In "Gilgi, eine von uns" ist es schon klar: Dies ist ein Mensch, der sich weder im Kleinen noch im Großen, weder im Privaten noch im Öffentlichen, weder in der Liebe noch in der Politik wird fügen wollen. So, wie sie ihre erste Romanheldin ausbrechen läßt aus der Umklammerung dessen, was wir gemeinhin Liebe nennen, so bricht sie selbst einige Jahre später aus aus den stramm geschlossenen Reihen des Faschismus.
Irmgard Keun, heute 70, damals 21. Jung, schön, bekannt, begehrt. Auch bei den Faschisten. Die verboten zwar prompt ihre Bücher ("Asphaltliteratur"), aber sie hätten das begabte "nicht-jüdische" Mädel eigentlich doch gern an ihre Heldenbrust gedrückt... Doch Irmgard bleibt Gilgi treu, zeigt der werbenden Reichsschrifttumskammer nichts als die kalte Schulter.
Mehr noch: Auf der Beschlagnahmung ihrer Bücher und das erteilte Schreibverbot reagiert sie mit einer Anzeige gegen die Gestapo, wegen "Geschäftsschädigung".
Eine Geste, die in ihrem undramatischen Spott und ihrem selbstverständlichen Mut charakteristisch ist für Irmgard Keun. Während die "entarteten Bücher" auf den Scheiterhaufen lodern, und ihre mittendrin, zeigt sie diesen Machthabern ihre ganze Verachtung und diesem Staat seine ganze Rechtlosigkeit mittels Erstattung einer Anzeige der Bürgerin Keun gegen Hitlers Geheime Staatspolizei.
Irmgard Keun, 1910 geboren, 1931 Bestsellerautorin, 1935 Emigrantin, 1949 zitiert von Simone de Beauvoir im "Anderen Geschlecht" und 1951 verfilmt von Fellini mit dem "Kunstseidenen Mädchen" - diese Irmgard Keun erlaubt sich gestern wie heute die Empfindsamkeit für falsche Töne und den Luxus des aufrechten Ganges.
Da muß niemand die "Dachkammerexistenz" der heute wieder in Köln lebenden 70-Jährigen bejammern. Sie weiß schon, was sie will. Die schrägen Appartementwände stehen ihr allemal besser als ein Bungalow. Und was sie von so vielen unterscheidet, ist nicht nur das Talent. Es ist auch der klare Blick und die Unverfügbarkeit - von der Politik wie von der Liebe.
Ob Irmgard Keun Feministin ist? Was für eine Frage. Da mag sie spötteln, sie hätte was gegen alle Ismen (Faschismus, Fanatismus), aber zu sagen braucht sie eigentlich nichts. Ihre Bücher und ihr Leben geben ausreichend Auskunft.
Gilgi, das erste Buch, das, das die Unpolitischen noch für unpolitisch halten, ist gerade in jüngster Zeit viel mißverstanden worden. Nämlich als keckes Sittentableau eines Kleinbürgermädchens. Dabei ist dieser Aspekt denkbar sekundär. Wesentlich ist: dies ist das mit mitreißender Leichtigkeit, aber ohne jede Leichtfertigkeit gezeichnete Porträt einer Frau, das alles erfaßt, was uns Frauen - im besten Falle – eigen und spezifisch ist. Nämlich den respektlosen Unernst, die alltägliche Verantwortung und das Dasein auch für andere.
Gilgi verläßt ihre große Liebe, weil die sie um den Verstand gebracht hat. Eben darum. Vier Menschen machen Selbstmord, weil sie vergeblich auf Gilgis Hilfe warteten in einer Nacht, in der sie sich vom Liebhaber ablenken läßt. Das ist der Moment, in dem Gilgi das Asoziale dieser Liebe, der "Liebe" überhaupt, klar wird. Tausende leiden, während Millionen jubeln. Das ist der Moment, in dem Irmgard 1935 in die Emigration geht.
