Legendäre Jeanne d’Arc

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Als 13-Jährige hörte Jeanne erstmals Stimmen und sah dabei auch die Heiligen, wie sie zu ihr sprachen. Die forderten anfangs nur ein selbstbestimmtes Leben und regelmäßige Kirchenbesuche. Später kam der Auftrag hinzu: nach Chinon zum Dauphin Karl zu ziehen, mit ihm die ­Belagerung der Stadt Orléans aufzuheben und danach den siegreichen Prinzen zur Krönung nach Reims zu führen. 

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Wer belagerte Orléans? Die Engländer hatten im Verlaufe des Hundertjährigen Krieges mit Frankreich (seit 1337) immer größere Partien ihres so genannten Festlandbesitzes hinzugewonnen. Jetzt wollten sie nach der Eroberung von Orléans über die Loire in den Süden des Landes vorstoßen, wohin sich der machtlose und von der eigenen Mutter verleugnete Dauphin zurückgezogen hatte. Hinzu kamen bürgerkriegsartige Fehden zwischen den Häusern Orléans und Burgund, die in endlosen Feldzügen das Land verheert und ausgeplündert hatten. Die Burgunder hielten es dabei mit den Engländern und Isabeau, Karls Mutter, hielt es mit Burgund; diese Allianz propagierte den englischen König Henry VI als Kandidaten für die französische Krone. 

Für Jeanne waren die Burgunder genauso gottverlassene Feinde wie die Engländer. Sie zog von ihrem Dorf nach Chinon, in Hosen und zu Pferde, begleitet von einer kleinen Eskorte, die ihr der Stadthauptmann vom nahen Vaucouleurs auf ihre inständigen Bitten hin überlassen hatte. Sie wollte la douce France für den legi­timen Thronerben zurückerobern, was immer es auch kostete – und sie setzte sich durch. In Chinon überzeugte das Mädchen den Dauphin von ihrer Sendung. Und bald darauf vertrieb Jeanne mit Karls Soldaten die Engländer von den Bollwerken um Orléans. 

Ihr Ritt nach Reims war ein weiterer Feldzug: Der Weg führte durch angloburgundisches Gebiet, Karls Truppen mussten kämpfen, und das taten sie – unter Führung der Jungfrau und gemäß deren offensiver Haudrauf-Strategie. Jeanne kam, sah und siegte.

Und Karl VII empfing 1429 im Dom zu Reims vom Erzbischof die Krone – und die Salbung mit dem heiligen Öl. Jeanne stand während der Zeremonie mit ihrem Banner neben dem Altar. Der Sieg war nachhaltig. 1453 beendete Karl VII, der sich von einem schwachen Dauphin zu einem starken König entwickelte, den Hundertjährigen Krieg. 

Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, lautet: Wie konnte das gehen? Wie konnte ein einfaches Bauernmädchen, jung und unerfahren, obendrein Analphabetin, wie konnte diese Jeanne d’Arc aus dem Flecken Domrémy einen Stadthauptmann, den Hof von Chinon, den Erzbischof, den Dauphin und schließlich Orléans’  Kommandanten Dunois sowie all die ­übrigen Militärs überzeugen?

Dazu muss man wissen, dass im aus­gehenden Mittelalter Glauben und Wunderglauben etwas Selbstverständliches waren; die Menschen aus allen Schichten waren überzeugt davon, dass der Herrgott in ihr Leben eingriff, und es schien ihnen keineswegs zu sonderbar, dass Er eine Jungfrau vom Lande erwählte, um Seinen Willen kund zu tun. Und da Jeanne sehr freimütig und fordernd auftrat, wirkte sie umso glaubwürdiger. 
Sie ließ Karl ausrichten: „Ich habe zwei Aufträge vom Himmelskönig: Erstens, die Belagerung von Orléans aufzuheben. Zweitens, den König zur Salbung und Krönung nach Reims zu führen.“ Man mag sich das Erstaunen des Hofes vor­stellen, als diese Worte fielen, darf aber annehmen, dass auch Freude aufkam. 

Denn Karl war ein elender Thronerbe. Er war von fast aller Welt verlassen, verfügte über keinerlei Mittel mehr und sah sich einer kriegerischen Herausforderung gegenüber, die er nicht zu parieren vermochte. In einer solchen Situation ist die Hoffnung auf ein Wunder normal und die Aussicht auf Erfüllung ein Grund zum Jubeln. 

Dass es ein Mädchen war, das da nach Ross, Waffen, Männerkleidung und Mitsprache bei der militärischen Planung verlangte, das war so absurd, dass es schon wieder passte. Denn die Gläubigen nahmen an, dass Gott gerade dort seine Sprachrohre wählte, wo der gemeine Mann sie nicht erwartete. Einer Gesandten des Höchsten zu verweigern, was sie forderte – das wäre eine arge Sünde gewesen. Die wollte niemand begehen. 
Allerdings: Wie konnte man wissen, dass Johanna wirklich von Gott gesandt war – oder womöglich eine Verrückte, wenn nicht sogar eine Teufelsbraut?

