"Ja, es gibt Seilschaften!"

Foto: Dorothea Siewert
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Herr Prof. Salgo, Ende Juni 2023 veröffentlichte die UN-Sonderbotschafterin Reem Alsalem einen Bericht zu Menschenrechtsverletzungen durch Familiengerichte. Hat Sie irgendetwas an diesem Bericht überrascht?

Nein. Dass ein so hohes internationales Gremium wie die UN einen Bericht eingefordert hat und dieses Thema dann auch über mehrere Tage mit großer Akribie behandelt hat, zeigt die Tragweite dieser Menschenrechtsverletzungen in Deutschland. Die EU hat sich dem Bericht angeschlossen, viele einzelne Länder auch, allerdings bisher nicht die Bundesrepublik Deutschland.

Auch die Studie von Wolfgang Hammer und seinem Team hat Rechtsverletzungen gegenüber Kindern und alleinerziehenden Müttern durch Familiengerichte und Institutionen wie dem Jugendamt in Deutschland angeprangert. Zeigt die Studie inzwischen Auswirkungen, etwa auf die deutsche Rechtsprechung?
Das lässt sich nur sehr schwer feststellen, denn es gibt keine systematische Forschung dazu. Doch wenn wir Gesetze in die Praxis umsetzen wollen, wenn wir wissen wollen, ob sie funktionieren, müssen wir die Rechtsprechung systematisch untersuchen und bewerten. Das nennt sich Rechtstatsachenforschung. Dafür müssen Akten eingesehen werden. Aber es ist selbst für anerkannte Forscher und Forscherinnen schwierig, bei familienrechtlichen Verfahren Akteneinsicht zu bekommen.

Familienrechtliche Verfahren sind nicht öffentlich.
Aus gutem Grund. Aber es ist wichtig, dass die Forschung, natürlich unter Wahrung des Datenschutzes, einen Zugang zu den durchaus sensiblen Akten familienrechtlicher Verfahren hat, um zu sehen, ob die neuen Gesetze, wie sie in der Istanbul-Konvention enthalten sind, auch in Deutschland umgesetzt werden.

Heißt das, dass in familienrechtlichen Verfahren institutionelle Gewalt ausgeübt werden könnte, die von außen nicht einsehbar ist?
Ja, das ist so. Und in dieses Dunkel hat die Hammer-Studie hineingeleuchtet, indem sie sehr viele nicht öffentliche Entscheidungen ausgewertet hat. Die Akten wurden von Anwälten zur Verfügung gestellt. Die Familiengerichte müssen meiner Ansicht nach in Zukunft Forschung zulassen, sonst entsteht der Eindruck, dass sie sich nicht gerne auf die Finger gucken lassen wollen.

Zu den Empfehlungen der Hammer-Studie gehört eine deutlich bessere Qualifizierung der FamilienrichterInnen. Hat sich in dieser Hinsicht etwas getan?
Der Gesetzgeber hatte vor wenigen Jahren noch von einer „Qualifikationsoffensive“ für Familienrichter gesprochen, aber die Länder hatten die Fortbildungspflicht abgelehnt. Nachdem aber einige katastrophale Gerichtsentscheidungen öffentlich geworden sind, in denen Richter schwerwiegende Fehler gemacht hatten, bröckelte der Widerstand gegen die Fortbildungspflicht. Laut Gerichtsverfassungsgesetz dürften jetzt vom Direktorium des Gerichts keine Richter mehr eingesetzt werden, wenn sie bestimmte Qualifikationsmerkmale nicht erfüllen oder alsbald erfüllen werden.

Welche Qualifikationsmerkmale sind das?
Belegbare Kenntnisse auf dem Gebiet des Familienrechts, insbesondere des Kindschaftsrechts, des Familienverfahrensrechts, Kenntnisse der für das Verfahren notwendigen Teile des Kinder- und Jugendhilferechts sowie Grundkenntnisse der Psychologie, insbesondere der Entwicklungspsychologie. Und sie sollten über Kenntnisse der Kommunikation mit Kindern verfügen. Das ist am 1. Januar 2022 eingeführt worden. Die Frage ist, wer das kontrolliert. Es gibt Länder, die sich sehr um die Umsetzung bemühen, etwa Hamburg und Berlin, und es gibt Bundesländer, die auf konkrete Fragen lediglich pauschal versichern, bei ihnen kämen nur Familienrichter zum Einsatz, die alle Qualifikationsmerkale erfüllen. Das ist wenig durchschaubar und erstaunt bei einem Gesetz, das vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde. 