Der Flucht vorausgegangen war eine letzte, sehr keunsche Episode. Da saß die inzwischen 25-Jährige in dem Kölner Lokal "Marienbildchen". "Ich las gerade den Düsseldorfer Mittag. Da fand ich eine ganze Seite mit Fotos. Die einen waren betitelt ‚Das neue deutsche Gesicht‘. Die anderen ‚Das Verbrecher-Gesicht‘. Um mich rum so etwa 15 Gäste. Mit denen machte ich mir einen Spaß, hielt die Schrift zu und ließ sie raten: Was ist das neue deutsche Gesicht? und was das Verbrechergesicht? - Es kam, wie es kommen mußte: fast alle rieten falsch. Ich fing an laut zu lachen, zahlte und ging - mit dem Gruß erhobener Faust. Am nächsten Morgen um sechs holte mich die Gestapo."
Verhöre, Folter. Mit viel Geld bekommt der Vater sie noch einmal frei. Aber nun ist endgültig klar, daß sie das Land verlassen muß. Sie flüchtet nach Holland und schreibt dort ihre Erfahrungen dieser vier Jahre Alltags-Faschismus auf: "Nach Mitternacht", ihr erster nun endlich für jede/n klar erkenntlich politischer Roman und eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse dieser Zeit überhaupt.
Im Rückblick erzählt Irmgard Keun übers Dritte Reich: "Nie habe ich mich vor Männern so geekelt wie damals im Faschismus. Mein Ekel war so groß, daß ich kaum noch einem Mann die Hand geben konnte." Warum? Weil, so sagt sie, "die sich so widerlich ernst nahmen, weil gerade Männer Männern so ergeben und blind folgten". Ein Satz, der mich aus ihrem Munde zunächst überrascht, denn: genau hingeschaut hat gerade sie bei Männern und Frauen. Sie verschonte niemanden (warum sollte sie auch). Und sie sah oft mehr als die meisten.
Männer spielten in ihren Romanen von Anbeginn an eine zwar manchmal rührende oder auch charmante, immer aber auch blasse bis erbärmliche Rolle. Sicher, sie sind die Erwachsenen, sie sind die Intellektuellen, die scheinbar Starken. Aber in ihrer zähen Geschwätzigkeit, in ihrer schillernden Intensität und undramatischen Integrität erweisen die keunschen Frauen sich letztendlich immer als die Menschlicheren, die wirklich Großen.
Offensichtlich also, daß gerade diese Renaissance dieser Schriftstellerin etwas mit dem Feminismus zu tun hat. Ob sie will oder nicht, sie ist eine "schreibende Frau". Nur - halt. Nicht so rasch. Nicht katalogisieren und kassieren. Das gehört sich nicht. Eine Irmgard Keun schon gar nicht. Nur nicht so verfahren, wie unsere Schwester Ursula Krechel, die es doch tatsächlich fertigbrachte, die lebendige Keun in einem Aufsatz im "Literatur-Magazin" (über den Gilgi nur mit der schönen Schulter gezuckt hätte) einzufrieren in den toten, modernistisch-subjektivistischen Schnack jungdeutscher Intellektueller, Stil 70er Jahre.
Kostprobe: "Denn wo das gestreichelte Selbst im Spiel ist, stellt sich auch gleich die Furcht ein, in den Windungen einer fremden, aber nah empfundenen Existenz die ausgeleierte Schraube der eigenen Möglichkeiten und Begrenzungen knirschen zu hören", usw. usf. Tja.
Ferner kann man der Keun wohl nicht sein als mit einer solchen Anbiederung von Frau zu Frau. Nein, Frausein ist nicht alles, auch nicht in der Literatur. Es braucht außerdem die Kraft, es auch noch zu bleiben - und das, ohne sich hier in der "Weiblichkeit" einkerkern oder da von der "Männlichkeit" aufsaugen zu lassen.
