Alice Schwarzer schreibt

Ist ein Mann ohne Penis kein Mann?

Bruce Reimer konnte und wollte nicht als Frau leben.
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Nach dem „Kleinen Unterschied“ (1975) wollte ich eigentlich ein Buch über Transsexualismus schreiben. Doch dann habe ich EMMA gegründet und hatte keine Zeit mehr zum Bücherschreiben.

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Warum wollte ich ein Buch über Transsexualismus schreiben? Weil mir dieser extreme psychische Konflikt, in dem ein Mensch sich „in der falschen Haut“ fühlt, ein Hinweis dafür zu sein schien, dass die Seele stärker sein kann als der Körper. Dass also letztendlich nicht das biologische Geschlecht entscheidend ist für das soziale Geschlecht, sondern dass die Psyche den Körper überstimmen kann.

Angeregt worden war ich dazu von einem damals, in den 1970er Jahren, berühmten Fall. Bei diesem Fall allerdings hatte es sich um eine Art Zwangs-Transsexualismus gehandelt – erzwungen von angepassten Eltern, die sich für ihr Kind nur ein Entweder-Oder – entweder Junge oder Mädchen – vorstellen konnten, sowie einem Psychiater und Sexualforscher, dessen Lebensthema die sexuelle Uneindeutigkeit war, und der hier den Fall seines Lebens gefunden zu haben schien.

Was ist aus dem Jungen geworden, der als Mädchen aufwuchs?

Die Rede ist von dem berühmten „Zwillingsfall“, den die SexualforscherInnen John Money und Anke Ehrhardt in ihrem 1975 auf Deutsch erschienenen Buch „Männlich, Weiblich – Zur Entstehung der Geschlechtsunterschiede“ anführen: Ein kleiner Junge, dem bei einem operativen Eingriff im Alter von sechs Monaten versehentlich der Penis beschädigt worden war, war auf Anraten von Sexualwissenschaftler Money einfach als Mädchen erzogen worden. Was anscheinend, so zumindest nahm man zunächst an, reibungslos funktioniert hatte – und zum Paradefall der Identitätsdebatte in der Sexualwissenschaft wurde.

Der Fall ist in der Tat sehr interessant. Auch und eigentlich, gerade weil er sich ganz anders entwickelt hat als zunächst angenommen. Ein Vierteljahrhundert nach Money und Ehrhardt nämlich veröffentlichte der Rolling-Stone-Reporter John Colapinto ein Buch über den „Jungen, der als Mädchen aufwuchs“, und enthüllte, dass in Wahrheit alles schiefgegangen sei. Was stimmt – bis hin zum Selbstmord von Bruce Reimer, so hieß der Zwilling. Erschossen hat Reimer sich allerdings vier Jahre nach Erscheinen von Colapintos Buch.

Und das ist die Geschichte: 1965 kommen die Zwillinge Bruce und Brian als Kinder von Ron und Janet Reimer in Winnipeg auf die Welt. Die Eltern sind gläubige Mennoniten, also Angehörige einer christlichen Sekte. In den ersten Monaten entdeckt die Mutter, dass beide Jungen an einer Phimose, einer Verklebung der Vorhaut, leiden. Im Alter von sechs Monaten werden sie operiert. Was eigentlich ein Routineeingriff ist, geht bei Bruce schief. Sein Penis wird so verletzt, dass nur noch ein verbrannter Stummel bleibt. Die Eltern sind verzweifelt. Denn ein Junge ohne Penis – das ist kein Junge.

Der Fall entwickelt sich ganz anders, als zunächst angenommen

Einige Monate später sehen sie zufällig den Sexualwissenschaftler John Money im Fernsehen. Er spricht über die Behandlung von körperlichen Zwittern sowie seelischen Transsexuellen und die Kluft zwischen psychologischem und genetischem Geschlecht; über die Uneindeutigkeit der biologischen Geschlechter und sozialen Geschlechterrollen also. Die Eltern schöpfen Hoffnung. Sie kontaktieren Money, der zur Operation und Hormonbehandlung rät – und zur Erziehung von Bruce als Mädchen. Denn ein biologischer Junge ohne Penis steht nicht nur seiner Meinung nach auf verlorenem Posten und wird besser gleich ein Mädchen.

