Ist die künstliche Intelligenz männlich?
Das große Thema unserer Zeit ist die „Künstliche Intelligenz“ (kurz KI), darin sind sich PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und UnternehmerInnen einig. Uneinig sind sie sich darüber, was das eigentlich bedeutet. Werden in Zukunft die Roboter die Menschen unterwerfen? Oder werden die Menschen dank KI etwa bald unsterblich sein?
Die KI-Technologien bringen eine „gewaltige Veränderung unserer Lebens- und Arbeitswelt“ mit sich, so formuliert es Kanzlerin Merkel. Dieselbe Kanzlerin, die noch vor sechs Jahren im Zusammenhang mit dem Internet von „Neuland“ sprach und dafür viel Spott und Häme im Netz erntete. Heute ist dieses „Neuland“ aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken, mehr noch: Wir sprechen ganz selbstverständlich über smarte Häuser, selbstfahrende Autos und Drohnen, die bald vielleicht Pakete liefern. All diese technologischen Veränderungen sollten dem Menschen dienen, fordert die Kanzlerin. Und zwar allen Menschen. Bloß: Bislang ist die KI-Entwicklung ein Feld, auf dem sich vor allem Männer tummeln.
Erstmalig hat das Weltwirtschaftsforum 2018 die „Artificial Intelligence“ in seinem Global Gender-Gap Report berücksichtigt. Die gute Nachricht: Deutschland steht in diesem Ranking, für das anhand von LinkedIn-Daten das KI-ExpertInnen-Potential in Ländern analysiert wurde, auf Platz drei; direkt hinter den USA und Indien. Zumindest, solange man nicht nach Geschlecht differenziert. Die schlechte Nachricht: Deutschland ist mit einem Frauenanteil von nur 16 Prozent KI-Expertinnen unter den Schlusslichtern, zusammen mit Brasilien, Mexiko und Argentinien. Die Ursachen für dieses Ergebnis sind hinlänglich bekannt. Es beginnt im Kindergarten, wo die Grundlagen dafür gelegt werden, dass Frauen irgendwann Germanistik studieren und Männer Informatik. Und es endet in einer Branche, aus der viele Frauen schon im ersten Berufsjahr wieder aussteigen wollen, weil sie das sexistische Arbeitsklima nicht aushalten.
In den Chefetagen der Tech-Branche konnten die mächtigen Männer deswegen bislang weitestgehend unter sich ausmachen, welche Themen relevant für unser aller Zukunft sind und welche nicht, sagt Joanna Zylinska. Die gebürtige Polin ist Professorin für „New Media and Communications“ am Goldsmiths College der University of London und forscht und lehrt an der Schnittstelle zwischen Körper, Kunst und Technik. „The End of Man: A Feminist Counterapocalypse“ heißt ihr Buch, in dem sie die Hybris der Tech-Revolutionäre entlarvt. „Mir geht es vor allem darum, mal ein bisschen kühle Luft auf diesen völlig überhitzten Diskurs über Künstliche Intelligenz zu blasen, vor allem auf die Silicon-Valley-Boys“, erläutert sie.
Worin sich Tech-Expertinnen wie Zylinska einig sind: Es reicht nicht, einfach nur die Erhöhung des Frauenanteils in Unternehmen zu fordern und dann die eine Frau öffentlichkeitswirksam auf einen Chefposten zu befördern. „Das ganze Weltbild muss sich ändern“, findet Zylinska.
Seit den 1950er-Jahren ist die KI-Forschung zu einem Sammelbecken geworden, für Phantasmen wie menschenähnliche Androiden ebenso wie für ganz real agierende Schachcomputer oder Algorithmen, die komponieren wie Bach und Beethoven. Die Idee, Denken und Handeln zu automatisieren und Intelligenz bzw. Problemlösungsprozesse maschinell nachzuahmen, ist noch sehr viel älter. Was neu ist: Durch die größere Rechenleistung von Computern, den immensen Speicherplatz und die enorme Menge an Daten über alles und jeden geht es nun deutlich schneller voran als noch vor 60, 70 Jahren.
Zentral ist das so genannte Machine Learning, insbesondere das Deep Learning und der damit einhergehende Aufbau von (künstlichen) neuronalen Netzwerken. Die Algorithmen passen die Stärke der hunderttausenden Verbindungen zwischen den künstlichen Neuronen automatisch immer weiter an und lernen so quasi selbstständig. Das klingt kompliziert, lässt sich aber trotzdem am einfachsten mit Katzen erklären: Im Prinzip werden (digitale) Katzenfotos an die Maschine verfüttert, und zwar abertausende Katzenfotos, anhand derer das System sodann Merkmale extrahiert. Je tiefer das Netzwerk, desto komplexer sind diese Merkmale, die der Algorithmus erkennen kann.
Interessant wird es, wenn die Maschine nicht mehr nur darauf trainiert wird, dass Katzen mal schwarz und weiß oder bunt, mal flauschig oder haarlos sein können – sondern darauf, Hautkrebs zu erkennen. Gesundheit ist eines der vielversprechendsten Felder der KI-Forschung und gleichzeitig auch das anschaulichste für ein Problem, auf das wir zurasen: Wie sehen diese Datensätze denn aus, mit denen die Maschinen in Bezug auf menschliche Gesundheit trainiert werden? Wird berücksichtigt, dass Frauenkörper ganz anders ticken als Männerkörper?