Wie hat eine wie Irmgard Keun die letzten 50 Jahre überlebt? Nicht gut, aber immerhin. Und woher hatte eine wie sie überhaupt die Kraft, überleben zu wollen? Ihre Biographie signalisiert: sie bekam genau die Mischung von Privilegiertheit und Benachteiligung mit auf den Weg, in der die Unfügsamen sprossen.
Als sie mit acht Jahren von Berlin nach Köln kam, war sie dort eine Fremde. "Ich konnte schon den Tonfall nicht und fiel sehr auf - ich war so 'ne Art Gastarbeiterskind." Die Eltern, Vater kleiner Unternehmer, waren zwar einerseits großbürgerlich, andererseits aber doch schon in einem rapiden Prozeß der sozialen Deklassierung. Hinzu kam, daß die Privilegien eines kleinen Mädchens allemal relativ sind.
Für Irmgard bedeutete das: täglich stundenlang der Mutter bei der harten Gartenarbeit (Erbsen, Erdbeeren, Unkraut pflücken) helfen. "Meine Mutter legte Wert auf diese hausfraulichen Tugenden." Als der Bruder zur Welt kam, war die erste Reaktion der damals Fünfjährigen: "Ich ging in den Garten und schuppte da ein Grab – für mich."
Sie hat es sich dann doch noch anders überlegt. Gott sei Dank. Gab es doch gleichzeitig die Bestätigungen und Impulse. Wohl vor allem vom Vater, der ein gebildeter, toleranter Mann gewesen sein muß, neun Sprachen sprach und mit der Tochter Rabelais und Flaubert im Original las. "An zwei Tagen in der Woche kam ein Engländer zu uns ins Haus, dann wurde nur englisch gesprochen. An weiteren zwei Tagen kam eine Französin, dann wurde von uns allen nur französisch gesprochen."
Der Stern-Journalist Jürgen Serke, der das Verdienst hat, Irmgard Keun vor einigen Jahren als erster wieder in das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt zu haben, kolportiert eine mir für ihr Selbstbewußtsein, für ihren Gerechtigkeitssinn und ihren Widerstandsgeist bezeichnend scheinende Episode aus ihrer Kindheit, nach der Akzeptierung des zunächst verhaßten Bruders:
"Später spielte sie den Hüter ihres Bruders. Sie ging mit ihm in den Kölner Stadtwald. Er kletterte auf einen Baum. Da kam der Stadtwaldwärter. ‚Ich versuchte, meinem Bruder runterzuhelfen‘, sagt Irmgard Keun. ‚Ich hätte es auch geschafft. Da schlug der Wärter ihm einfach auf den Kopf, weil das Klettern verboten war.‘ Die neunjährige Irmgard Keun reagierte mit Empörung: ‚Das werden Sie büßen.‘ Sie bekam eine Ohrfeige. Das Mädchen: ‚Das werden Sie noch mehr büßen.‘ Sie ging mit dem Bruder an der Hand zur Polizeistation und erstattete Anzeige. Die Beamten protokollierten. Dann brachten sie die beiden Kinder nach Hause. Es kam zur Gerichtsverhandlung. Der Stadtwaldwärter wurde verurteilt und entlassen. Der Richter sagte in seiner Urteilsbegründung: ‚Dieses Mädchen ist von nicht zu widerlegender Glaubwürdigkeit.‘"
Mit 14 bekam Irmgard vom Vater eine silberne Zigarettenspitze zum Geburtstag, mit 15 hatte sie im Internat ihre erste Liebesbeziehung - zu einer Mitschülerin. Mit 17 ließ sie sich gezielt und so cool entjungfern, wie sie sich mit 41 schwängern ließ: Sie sagte dem Erzeuger niemals auch nur ein Wort über die Existenz der Tochter.
Mit 15/16 die ersten Artikel in Zeitungen und Stücke und Erzählungen in Schubladen. In diese Zeit fallen auch die ersten politischen Saalschlachten. Im Elternhaus Keun ist die Ablehnung der faschistischen Barbarei eine Selbstverständlichkeit: "Noch nach dem Krieg hat meine Mutter sich Vorwürfe gemacht, daß sie Hitler nicht umgebracht hat."
