Alice Schwarzer schreibt

Jean-Marc Reiser: Was ist Kunst?

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Gestern telefonierte ich mit einer befreundeten linken Anwältin. Sie ist gegen ein Anti-Porno-Gesetz. ,,Wo soll das hinführen!", sagt sie. Und: „Gerade habe ich was auf dem Tisch, was du, Alice, bestimmt auch gern verbieten lassen würdest." Was denn? „Ein Buch von dem Cartoonisten Reiser. "Und das würde ich verbieten lassen? „Klar, das würdet ihr! Eine Frauengruppe aus Dingsda hat auch schon gegen Reiser protestiert.'' Hat sie? Gut, dann reden wir mal über Reiser.

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Jean Marc Reiser, der, noch nicht vierzig, an Krebs starb, gehörte zu dem Kreis der satirischen Zeitschrift Harakiri und war 15 Jahre lang der wohl wichtigste Zeichner Frankreichs. Er hat nicht nur eine ganze Generation, er hat auch das Humorverständnis seines Landes geprägt. Als er 1981 starb, löste das in Frankreich Emotionen aus, die fast denen beim Tode Sartres zu vergleichen waren: Einer der so wenigen wirklich Radikalen, wirklich Innovativen war nicht mehr da.

Reiser, der Autodidakt, der als Pflegekind bei Bauern aufwuchs, ab 14 in der Fabrik malochte und bei Harakiri das Zeichnen anfing, hat mit seinen harten, zunehmend sparsamer und konsequenter werdenden Strichen die Verzweiflung und die Wut der Menschen gezeichnet. Der Männer wie Frauen.

Die Frauenbewegung, der Reiser sich im Leben wie in der Arbeit gestellt hat, hat ihn zwar gebeutelt, aber letztendlich nur noch klarsichtiger gemacht. Über Erniedrigung, Macht und Gewalt zwischen den Menschen mußte ihm niemand was erzählen. Seine Welt ist nicht rosarot, sondern schwarz. So schwarz, dass auch der kleinste Hoffnungsschimmer darin immer zu sehen war. Sein Humor ist von der Sorte, die einem das Lachen im Halse stecken bleiben lässt.

In Frankreich erschienen insgesamt elf Bücher von ihm, hier gibt es erst drei. Die kleinbürgerlichen, teutonischen Kreise um Pardon und Titanic boykottierten Reiser mit dem Verdict „vulgär" (statt zu begreifen, daß die Welt, die er zeichnet, vulgär ist).

Reisers vielleicht bestes Buch ist „Entre femmes", „Unter Frauen"; sein vielleicht schlechtestes „Phantasien"; sein letztes „Der Kotzbrocken" („Le degeu-lasse"), völlig daneben übersetzt in „Der Schweinepriester", die deutschen Übersetzungen sind wie bei Bretecher miserabel. Übrigens ein Trost: der Strich bleibt Reiser.

„Unter Frauen", ist das Produkt von Reisers Zusammenprall mit den Feministinnen. Im „Kotzbrocken" griffelt er den Mann in seiner letzten Erbärmlichkeit. Die „Phantasien" erschienen erst nach seinem Tod, wurden also nicht von ihm selbst veröffentlicht. Reiser hätte diese Reste vermutlich auch nicht aus seinen Schubladen gezogen. Das Buch ist konzeptlos und spekuliert ganz offensichtlich auf den „Schweinkram"-Effekt.

Aber: auch dieses Buch ist keine Pornographie. Jemand wie Reiser wäre gar nicht in der Lage gewesen, Pornos zu zeichnen... Denn Reiser ist ein wirklicher Künstler. Und es macht den/die Künstlerin aus, dass er und sie die Verhältnisse eben nicht „verharmlost oder verherrlicht" — auch nicht die Geschlechter-Verhältnisse ! — sondern sie offenlegt, sie hinausschreit.

Ja, Jean Marc Reiser zeigt die Erbärmlichkeit der Menschen, auch die der Frauen. Aber er zeichnet gegen diese Erbärmlichkeit an. Er verschleiert sie nicht — auch und gerade dann nicht, wenn sie gegen sein eigenes Geschlecht spricht. Jean Marc Reiser ist darum so wenig pornographisch wie Elfriede Jelinek.

Mit der Frage „Was ist Pornographie?", kommt zwangsläufig auch die Frage „Was ist Kunst?" hoch. Und auch das kann beim herrschenden Zeitgeist nicht schaden.

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Reiser: Pornograf oder Menschenfreund? (10/90)
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