Zu diesem Zeitpunkt ist Bruce bereits 17 Monate alt. Das Kind ist es gewohnt, behandelt zu werden wie sein Zwillingsbruder Brian. Jetzt aber beginnt die Umerziehung, um nicht zu sagen der Drill zum Mädchen. Wenn Brian mit dem Vater auf den Sportplatz zieht, muss Bruce/Brenda mit der Mutter zu Hause bleiben; wenn Brian in Jeans rumtobt, wird Brenda in Kleidchen gesteckt. Das Kind wehrt sich und gilt bald als „Tomboy“, als jungenhaftes Mädchen, das lieber mit Jungen spielt (eine Präferenz, die auch so manches biologisch unbeschädigte Mädchen mit Bruce teilt).

Das Kind wehrt sich vehement gegen das Diktat der Geschlechtsrolle

Doch je mehr Bruce sich zur Wehr setzt gegen das Geschlechtsrollendiktat, umso stärker wird der Konformitätsdruck der fundamental-christlichen Eltern. Hinzu kommen die Sitzungen bei Money, die für das Kind traumatisch, für den Wissenschaftler jedoch ein Traumfall sind: ein genetisch männliches Kind, das als Mädchen aufwächst, noch dazu mit einer kongenialen „Kontrollgruppe“, dem Zwillingsbruder an seiner Seite. Der Fall ist so verführerisch für den Forscher, dass er offensichtlich versucht, Bruce um jeden Preis in den Rahmen seiner Theorien zu pressen. Was Colapinto nicht nur den Schilderungen von Bruce/Brenda, sondern auch den Gesprächsbändern entnimmt, die Money selbst später Reimer auf dessen Bitte hin überlassen hatte.

Das Kind kriegt also die doppelte Ladung ab: den elterlichen Drill zum Mädchen – plus wissenschaftliche Begleitung, die rigide darauf achtet, dass es via hormoneller und operativer Behandlung sowie Prägung auch ein „richtiges Mädchen“ wird. Nur, das Kind hatte vor Beginn der Behandlung bereits 17 Monate als Junge gelebt; nach dem, was wir von frühkindlichen Prägungen wissen, gerade auch geschlechtsspezifischen, ist das viel. Und nicht nur die Eltern, auch die näheren Verwandten wissen um das Problem. Als Brenda in der Schule auffällig wird, werden auch die Lehrer informiert. Der Junge, der unfreiwillig als Mädchen aufwächst, erhält also von Anfang an eine doppelte Botschaft: Das „Mädchen“ bewegt sich in einem Umfeld, indem die meisten Menschen wissen, dass es eigentlich ein „Junge“ ist.

Der Junge entschließt sich, mit dem Leben als Mädchen Schluss zu machen

Mit 14 sagt der Vater dem Kind die Wahrheit. Männersache. Bruce/Brenda entschließt sich, von einem Tag zum anderen mit dem schon lange als einengend und fremd empfundenen Leben als Mädchen Schluss zu machen und wieder als Junge zu leben. Er stoppt die verhassten Sitzungen bei Money sowie die Hormonbehandlungen und nennt sich von nun an David.

David Reimer ist 32, als er zum ersten Mal Colapinto trifft, der die „Wahre Geschichte von John/Joan“ im Rolling Stone veröffentlicht, zunächst noch anonymisiert. Er ist 35, als das Buch erscheint, diesmal mit seinem vollen Namen. Er ist 38, als er sich eine Kugel in den Kopf jagt.

Für die Anhänger der Alles-ist-angeboren-Theorie gilt der tragische Fall als finaler Beweis dafür, was für ein Verbrechen man einem Menschen antut, wenn man ihn nicht seinem biologischen Geschlecht gemäß „männlich“ bzw. „weiblich“ erzieht. Doch funktionalisieren solche Ideologen Bruce/David Reimer nicht minder, als es offensichtlich schon Forscher Money getan hatte. Für den Tod verantwortlich halten müsste man allerdings beim genauen Hinsehen nicht Money, den Reimer am Ende seines Lebens seit 22 Jahren nicht mehr gesehen hatte, sondern den Enthüllungsjournalisten Colapinto, dem die Story wichtiger war als die Rücksicht auf dieses schon so funktionalisierte Leben.

So überrascht es nicht, dass Colapinto kurz nach Bruce/Davids Tod in der Washington Post einen langen, rechtfertigenden Artikel über „Die wahren Gründe für den Selbstmord“ schreibt. Als wahre Motive zählt der Journalist auf: Depressionen in der Familie, Eheprobleme, Schulden, Arbeitslosigkeit und „die Unfähigkeit, ein echter Ehemann“ zu sein (wie David selbst es kurz vor seinem Tod seiner Ehefrau gegenüber formuliert haben soll). Übrigens: Davids Zwillingsbruder, der als Mann geborene und als Mann erzogene Brian, hatte bereits zwei Jahre vor ihm Selbstmord begangen.