Mit 21 kommt der Ruhm. Er kommt gleich mit dem ersten Buch und für Irmgard nicht unerwartet: "Ich wußte, daß ich ein sehr gutes Buch geschrieben hatte." Er macht sie allerdings auch nicht übermütig, denn in ihren damaligen Kreisen ("Ringelnatz und so") ist so etwas so ungewöhnlich nicht. Tucholsky schreibt in der Weltbühne über die knapp 21-Jährige: "Sie hat Humor wie ein dicker Mann, Grazie wie eine Frau, Herz, Verstand und Gefühl", sie ist etwas, "was es noch niemals gegeben hat: eine deutsche Humoristin."
Und Hans Fallada notiert klarsichtig: "In diesem Buch stehen wundervoll ehrliche Dinge über die Beziehungen der beiden Geschlechter." Sie "schreibt wie Film", sie ist eine Vertreterin der sogenannten "neuen Sachlichkeit."
Als die Nazis an die Macht kommen, geht alles sehr schnell. "Das war gar keine dramatische Entscheidung. Politisch rutschte man irgendwie in den Protest rein, doppelt schnell, wenn man diese widerlichen Opportunisten um sich rum sah."
In der holländischen Emigration trifft sie Leute wie Kisch, Kesten, Koestler und - Roth. Mit ihm geht sie eine für sie wichtige, aber überwiegend schmerzliche, weil einengende Beziehung ein. "Da war erst so ein Gefühl: Wer gehört wem? Aber dann war's wie immer. Nach der Zeit der ersten Werbung fängt die Umklammerung an. Und dann wird's unerträglich. - Manchmal wünsche ich mir, er würde noch leben, und ich könnte wenigstens einmal wie ein normaler Mensch mit ihm sprechen - denn damals, damals bestand er ja nur aus Eifersucht." Und "für Eifersucht", sagt sie, "hatte ich noch nie ein Talent."
Liebe engte sie immer auch ein. Liebe blieb für sie das, was sie schon für die 18-jährige Gilgi gewesen war: Rausch und Gift.
In dieser Zeit im Exil, Seite an Seite mit Joseph Roth, schreibt sie "Nach Mitternacht", nach der gewohnten Methode, in Caféhäusern: "Ich lebte mich in die Rollen ein, bis sie sich selbständig machten. So nach 18, 20 Seiten. Und dann schrieb ich eigentlich nur noch hinterher. In der Mitte kam meistens eine Art Bruch, eine Gleichgültigkeit. Aber dann ging's wieder weiter. Ein langes Buch könnte ich nie schreiben, spätestens auf Seite 90 überkommt mich das Gefühl: jetzt ist genug! Entweder du tust sie jetzt allesamt in einen Zug oder du steckst sie aufs Schiff und läßt das untergehen." - Schnoddriges Understatement, wie immer bei Keun. Aber immerhin: "Nach Mitternacht" endet im Zug...
Zur gleichen Zeit verfaßt sie im Exil Artikel und Aufrufe gegen Hitlerdeutschland, die in der ausländischen Presse erscheinen. Die Nazis erklären sie zum "Hochverräter". „Wenn die mich geschnappt hätten, wär ich gar nicht mehr erst ins KZ gekommen, sondern auf der Stelle erschossen worden."
Selbstmord ist alltägliche Erwägung für Irmgard Keun und ihre politischen Freunde. Als die Deutschen in Amsterdam einrücken, bricht Panik aus: auch Irmgard Keun schluckt Zyankali - vergißt aber, auf die Kapsel zu beißen und überlebt.
Einem Zufall auch und ihrer List verdankt sie die Möglichkeit zur Flucht - allerdings nicht ins Ausland, sondern nur noch tiefer in die Höhle des Löwen: zurück nach Deutschland, mit falschen Papieren. Während dort Irmgard Keun in den Jahren 1940 bis 1945 versteckt bei Freunden in Bad Hönningen überlebt, ahnt sie nicht, daß sie der Weltöffentlichkeit, die an ihren Selbstmord glaubt, längst als tot gilt: Koestler schreibt in London einen ergreifenden Nachruf auf sie.
