Pornograf oder Menschenfreund?
Inmitten anonymer Hochbauten stehen Männer Schlange nach Porno-Filmen. Worum es daringeht, das zeigen die Plakate: um Folter. Eine gefesselte Frau wird ausgepeitscht, einer anderen wird ein Holzstamm in die Vagina gerammt, eine dritte wird in einem Nagel-Kasten gequält (mit „echtem Blut"), heiße Eisen malträtieren „heiße girls". Mitten durch die Szene zieht ein kleiner Truppe von amnesty international. Sie protestieren gegen die Folter — an Kurden.
Die Schlange stehenden Porno-Konsumenten schauen nicht hin, sie wirken dumpf und desinteressiert. Warum auch sollten sie sich über gefolterte Menschen aufregen - schließlich werden sie gleich sogar 10 Mark Eintritt zahlen, um Folter an Menschen auf Großleinwand und in Farbe so richtig genießen zu können.
Auch der Trupp von amnesty international ist indifferent: die wackeren Menschenrechtler erregen sich zwar über die gefolterten Kurden (die sind ja auch schön weit weg), aber sie nehmen die Folter an Frauen (gleich nebenan) noch nicht einmal als solche wahr.
Reiser hat diese Zeichnung schon Ende der 70er Jahre gemacht. Mehr als zehn Jahre danach ist da doch jemand, der sich aufregt: das Jugendamt in Karlsruhe. Es fordert die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften" auf, den Cartoonband „Sexdoping" zu indizieren; das heißt, das Buch soll nur noch unterm Ladentisch verkauft werden können. Grund: „Sexdoping" sei „geeignet, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu desorientieren und moralisch zu verwirren". Und speziell die oben beschriebene Zeichnung sei „absolut frauenverachtend und gewaltverharmlosend".
Die Klagenden berufen sich dabei auf das geltende Gesetz: nach § 184 im Strafgesetzbuch ist Pornografie für Jugendliche verboten, zumindest theoretisch. Was aber ist „Pornografie"? Laut Gesetz alle Darstellungen in Wort oder Bild, die „auf Erregung eines sexuellen Reizes beim Betrachter abzielen und dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertevorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstands eindeutig überschreiten".
Gegen den „sexuellen Anstand" verstoßen in den Augen der empörten Jugendschützer auch die erstochene Frau und die Babyrobbe, sowie die vergewaltigte Frau auf dem Polizeirevier und der Bauer auf dem Pferd. Argument? Dies „vermittelt Kindern und Jugendlichen ein Bild vom Wesen und Wert der Sexualität, in dem meist die soziale Verantwortung für das Gegenüber ausgeblendet ist und das der Realität und sexualpädagogischen Bemühungen zuwiderläuft".
Der Realität zuwider? Schön war's. Den „sexualpädagogischen Bemühungen" vielleicht. Aber gerade die sollten sich der Realität stellen. Und die ist nun mal so, daß die „soziale Verantwortung für das Gegenüber" nur allzuoft „ausgeblendet" ist - vor allem, wenn Männer ihren Blick auf Frauen richten. Wer das ändern will, muss es benennen! Und genau das tut Reiser. Ob es uns passt oder nicht: die (gesellschaftlich akzeptierte) Realität ist nun mal frauen- und menschenverachtend und die (propagierte) Sexualität frauenfeindlich.
Ist/war der 1983 im Alter von 42 Jahren in Paris gestorbene Reiser nun einer, der zu dieser Entwicklung beitrug? Oder ist er vielmehr einer, der diese Entwicklung erkennt, benennt - und bekämpft? Einer, der die Augen öffnen, der schockieren will?
Reiser sieht alles. Das ist es wohl, was so schmerzlich ist an ihm. Bei ihm sind die Täter darum selten nur Täter (die sind eben oft auch erbärmliche Würstchen) und die Opfer selten nur Opfer (die sind eben manchmal auch selbstgefällig und feige). Aber: die Täter SIND Täter und die Opfer SIND Opfer — und Reiser zeigt, wie sie es werden. Verhältnisse beuteln Mann, Mann vergewaltigt Frau, Frau prügelt Kind, Kind tritt Tier. Das ist die Macht- und Gewalt-Hierarchie, für die Reiser keine Worte braucht.
Da ist die Frau, die noch im gewaltsamen (Sexualmord?)Tod „schön" sein will. Da ist die Babyrobbe, bei deren Anblick sich die Frage aufdrängt: Was ist schlimmer — erschlagen oder verwaltigt zu werden? Da ist die vergewaltigte Frau auf der Wache, die von dem vernehmenden Beamten ein zweites Mal zum Sexualobjekt degradiert wird. Und da ist der „Pferdenarr", ein lediger Bauer, der, wie so viele seiner Nachbarn, sein Pferd fickt, und dessen via Kleinanzeige gefundene Braut dann auch prompt aussieht wie ein Pferd.
