Angriffe auf Israel: Unser 9/11
Den Frauen, Kindern und alten Menschen ist die Panik aufs Gesicht geschrieben, als sie von den Hamas Terroristen auf Motorrädern und Jeeps in den Gazastreifen entführt werden. Ihre Angehörigen müssen fassungslos zusehen. Leichen, von Menschen, die wahllos niedergeschossen wurden, liegen am Straßenrand. Bilder, die an Butscha, die Vorstadt Kiews, erinnern, wo die russische Armee ein Massaker verübte. Doch im jüdischen Staat sind die Assoziationen nicht die an die Ukraine.
„Es ist“, so schrieb am Montagabend der israelische Filmregisseur Hagai Levi, „das schrecklichste Ereignis in der Geschichte Israels seit dem Holocaust“. Levi, bekannt durch seine sensible Neuverfilmung von Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“, äußert sich nur selten in der Öffentlichkeit. Doch der Schock dieser Tage sitzt tief. Die Bilder und Geschichten dieses Anschlags, schreibt er, „kommen wie direkt aus der Shoah“. Auf offener Straße werden Juden ermordet, nur weil sie Juden sind.
Doch nicht nur die Shoah ist es, deren Bilder in diesen Tagen des Schocks in den Köpfen spuken. Es ist auch die Angst vor der Zukunft. Dieser Anschlag ist Israels 9/11. Eine Gruppe perfekt organisierter, islamistischer Terroristen verübte gezielt ein Attentat, das so viele Zivilisten wie möglich treffen sollte: Jugendliche, die auf einer Rave Party feierten; Kinder aus Tel Aviv, die ihre Großeltern auf dem Land besuchten; Bewohner der Kibbuzim am Rand des Gazastreifens.
Die Kibbuzim wurden einst gegründet, um friedliche jüdische Nachbargemeinden neben den Palästinensern zu schaffen. Kerem Shalom heißt einer von ihnen, zu Deutsch: Der Weinberg des Friedens.
"Es ist das schrecklichste Ereignis in der Geschichte Israels seit dem Holocaust“
Über sechs Stunden war Kerem Shalom jetzt ein Schlachtfeld. Dutzende Terroristen drangen ein und wurden schließlich von Kibbuzbewohnern, ehemaligen Soldaten, überwältigt.
Es ist das einzige Dorf, in dem kein Einwohner ums Leben kam. Doch selbst in Kerem Shalom scheint der Traum vom Frieden ausgeträumt zu sein. Die Dörfer sind evakuiert. Ob die Bewohner je zurück in ihre Häuser kehren werden, weiß zu dieser Stunde niemand.
Wenn es den Attentätern um „die Befreiung Palästinas“ ging, dann ging es ihnen um ein Palästina „from the river to the sea“, wie es in ihren Schlachtrufen heißt – vom Jordanfluß bis zum Mittelmeer, sprich: Sie wollen nichts weniger als die völlige Auslöschung Israels.
Anders als die Fatah Partei des Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas und Jassir Arafats, mit dem Israel die Oslo Friedensverträge unterschrieb, waren die Islamisten der Hamas nie zu territorialen Kompromissen bereit.
Die Organisation, die sich seit ihrer Machtübernahme des Gazastreifens im kalten Bruderkrieg mit der Fatah befindet, zeichnet sich aus durch eine juden- und frauenfeindliche, eine rassistische Ideologie. So wie die schiitische Hisbollah im Süden Libanons steht sie Israels Erzfeind, dem islamistischen „Gottesstaat“ Iran nahe. Und der war nach Einschätzungen einer der Drahtzieher des Anschlags vom 7. Oktober.
Das Timing war nicht zufällig. Es war ein Tag nach dem 50. Jahrestag des Yom Kippur Kriegs, dem tragischsten und grausamsten aller Kriege Israels. Noch im Siegestaumel nach dem Sechstagekrieg 1967, in dem Israel das Westjordanland, Ost Jerusalem, die Golanhöhen, den Gazastreifen und die Sinai Halbinsel eroberte, wurde das Land am 6. Oktober 1973, am Yom Kippur, dem Feiertag, an dem das ganze Land stillsteht, von Ägypten und Syrien überraschend angegriffen. Der jüdische Staat stand vor dem Aus. Als sich das Blatt zu wenden begann, hatten mehr als 2.600 israelische Soldaten ihr Leben verloren.