Nach 45 kommt die Enttäuschung darüber, daß "die Menschen sich nicht geändert hatten - wie sollten sie auch". Und da ist die Sorge um die Eltern. Irmgard Keun, die eigentlich "wieder raus" wollte, bleibt und pflegt die todkranke Mutter (ein Part, den ein männlicher Schriftsteller in ihrer Situation sicherlich nicht mit dieser Selbstverständlichkeit übernommen hätte).
Nicht nur im Dritten Reich muß die wahrhaft anarchische Wahrheitsliebe der Keun von denen, die Ruhm und Ehre zuteilen, als irritierend empfunden worden sein. Denn sie, die vor der grotesken Unmenschlichkeit des Faschismus die Augen nicht verschloß, sah auch genau hin beim glatten Eifer des Wiederaufbaus.
So schrieb die zurückgekehrte Emigrantin 1948 aus dem in Trümmern liegenden Nachkriegs-Köln Adenauers an Hermann Kesten in den USA: "Die anderen wollen vergessen und sich wieder einordnen. Ich will und kann nicht vergessen, solange ich lebe, und ich will mich hier auch nirgends einordnen... Ich will auch das Volk nicht erziehen. Wen Bomben, Todesnot und Hunger nicht klüger gemacht haben, dem kann auch ich nichts beibringen... Auch gegen die Wirkung des ranzig-öligen, sentimentalen Huren-Pathos der politischen Redner (besonders der Neujahrsbotschaften für ‚unsere Jugend‘) bin ich zu verhärtet." Und in einem anderen Brief an den politischen Freund aus der Zeit der gemeinsamen Emigration: "Hier sind sie jetzt emsig bemüht, eine deutsche PEN-Club-Gruppe aufzuziehen. Ich hab keine Lust, hier jetzt mit anderen deutschen Halb-Nazi-Schriftstellern in Reihe zu stehen, um im internationalen PEN-Club aufgenommen zu werden. Übrigens hat sich mein verflossener Mann an die Spitze dieser Bewegung gestellt. Und scheiden lassen hat er sich damals wegen meines staatsfeindlichen Verhaltens', um auf die Reichsschrifttumskammer einen guten Eindruck zu machen. Das hat er nun alles vergessen. Die Leute haben alle so glücklich konstruierte Gedächtnisse. Das aber nur nebenbei."
Um zu überleben, schrieb Irmgard Keun in dieser Zeit Kabarettexte für den Funk. Im April 47 schildert sie Kesten: "Ich war plötzlich so eine Art ‚Sonnenstrählchen‘ für die Hörer geworden. Jetzt macht mir die ganze Arbeit keinen Spaß mehr, weil mich der Gedanke quält, zur Aufheiterung von Nazis und Schiebern zu dienen. Ganz abgesehen davon, daß die Sonnenstrählchen-Rolle mir an und für sich schon Gänsehaut macht..."
Schwer, dieser Rolle zu entkommen in einem Land, in dem Leichtigkeit für Oberflächlichkeit, Humor für schlicht und Ironie für suspekt gehalten werden. Nein, den deutschen Tiefgang hat sie nicht. Und lieber gerät ihr ein Wort mal zu klein als zu groß. Hehre Werte sind ihr nicht heilig, eher ekelig.
"Anständige Menschen haben eine unerschütterliche ‚Liebe zum Volk‘ - bei mir ist diese Liebe jedesmal verblichen, wenn ich mit der Straßenbahn gefahren bin. Wahrscheinlich bedienen sich erfolgreiche Politiker nur noch des Autos, um ihre Liebe zum Volk stark und frisch zu erhalten", schrieb sie einst.
Heute befragt zur Parteienpolitik antwortet sie, die im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben riskierte, zunächst mit der sarkastischen Gegenfrage: "Muß ich mich bei eventuellen Sympathieerklärungen auf das Bestehende beschränken?"