Sein Leben ist der Beweis für die gnadenlose Konstruktion von Geschlechternormen

Wie auch immer, das traurige Leben von Bruce/David taugt wenig als Beleg für die Unabänderlichkeit eines so genannten natürlichen Geschlechtscharakters. Im Gegenteil: Es ist eher der Beweis für die gnadenlose Konstruktion dieser ganzen Geschlechternormen – und für die Absurdität einer Welt, in der ein Mensch ohne Penis eine „Frau“ sein muss. Am humansten wäre es wohl gewesen, den genitalverstümmelten, aber ansonsten gesunden Kleinen einfach trotzdem zeitgemäß als Jungen aufwachsen zu lassen, ganz wie seinen Zwillingsbruder – und ihm behutsam beizubringen, dass auch ein Mann ohne Penis ein Mensch ist (und, so er nur will, sogar ein besserer Liebhaber sein kann als so mancher siegesgewisse Rammler).

In einer idealen, vom Geschlechtsnormen-Terror befreiten Welt, in der Menschen nicht in erster Linie Frauen oder Männer wären – und Schwarze oder Weiße etc. –, sondern einfach Menschen, wäre das alles nur ein bedauerlicher Unfall gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Denn das biologische Geschlecht wäre dann nur ein Faktor von vielen, der den Menschen zwar mit prägt, ihn jedoch nicht umfassend definiert: als Frau oder Mann.

Nicht zufällig rechnet Colapinto in seinem Buch auch mit John Money, dem berühmten und entsprechend umstrittenen Sexualwissenschaftler, ganz persönlich ab. Für den Rolling-Stone-Journalisten ist der 2006 in Amerika verstorbene, gebürtige Australier Money – der einst selber über seinen gewalttätigen Vater und das Aufwachsen bei der Mutter geschrieben hatte – nichts als ein pathologischer Fall: ein Männerhasser, eine Memme, ja ein Kastrateur, der am liebsten Männer entmannt.

Buchtipp: Alice Schwarzer & Chantal Louis (Hrsg.): Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? (KiWi)
Buchtipp: Alice Schwarzer & Chantal Louis (Hrsg.): Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? (KiWi)

Colapintos Ton zeigt, dass ihm die ganze Richtung nicht passt: die sexualwissenschaftliche und psychoanalytische Strömung – von Freud und Stoller bis Kinsey und Money – die zur „sexuellen Revolution“ sowie zur feministischen Relativierung der Kategorien Männlich/Weiblich beigetragen hat. All diese Wissenschaftler analysierten das Zusammenspiel zwischen der Bildung einer sexuellen Identität (nach innen) und der Oktroyierung einer Geschlechterrolle (nach außen) – und zogen den Schluss, dass dies vor allem Kultur und weniger Natur sei.

Der 1981 verstorbene Sexualwissenschaftler Robert Stoller schuf noch vor der Frauenbewegung, nämlich 1968, den Begriff Sex & Gender, womit das biologische Geschlecht und die Geschlechterrolle gemeint sind. Über zwanzig Jahre später adaptierte Judith Butler diese sexualwissenschaftlichen Kategorien für ihre feministische Analyse.

Colapinto jedoch ist, ganz wie Bruce/Brendas sektiererische Eltern, am Verstehen solch komplexer Zusammenhänge nicht interessiert. Er ist ein Anhänger klarer Verhältnisse: Mann oder Frau! Der Autor behauptet, Money und Ehrhardt seien dogmatische Verkünderinnen der Alles-anerzogen-These gewesen. Doch auch bei rückblickender Lektüre lässt sich für diese Unterstellung keinen Anhalt finden. Im Gegenteil: Die beiden zu ihrer Zeit zur Avantgarde der internationalen Sexualforschung zählenden WissenschaftlerInnen betonen in „Männlich, Weiblich“ immer wieder die gegenseitige Bedingtheit von Biologie und Prägung. Und sie legen sehr genau dar, wie die Entwicklung der sexuellen Identität das Ergebnis einer komplexen „psychosexuellen Dynamik“, einer lebenslangen Wechselwirkung von Sex and Gender ist – was auch den heutigen Erkenntnissen der fortschrittlichen Wissenschaft entspricht.

ALICE SCHWARZER (in EMMA 1/2016)

 

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