Brief an alle Deutschen
Sie ist Türkin, hat ihr halbes Leben hier verbracht und lebt heute in Istanbul. Und sie ist verzweifelt über die Nachrichten, die sie aus Deutschland erreichen.
Ich bin eine sogenannte Deutsch-Türkin. Mein halbes Leben habe ich in Deutschland verbracht: in Hamburg Abitur gemacht, in Göttingen studiert, in Berlin meinen Sohn zur Welt gebracht. Und heute sitze ich in Istanbul und weiss nicht, ob ich jemals wieder in Deutschland leben sollte. Denn ich sehe, dass wir dort wieder zu den kriminellen, ungebildeten, fanatischen Fremden gemacht werden.
Es stimmt, es mangelt vielen der nach Deutschland gegangenen Türken an Aufklärung und Bildung (genau darum mussten sie ja „in der Fremde“ ihr Auskommen suchen). Und auch das traditionelle Patriarchat sitzt tief und wird täglich neu erschaffen. Aber gibt das einer Fernsehmoderatorin schon das Recht zu fragen: „Hängt es mit dem Islam zusammen, dass die Türken in Deutschland krimineller sind als die Anderen?“ Und gibt es einem Chefredakteur das Recht zu behaupten, wir Türken hätten es in Deutschland „nicht so weit gebracht“ wie andere Migranten? Und einem Ex-Kanzler das Recht zu sagen: „Wir hätten diese Leute nie zu uns holen sollen“?
Ich bin erschüttert über den bestialischen Mord an van Gogh im Namen des Islam. Und als die Twin Towers 2001 in sich zusammensanken, hat Özgül, meine Haushaltshilfe, bei mir am Küchentisch laut geschluchzt über die Menschen, die in den Tod sprangen. Drei Jahre später vergießt meine Mutter heiße Tränen über die Bilder der Toten in Falludscha, deren Leichen auf den Straßen von streunenden Hunden angefressen werden. Das sind die Bilder, die wir hier zu sehen bekommen von Falludscha.
Gibt es zweierlei Bilder von ein und demselben Ereignis? Gibt es zweierlei Sicht der Dinge? Und zweierlei Tränen, muslimische und christliche? Willkommen im Religionskrieg!
Gerade lese ich die Kolumne meines Kollegen Ahmed Tulgar in Aksam (Abend). Er schreibt sonst über Lifestyle und Britney Spears. Sein heutiger Text trägt den Titel: „Amerikanische Tränen“. Alle Menschen weinen gleich, schreibt er, denn Tränen sind doch eigentlich nicht an eine Kultur oder Nation gebunden. „Aber die amerikanischen Tränen fallen immer nur für die eigenen Landsleute – nur unsere Tränen fallen wie Regen und vermischen sich mit denen der Anderen.“
Es ist zwanzig Jahre her, dass meine Freunde in Deutschland die „multikulturelle Gesellschaft“ erfunden haben. Ich hatte diesen Begriff immer als Willkommensgruß verstanden (Ihr gehört dazu!) und als Kampfansage gegen den völkischen Mief, der auch in der deutschen Gesellschaft noch wallt (ganz wie das Patriarchat, das die Frauen entrechtet).
Ja, es ist einiges verdrängt und schön geredet worden im Namen des Traums von der „multikulturellen Gesellschaft“ – aber soll jetzt im Namen des Unterschiedes alles schlecht geredet werden? Und was sollen Türken hier in der Türkei eigentlich von der Minderheit der Deutschen halten, die ebenfalls in Ghettos lebt, wenn auch in Reichen-Ghettos? Was sollen Muslime denken, wenn sie die mit Kreuzen geschmückten Panzer sehen, die in Falludscha einrücken? Was sollen sie glauben, wenn sie US-Soldaten Christmas-Cakes essen sehen, während die Toten von Falludscha den Hunden vorgeworfen werden? Sollen sie den Schluss daraus ziehen, dass alle „Westler“ kriminell sind – und Fragen stellen wie: „Hängt das mit dem Christentum zusammen?“
Die Türken hätten es in Deutschland nicht so weit gebracht wie Andere, heißt es vorwurfsvoll. Aber wo sind die Italiener, Griechen und Spanier im Bundestag? Sie sind in der Mehrheit in ihre Heimat zurückgegangen, wo sie Arbeit gefunden haben. Dank des Aufschwungs ihrer Länder durch die EU-Milliarden – der EU-Mitgliedschaft, die der Türkei verweigert wird. Und übrigens: Auch unter den Türken in Deutschland gibt es keineswegs nur „Allahs entrechtete Töchter“, es gibt auch die Sibels, Seyrans, Cems, Fatihs oder Feriduns. Sie, die Kinder der Einwanderer, sind das beste Beispiel dafür, dass weder Kultur noch Religion ein Hindernis bei Emanzipation und Karriere sind.
Jetzt aber, zu Beginn des 21. Jahrhunderts und zu Lebzeiten der dritten Türken-Generation in Deutschland, werden die Hindernisse wieder höher, werden zu Barrieren.
Hinschauen, Verstehen und Mitfühlen werden ersetzt durch Wegschauen, Emotionalisieren und Ichbezogenheit. Was soll ich meinem Sohn sagen? Diesem Kind einer türkischen Mutter und eines deutschen Vaters? Wollen wir das wirklich zulassen – wir Menschen?
Die Autorin ist freie Korrespondentin in Istanbul, u.a. für die Financial Times und den WDR. Sie veröffentlichte 2003 "Die Geschichte des Islam" (Campus).