Ihr Ideal existiert heute so wenig wie gestern. Käme Strauß an die Regierung, würde sie "am liebsten auswandern". Aber auch Alternativen sieht sie kaum: "Was ich bei den nächsten Wahlen tun werde? Da seh ich mir erst mal meine Schuhabsätze an - ob es sich überhaupt lohnt, die für so was noch schiefer zu laufen, als sie schon sind."
Eine "unter deutschsprachigen Autoren keineswegs selbstverständliche Mischung aus sinnlicher Beschreibungslust, bitterem, groteskem Humor und süffisanter, subtiler Bosheit", bescheinigt die Schweizer Weltwoche dem Keunschen Werk. Hierzulande aber tun sich auch geneigte Rezensent(inn)en oft noch schwer, das rechte Wort für das Phänomen Keun zu finden. Das verhaßte "Sonnenstrählchen" pappt ihr weiterhin an, jetzt vielleicht sogar mehr denn je, dringt es doch tröstend in die angeblich so dürftige "Dachkammer-Existenz" der heute 70-Jährigen.
Dennoch ist da die von ihr heftig verleugnete Liebe zu Deutschland. Denn die "Nestbeschmutzer", das waren in unserer teutonischen Geschichte ja schon so oft gerade die, die ihr Land so über die Maßen liebten (Liebe schließt bekanntlich die Kritik nicht unbedingt aus und umgekehrt, siehe Heine).
"Die Dächer, die du siehst, sind nicht für dich gebaut. Das Brot, das du riechst, ist nicht für dich gebacken. Und die Sprache, die du hörst, wird nicht für dich gesprochen." Letzte, bei der Ankunft im Exil gesagte Worte in "Nach Mitternacht". Auch sie kann, wie so manche, nicht mit Deutschland leben und nicht ohne.
Als 1950 in der Bundesrepublik ihr letzter Roman, "Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen", erscheint, gibt es darauf so wenig Resonanz wie auf den in dieser Zeit erstmals in deutscher Sprache verlegten Roman "Nach Mitternacht". Für eine Irmgard Keun haben die stickig-spießigen 50er Jahre keinen Platz. Und auch in den darauffolgenden Jahren gab es nichts, was sie bestärkt, niemanden, der sich für ihre literarische und politische Rehabilitierung eingesetzt hätte. Während ein Robert Neumann zum Beispiel oder Erich Kästner die jungen Genossen hatten, blieb Irmgard Keun allein.
Allein ist sie auch heute, in ihrer Wohnung über den Dächern Kölns. Kein Foto von damals, kaum Bücher, noch nicht einmal die eigenen, nichts. Und es scheint in Ordnung so für sie, Mitleid verbittet sie sich. Auch zum Alkoholkonsum mag sie keine guten Ratschläge.
Was nicht heißt, daß sie von Ängsten frei wäre. "Bin ich eigentlich sehr häßlich geworden?" fragt sie mich nach drei, vier Stunden. Und, unsicher das noch geplante Buch, den "Erinnerungsroman" umreißend: "Traust Du mir das eigentlich noch zu?"... Und fast im selben Augenblick, kurz vor dem Fall, fängt ihr eigenes selbstironisches Lächeln sie wieder auf. "Neulich habe ich einen IQ-Test gemacht. Aus Mißtrauen. Oder hast du schon mal jemanden gesehen, dessen Verstand im Alter nachgelassen hat und - der das selbst gemerkt hätte?"
Einsam sei sie überhaupt nicht, versichert sie beredt den immer häufiger auftauchenden Interviewern. Schließlich interessiere sie sich für alle Menschen und rede auch gern mit "dem Penner unten auf der Straße". Einsam? Einsam ist sie vielleicht tatsächlich nicht. Dazu war ihr Leben zu belebt. Aber allein vielleicht schon. Denn: Menschen wie Irmgard Keun werden zunehmend rar.
Alice Schwarzer