Auch die Verfahrensbeistände – die sogenannten Anwälte und Anwältinnen des Kindes, die dessen Position in familiengerichtlichen Verfahren stärken sollen – sind laut Hammer-Studie teilweise unqualifiziert und/oder von der PAS-Ideologie beeinflusst. Hier haben Lobbygruppen sogenannter Väterrechtler Einfluss genommen, indem sie ihrerseits ausbilden.
Zunächst muss man sagen, dass die Einführung des Verfahrensbeistands richtig war. Die Kinder fühlen sich in der Regel sicherer, ihre Stimme wird besser gehört, dazu gibt es auch Forschungen. Die Tatsache, dass einzelne Verfahrensbeistände mit abstrusen Pseudo-Ideen unterwegs sind, sollte nicht die gesamte Institution in Frage stellen. Wenn jedoch Verfahrensbeistände nicht haltbaren und längst widerlegten Pseudotheorien anhängen und danach handeln, haben wir ein ganz großes Problem. Es gibt Hinweise, dass es in einzelnen Familiengerichten Seilschaften gibt zwischen Richtern, die diesen „Theorien“ anhängen und die dann die entsprechenden Verfahrensbeistände bestellen. Die liefern die gewünschten Ergebnisse.

Auch die Gutachter, die in Sorge- und Umgangsrechtkonflikten eingesetzt werden, sind laut Hammer-Studie oft schlecht qualifiziert und ebenfalls von „PAS“ und ähnlichen Konstrukten beeinflusst. Auf Grund solcher Gutachten kommt es immer wieder zu gravierenden Entscheidungen wie den „Inobhutnahmen“ gegen den Willen der Mutter oder des Kindes.
In der Tat. Die Beschwerden über ungerechtfertigte Inobhutnahmen häufen sich. Die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme sind ja sehr hoch. Es muss dringende Gefahr bestehen – und wie Sie wissen, nehme ich den Schutz von Kindern sehr ernst. Aber wenn ein Kind einen Elternteil nicht sehen will und kein Umgang stattfindet, ist das kein Grund für eine Inobhutnahme. Und wenn ein Kind nicht im Wechselmodell leben will, ist es ebenfalls nicht in dringender Gefahr! Aber wegen dieser Fehlannahmen haben wir Kinder, die alleine deswegen in Einrichtungen gebracht werden. Auch über die Praxis der Jugendämter muss systematisch geforscht werden. Wenn Richter Inobhutnahmen auf Grund falscher Annahmen anordnen, führen die Jugendamtsmitarbeiter dies aus, weil sie sich mit dem Gericht gut stellen wollen. 

Hat sich das Bundesjustizministerium bisher zu diesen Zuständen geäußert?
Wenn solche Vorwürfe im Raum stehen, müsste sofort mit einer großen, unabhängigen Studie darauf reagiert werden. Das Ministerium müsste alarmiert sein und diesen Vorwürfen mit genügend Mitteln und personeller Ausstattung nachgehen. Nichts davon ist passiert. Man muss sich schon fragen, was da los ist. Gibt es etwas zu verbergen? Finden diese „Theorien“ und unhaltbaren Annahmen möglicherweise bis in die höchsten Stellen des Ministeriums hinein Anhänger? Ist man deshalb nicht daran interessiert, für Transparenz zu sorgen? Ein Manko ist auch, dass es bisher keine Aufnahme der Istanbul-Konvention ins deutsche Kindschaftsrecht gegeben hat. Im Kindschaftsrecht ist festgeschrieben, dass der Umgang im Regelfall dem Wohl des Kindes dient. Es müsste aber auch drinstehen, dass diese Regelvermutung bei Häuslicher Gewalt nicht gilt. Das gilt auch für das Sorgerecht. Es kann bei Gewalt kein gemeinsames Sorgerecht und auch kein Wechselmodell geben. 

Das Justizministerium wird von der FDP bespielt. Sie will das Wechselmodell – in dem die Kinder hälftig mal bei einem, mal beim anderen Elternteil leben – als Standardmodell festlegen.
Das versuchen Lobbygruppen schon länger durchzusetzen, die einen sehr guten Zugang zum Justizministerium haben. Es ist denkbar, dass schon Gesetzesentwürfe in der Schublade liegen, die gegen Ende der Legislaturperiode möglichst schnell durchgedrückt werden sollen. Das Justizministerium sorgt selbst für solche Spekulationen, weil es sich weder zur Hammer-Studie noch zum Bericht der UN-Sonderbotschafterin äußert.

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