätigt Paulus’ Co-Autor, der Polizeipsychologe Prof. Adolf Gallwitz, der einen weiteren Punkt für zentral hält: "Wir müssen verhindern, dass Viertklässler selbstverständlich mit den unglaublichen pornografischen Bildern im Internet aufwachsen. Denn das wird die nächste Generation der Konsumenten."
"Handeln statt Sperren!" fordert auch der "Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur". Handeln sollen aber offenbar die anderen. Zwar hackten die Internet-Cracks inzwischen die Seite der Deutschen Kinderhilfe und platzierten dort eine "Todesanzeige für die Meinungsfreiheit". Auf CCC-Mitglieder, die ihre Computerkenntnisse nutzen, um Anbietern von Kinderpornos das Handwerk zu legen, wartet man dagegen vergebens.
"Nun könnte man die lärmende Ablehnung jeder staatlichen Regulierung und Rechtsdurchsetzung vielleicht sogar als romantische Utopie belächeln, wenn die Ideologen der Freiheit gelegentlich einmal selbst einen Gedanken darauf verwenden würden, wie sich der Missbrauch des Mediums eindämmen ließe", schreibt Heinrich Wefing in der Zeit. "Wir vermissen die Unterstützung der Internet-Community, die uns sagt, wie wir dem wachsenden Problem der Kinderpornografie im Internet Herr werden können. Diese Stimmen sind bisher kaum zu hören", bedauert auch die handelnde Ministerin.
Dürfen wir demnächst mit einer Petition von Franziska Heine, der "Jeanne d’Arc des Internets", für eine Aufstockung der finanziellen und personellen Mittel des BKA zur Verfolgung von Kinderpornografie rechnen? Und wie viele UnterzeichnerInnen würde diese Petition wohl finden?
In EMMA zum Thema:
Löschen UND Sperren (2/10)
Kampf den Kinderpornos! (3/09)