Amazon zum Beispiel hatte testweise ein künstlich intelligentes System für das Recruiting von MitarbeiterInnen im Einsatz, das ganz stur eher Männer als Frauen einstellen wollte. Warum? Das System bevorzugte männliche Bewerber, weil sich bisher vor allem technikaffine Männer bei Amazon beworben hatten. Und die KI war mit zehn Jahre alten Bewerbungs-Daten trainiert worden.
Das bedrohliche an lernenden Maschinen ist also nicht die Maschine, sondern der Mensch, der diese Maschine mit Daten füttert. Weil sich dadurch bestehende Ungleichheiten und Rollenzuweisungen unwiderruflich in die Technologie einschreiben und damit erst recht zementiert werden, sagt Nanjira Sambuli. „Wenn wir Gleichberechtigung erreichen wollen, müssen die Datensätze, mit denen diese Maschinen trainiert werden, ausbalanciert sein. Und das geht darauf zurück, welche Daten wir sammeln, wie wir Daten sammeln, auf welchem Wege wir sie auswerten und vor allem auch: Wer sie auswertet.“
Die 31-jährige Forscherin und Analystin aus Nairobi ist eine der derzeit beachtetsten Wächterinnen der Gleichberechtigung in der digitalen Welt. Bei der „World Wide Web Foundation“ ist sie für Gleichstellungsfragen zuständig, mit besonderem Blick auf die Frauenrechte. Die Stiftung wurde von Tim Berners-Lee gegründet, der als der Erfinder des World Wide Webs gilt und drei Jahrzehnte später bang um den Schutz seines Erbes kämpft: der Idee eines freien und fairen Internets.
Denn während wir in den großen Industrienationen über selbstlernende Maschinen diskutieren, haben andernorts Menschen nicht einmal Zugang zum Basisdienst: Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist nach wie vor offline. Und die meisten dieser rund vier Milliarden Menschen sind Frauen aus einkommensschwachen Ländern, schreibt die Web-Foundation 2018 in dem Bericht „The Case #ForTheWeb“. Frauen wie Sambuli warnen schon lange vor dieser digitalen Kluft.
Aber die Prophezeiung, dass das Internet die Macht habe, soziale Grenzen zu sprengen, allen voran die Geschlechtergrenzen, klang in den Ohren vieler einfach zu schön. „Wir wurden als Schwarzmalerinnen diffamiert und als fortschrittsfeindlich“, erinnert sich Sambuli. Heute eröffnet sie zusammen mit mächtigen weißen Männern große Tech-Konferenzen, wie zuletzt die re:publica in Berlin. Die Machtverhältnisse haben sich trotzdem nicht verändert. Als die Tech-Expertin aus Nairobi nach Bundespräsident Steinmeier die Bühne betrat, verließ ein Großteil der ZuhörerInnen prompt den Saal. „Am meisten frustriert es mich, wie häufig ich Dinge wiederholen muss, bis sie gehört werden. Wenn ein weißer Tech-Bro genau das gleiche sagt, dann macht es immer sofort Klick“.
Und so leben wir in einer Welt, in der Milliardäre daran arbeiten, alsbald mit Raketen ins All zu düsen, während alltägliche Probleme schlicht keine Beachtung finden. Milchpumpen für Mütter zum Beispiel, sagt die Doktorandin Alexis Hope. Die 31-jährige Designerin forscht am Media Lab des Massachusetts Institute for Technology, einer interdisziplinären Zukunftsschmiede. Milchpumpen sind ihr Lieblingsthema. Es ist ein paar Jahre her, dass eine Kollegin ein Baby bekommen hatte und pumpen musste, was für sie schmerzhaft und erniedrigend war. Hope klagt: „Wir reden über einen Alltagsgegenstand, auf den weltweit unzählige Frauen angewiesen sind, an dessen Design sich aber seit dem frühen 19. Jahrhundert so gut wie nichts geändert hat.“ Aus einem einfachen Grund: Weil niemand auf die Idee gekommen ist, es zu tun.
In einem Blogbeitrag machte Hope genau das zum Thema – und fragte ihre Leserinnenschaft, was sie denn verbessern würde an den leidigen Pumpen. „Ich hatte mit zehn, zwölf Antworten gerechnet“, erinnert sich Hope. Es kamen über tausend E-Mails. Und so wurde die Idee für den „Make the Breast Bump Not Suck“-Hackathon geboren. Ein Erfolg: Auf den ersten Event im Jahr 2014 kamen 150 Frauen und einige Männer, um gemeinsam an Prototypen zu arbeiten. Zum zweiten Hackathon im April 2018 kamen schon doppelt so viele. Gleichzeitig wurde über Themen wie Elternzeit diskutiert.
Auf Hackathons (eine Wortschöpfung aus „Hack“ und „Marathon“) treffen sich TüftlerInnen, ProgrammiererInnen und ExpertInnen, um an einer ganz konkreten Problemlösung zu arbeiten. Hope will unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichem Background an einen Tisch setzen, um eine „joyful future“, eine erfreuliche Zukunft für jede und jeden zu schaffen – jenseits des Genie-Kultes, in dem ein einzelner Mensch, genauer: ein Mann, die eine große Erfindung macht, die die Welt verändert. Was ja ohnehin immer schon nur ein Mythos war.
„Als wir den Milchpumpen-Hackathon angekündigt haben, dachten einige Leute, wir machen einen Scherz!“, erinnert sich Hope. Im Herbst wird sie ihren nächsten Hackathon veranstalten, diesmal zu einem noch größeren Tabu-Thema: Menstruation. Das wird blutig.
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