Rohe, durch und durch unmenschliche Verhältnisse. Hauptsache, Loch. — Doch es ist nicht Reiser, der die Würde der Frauen verletzt. Er ist es, der zeigt, dass diese Würde verletzt wird!
Reiser weiß, wovon er redet. 1943 unehelich geboren, kam er als sogenanntes „Pflegekind" zu Bauern in die Normandie. Was bedeutete: wenig zu essen, viel Prügel, viele Demütigungen. Ab 14 musste er in die Fabrik (und sortierte Flaschen bei der Weinfirma Nicolas) und dann zum Militär. In der Zeit fing er an zu zeichnen. Seine ersten, noch unbeholfenen Cartoons schickte er an Cavanna, den damaligen Chefredakteur von Harakiri.
Diese Satire-Zeitschrift war Anfang der 60er noch ganz out und Anfang der 70er ganz in. Harakiri — und hier vor allem der zeichnende Reiser und der schreibende Cavanna — haben das Humorverständnis der Franzosen und Französinnen entscheidend beeinflusst. Diese Bande von sozialen Bastarden klatschte dem Establishment die ganze Bigotterie ins Gesicht und zeigte die herrschenden Verlogenheiten und Erbärmlichkeiten so krude, wie sie nun mal sind. Aber die Realität genügt nicht, sonst wären wir alle ja bei ihrem bloßen Anblick schon vom Entsetzen gepackt. Es bedarf der künstlerischen Bearbeitung, der satirischen Zuspitzung.
Das ist also der Unterschied zwischen Pornografie und Kunst/ Satire: Pornografie ist die platte Reproduktion oder sogar die Verstärkung der existierenden Sexualerniedrigung und Sexualgewalt gegen Frauen. Ihre Darstellung wird zur Satire, wenn sie das Dargestellte gleichzeitig entlarvt — und somit bekämpft.
Das ist der Fall bei dem einfach genialen Reiser, der manchmal nur noch zwei Striche und drei Punkte braucht, um zu zeigen, was andere auf 1.000 Seiten nicht ausdrücken können. An einer Zeichnung von Reiser kann der Betrachter sich sowenig „aufgeilen" wie an einem Text von Jelinek — was allerdings den Kulturbetrieb nicht an dem Versuch hindert, auch solche Arbeiten vereinnahmen zu wollen und sie womöglich mit einem pornografischen Augenzwinkern zu vermarkten. So geschehen mit dem Roman „Lust" von Elfriede Jelinek. Und vielleicht auch so versucht mit Reiser.
Wohl nicht zufällig warf der deutsche Verlag von insgesamt elf Bänden ausgerechnet „Sexdoping" und „Phantasien" sehr früh hier auf den Markt. Denn gerade in diesen erst nach Reisers Tod von Dritten zusammengestellten Comic-Büchern landeten in der Tat auch einige „Schweinkram“-Kritzeleien, von der Art, wie sie Schüler und Stammtischbrüder rumreichen.
Vermutlich haben die bei Reiser in einer sehr tiefen Schublade gelegen und wären bei ihm wohl auch da geblieben, denn sie liegen weit unter Reisers Niveau, sind also keine Satire — aber deswegen auch noch keine Pornografie. Der dünnhäutige Reiser wäre zu Pornografie gar nicht fähig gewesen.
Allerdings: Auch er war ein Mann. Immerhin existieren solche Kritzeleien aus seiner Feder... Doch sollen die nun mit dem § 184 zensiert werden? Nein. Denn nicht alles, was den „guten Geschmack" verletzt — über den sich bekanntlich streiten lässt — kann deswegen auch gleich als Pornografie gebrandmarkt werden. Und was ist schon von einem Paragrafen zu halten, der den „Anstand" schützen soll (was immer das sein mag)?
Höchste Zeit also, dass der § 184 abgeschafft und das zivilrechtliche PorNO-Gesetz, das EMMA 1987 vorschlug, endlich eingeführt wird! Denn darin wird sehr klar gesagt, was Pornografie ist — und vor allem, was sie nicht ist: „Pornografie ist die verharmlosende oder verherrlichende, deutlich erniedrigende sexuelle Darstellung von Frauen oder Mädchen in Bildern oder Worten".Genau davon kann bei Reiser die Rede nicht sein.
Reiser vor der Bundesprüfstelle. Da schreit die linke Kultur-Schickeria gleich wieder „Zensur". Aber gerade Jean Marc Reiser selbst, mit dem ich lange Jahre befreundet war, wäre vermutlich der erste gewesen, der gerne auf diesen Beistand verzichtet hätte. Ihn, der soviel von der Frauenbewegung gelernt hat, hätte bei dem Streit in der Kasseler Szene wohl eher die Irritation mancher Feministin über seine Zeichnungen interessiert. Denn Reiser wusste nur zu gut, warum Frauen in dem Bereich schon lange das Lachen vergangen ist und warum gerade sie manchmal einfach keine Lust mehr haben, genau hinzusehen. Nur: Diesmal lohnt es sich wirklich, Schwestern.
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