Der islamistische „Gottesstaat“ Iran - Drahtzieher des Anschlags vom 7. Oktober?
Viele Israelis fühlen sich jetzt zurückversetzt in die Tage nach Ausbruch dieses Krieges. Damals wie heute wurde Regierung und Armee überrumpelt. Damals wie heute verlor ein Großteil der Bevölkerung den Glauben an ihre politische und militärische Führung.
Dabei standen die Zeichen jetzt an der Wand. Gestern wurde berichtet, daß der ägyptische Geheimdienstchef den israelischen Premier vor einem Großanschlag der Hamas gewarnt habe. Doch der habe abgewunken. Netanjahu bestreitet dies als „Fake News.“ Doch das Versagen seiner Regierung ist nicht abzustreiten.
Seit Amtsantritt war das Netanjahu-Regime ausschließlich mit einer Justizreform beschäftigt, die ihre Kritiker als „Justizputsch“ bezeichnen. Gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Israelis will die Regierung eine Reihe von Gesetzen verabschieden, die die unabhängige Justiz defacto entmachten würden. In Israel, einem Land ohne Verfassung, wäre dies das Ende der Gewaltenteilung und würde einer rechtsextremen Regierung uneingeschränkte Macht geben.
Die autokratischen Vorstöße der Regierung spaltet das Land seit nun fast einem Jahr. Tausende Reservesoldaten drohten, den Dienst zu verweigern, sollte Israel seine demokratischen Grundpfeiler verlieren. „Wir haben einen ungeschriebenen Vertrag mit dem Staat, und den schreibt die Regierung neu“, sagte Ron Scherf, früherer Oberstleutnant einer Eliteeinheit. „Dieser Vertrag besagt, dass ich für diesen Staat kämpfe, solange er Staat liberal und demokratisch bleibt.“ Heute sind es diese Reservisten, die das Land vor den Islamisten der Hamas verteidigen.
Seit Monaten warnen Sicherheitskräfte die Netanjahu-Regierung, die Spaltung des Landes würde Israels Feinde zu Anschlägen motivieren. Die Hetze der radikalen israelischen Siedler in der Regierung tat das Übrige.
Itamar Ben-Gvir, Minister für Innere Sicherheit - selbst mehrfach vorbetraft wegen rassistischer Hetze und Unterstützung einer jüdischen Terrororganisation -, provozierte mehrfach die palästinensische Bevölkerung durch Gänge auf den Tempelberg, dessen Al Aqsa Moschee zu den wichtigsten islamischen Heiligtümern zählt.
Finanzminister Bezalel Smotrich, der wie Ben-Gvir aus der radikalen Siedlerbewegung stammt, plädierte noch im März 2023 offen dafür, ein palästinensisches Dorf im besetzten Westjordanland auszulöschen, nachdem Siedler dort ein Pogrom verübt hatten und dies zu einem Aufschrei in der israelischen Gesellschaft führte. Nun ließ er verlauten, die Armee solle Gaza mit aller Härte bombardieren – ohne jede Rücksicht auf die israelischen Geiseln.
Zwischen 100 und 200 Israelis sind zurzeit – Mitte Oktober - in den Händen der Hamas. Rund um die Uhr sendet das israelische Fernsehen Interviews mit verzweifelten Familienangehörigen. Die Hamas hat bereits einen Gefangenenaustausch vorgeschlagen. „Unsere Regierung sollte noch heute alle Hamasmitglieder aus israelischen Gefängnissen befreien, damit diese Geiseln schnell freikommen“, sagte mir ein Taxifahrer in Tel Aviv. Krieg könne man dann immer noch führen.
URI SCHNEIDER