Der Tod von MeToo?
Die Jury hat ihr Urteil gesprochen. Fünf Männer und zwei Frauen im Alter von zirka zwanzig bis sechzig Jahren (die Identitäten der Schöffen bleiben für zwölf Monate unter Verschluss) befanden, dass Amber Heard tatsächlich Johnny Depp verleumdete, als sie sich in einem Meinungsbeitrag in der Washington Post von 2018 als „Opfer häuslicher Gewalt“ bezeichnete und damit Depp implizit beschuldigte. Sie habe die Unwahrheit gesagt, so die Jury, und das mit bösem Willen. Die Schöffen befanden allerdings auch, dass Depps Anwalt Adam Waldman mit der Behauptung, Heard habe einen Übergriff Depps für die zur Hilfe gerufene Polizei inszeniert, Heard verleumdet habe. Man sprach Depp 10,35 Millionen Dollar an Entschädigung zu, Heard zwei Millionen.
Aber ist alles das angesichts des grotesken Zirkus, der sich über die vergangenen sechs Wochen in den sozialen Netzwerken entfaltet hat, überhaupt noch von Bedeutung?
„Ganz gleich, wen das Urteil der Jury favorisiert“, schrieb Monica Lewinsky in einem Gastbeitrag für die Vanity Fair, „wir sind schuldig.“ Wir, damit meint sie die Öffentlichkeit, die sich dem Prozess wie einem brennenden Wrack genähert habe: „Einerseits entsetzt, andererseits die Augen nicht abwenden wollend und sich daran ergötzend. Wir verzichten auf kritisches Denken und ersetzen es durch billigen Nervenkitzel.“
Wir haben uns schuldig gemacht, schreibt Monika Lewinsky. Sie weiß, wovon sie redet.
Lewinsky weiß, wovon sie redet. Als 1998 – in einem vergangenen Kommunikationszeitalter – ihre Affäre mit dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton publik wurde, war es die Praktikantin, nicht der mächtigste Mann der Welt, die unter die Räder geriet. Während Lewinsky verunglimpft und zur Witzfigur gemacht wurde, durfte sich Clinton weiter als „coolster“ aller US-Präsidenten feiern lassen, der halt nicht die Finger davon lassen konnte, eine dralle Praktikantin zu vernaschen.
Fast 25 Jahre später steht nun Amber Heard im Kreuzfeuer der öffentlichen Häme, eine Frau, die sich öffentlich als Missbrauchsopfer outete und dafür von ihrem Ex-Mann Johnny Depp mit einer Verleumdungsklage überzogen wurde.
Diese wurde nun unnötigerweise in aller Öffentlichkeit verhandelt, in erschreckenden bis abstoßenden Details und unter dem Gejohle des Publikums im Netz. Die Richterin Penny Azcarate hatte aus unerfindlichen Gründen die Übertragung des Prozesses durch zwei Pool-Kameras des amerikanischen Kabelsenders Court TV zugelassen, damit die Nation live zugegen sein konnte, während scheußliche Details einer zutiefst dysfunktionalen Beziehung ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurden. Heard und Depp hätten eine Beziehung von gegenseitigem Missbrauch kultiviert, gab die Paartherapeutin der beiden vor Gericht zu Protokoll.
Haustierbesitzer ließen auf TikTok ihre Katzen und Hunde Amber Heard darstellen
Aber es war Amber Heard, die zu Bildern aus dem Saal in Virginia im Netz zur Megäre stilisiert wurde, die ihrer eigenen Emotionen nicht Herr sei und nichts anderes im Sinn habe, als ein Idol zu vernichten. Der Popsänger Lance Bass stellte in einem Tiktok-Video eine Aussage Amber Heards nach, die Sprachenapp Duolingo machte sich über Heard lustig, Haustierbesitzer ließen ihre Vierbeiner Amber darstellen. Schnipsel ihrer Aussagen wurden aus dem Zusammenhang gerissen. Die Kräfteverhältnisse sind eindeutig: Der Hashtag #JusticeForAmberHeard hat auf TikTok 53,3 Millionen Aufrufe, der Hashtag #JusticeForJohnnyDepp 16,2 Milliarden Aufrufe - 300 mal mehr.
Die New York Times erkannte eine „Schikanierung industriellen Ausmaßes gegen Heard“ im Internet, „die alle vorangegangenen Kampagnen in den sozialen Netzwerken in den Schatten stellt". Und das ziehe weite Kreise: Das Tribunal gegen Amber Heard sei „der Tod von MeToo“, so das Blatt.
Ja, Amber Heards Auftritte vor Gericht gaben bisweilen zu denken. Sie widersprach sich. Sie blieb Beweise schuldig. Wie so viele Opfer häuslicher Übergriffe ist Heard alles andere als ein „perfektes Opfer“, wie man sich das in allzu kindischer Naivität wünschen mag. Auch die Mechanismen von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch sind bekanntlich weit komplexer, als eine simple Schuldfrage das scheinen lässt. All dies hat auch MeToo ans Tageslicht gebracht - aber nun wird diese Bewegung in den sozialen Netzwerken quasi ungeschehen gemacht. Bei 280 Zeichen und 15-Sekunden-Videos bleibt eben schlicht kein Raum für Abwägung und Zwischentöne.
Gewaltopfer werden sich künftig wieder genau überlegen, ob sie sprechen
Stattdessen kultivieren sie paranoide Parallelwelten: Ereignisse werden aus ihrem Zusammenhang gerissen und zu Puzzleteilen einer Verschwörung zusammengestückelt. Was hier zählt, ist das lauteste Getröte, die skandalträchtigste Äußerung, die haarsträubendste Behauptung: Hat Amber Heard wirklich ihre eigene Mutter ermordet, um diese von einer Aussage zugunsten von Depp im „Sun“-Prozess abzuhalten? Hat sie wirklich Dialogzeilen aus der Agatha-Christie-Verfilmung „Der talentierte Mr. Ripley“ auswendig gelernt und in ihrem Eröffnungsstatement aufgesagt? Hat sie tatsächlich auf dem Zeugenstand Kokain aus ihrem Taschentuch geschnupft?
Monica Lewinsky fragte, ob der reine Unterhaltungswert eines Posts seinem Schöpfer etwa das Recht einräume, grausam zu sein. „Ich rede nicht von der Meinungsfreiheit“, schrieb sie, „sondern von der Erkenntnis der Nutzer sozialer Netzwerke, dass sie auch Teil einer Gesellschaft menschlicher Wesen sind.“
Frauen, die häusliche Übergriffe, Gewalt oder sexuellen Missbrauch erfahren haben, werden künftig wieder genau überlegen, ob sie über das Erlebte sprechen - und sich der öffentlichen Anzweiflung ihrer Erlebnisse bishin zur sozialen Vernichtung aussetzen wollen. Und die Täter haben ein neues Werkzeug: Die Verleumdungsklage, die ihre Opfer einem vernichtenden öffentlichen Tribunal unterzieht, wie es eben erst Amber Heard erdulden musste.
NINA REHFELD