Man musste sie examinieren. Also schickte man sie nach ihrer Ankunft in Chinon zur Universitätsstadt Poitiers, wo sie von einem Kollegium hochgelehrter Theologen auf ihre Glaubensfestigkeit und Gottesnähe geprüft wurde. Und auf ihre Jungfräulichkeit – diese Untersuchung vollzogen Damen aus dem Umkreis des Hofes. Das musste sein, denn die Unberührtheit war eine wichtige Voraussetzung für eine Braut Christi und ihre Fähigkeit, sich Gottes Verlautbarungen zu öffnen, bzw. umgekehrt: Eine Jungfrau konnte keinen Umgang mit dem Teufel gehabt haben. Jeanne bestand alle Examina. Als virgo intacta und gläubige Christin durfte sie nach Chinon zurückkehren und nun – endlich! – sich selbst und ihren Tross für den Zug nach Orléans rüsten. 

Als Jeanne in die befreite Stadt einzog, drängten sich die Menschen jubelnd um sie, küssten ihr die Füße, baten um ihren Segen und um Heilung von Gebrechen und reichten ihr Reliquien, damit sie sie berühre. Jeanne wehrte sich ungnädig gegen solche Idolatrie. „Berührt eure Dinge nur selber, das ist ebenso gut, als wenn ich es tue“, rief sie. Den Kult um ihre Person hat sie verabscheut. Auch als Wahrsagerin wollte sie keineswegs gelten. Wer sie nach dem Ausgang künftiger ­Ereignisse fragte, erhielt von ihr den Rat, Gottes Segen zu erbitten. 

Jeanne wollte sie selber bleiben, ein Mensch, der zwar im göttlichen Auftrag unterwegs war, aber deshalb selbst nicht göttlich. Die Kirche hätte eigentlich mit ihr zufrieden sein müssen. Aber das war sie ganz und gar nicht. Eine Katholikin, die direkt mit Gott sprach, ohne sich der priesterlichen Vermittlung zu bedienen, war ihr höchst verdächtig. Solange sie den Sieg brachte, ließ der Klerus Jeanne gewähren, aber als der Wind sich drehte, gewannen die Skeptiker, die in der Jungfrau eine ­raffinierte Ketzerin sahen, die Oberhand. 

Jeanne hatte ja nun die Aufträge, die ihre Stimmen ihr erteilt hatten, erfüllt. Jetzt hätte sie nach Domrémy zurückkehren und ein beschauliches Leben führen können – zumal sie und ihre Familie vom König einen Adelsbrief erhalten hatten, was den Status der d’Arcs erhöhte. Aber Jeanne dachte nicht an Heimkehr. Sie wollte weiter kämpfen. Noch befand sich der Norden des Landes unter angloburgundischer Herrschaft, inklusive Paris, das schon damals eine Metropole mit ­bedeutender Universität war. 

Doch Jeannes Versuch, die Stadt an der Seine zu erobern, endete im Desaster, die Jungfrau wurde verwundet, ihre ­Truppen mussten fliehen, weitere Angriffe auf burgundische Stellungen scheiterten ebenfalls. 

Bei Compiègne wurde die Kriegsherrin gefangen genommen und gegen ein hohes Lösegeld an die Engländer ausgeliefert. Die strengten gegen Jeanne d’Arc einen Inquisitionsprozess an, geführt von dem proenglischen Bischof Pierre Cauchon. Jeanne wanderte durch verschiedene Gefängnisse, zum Schluss erwartete sie ihren Prozess in Rouen, angekettet in einem dunklen Loch.

Die Historikerin Barbara Tuchman schrieb in ihrem Buch ‚Der ferne Spiegel‘: „Ihre kirchliche Verurteilung war den Engländern sehr wichtig, denn Jeanne beanspruchte, von Gott aufgerufen zu sein, und wenn ihr Anspruch nicht widerlegt wurde, hieß dies, dass Gott, der Schiedsrichter in den Affären der Menschen, sich gegen die Herrschaft der Engländer in Frankreich ­gestellt hatte. Vor ihrem Prozess machten weder Karl VII, der ihr seine Krone schuldete, noch einer aus dem französischen Adel den Versuch, sie auszulösen oder zu retten; möglicherweise aus der Scham heraus, von einem Dorfmädchen zum Sieg geführt worden zu sein.“

Die Protokolle der Verhandlungen, in denen Jeanne allein – sie wollte keinen Anwalt – 60 Klerikern und Juristen mit dem gegen sie eifernden Cauchon an der Spitze Rede und Antwort stand, sind eine erschütternde Lektüre. So klar, klug, besonnen, furchtlos, schlagfertig und auch witzig oder genervt und verzweifelt wie Johanna hat wohl nie ein Mensch vor den Schranken des Gerichts sich selbst und sein Tun verteidigt. 

Die typischen Haarspaltereien der forensischen Kasuistik kommentierte sie mit der Frage: „Warum erfindet Ihr Schwierigkeiten?“ Im Prinzip ging es darum, dass sich Jeanne der Mutter Kirche zu unterwerfen habe, was im Klartext hieß: Wenn die Kirche fände, dass Jeannes Stimmen nicht von Gott seien und ihr die Unwahrheit gesagt hätten, so habe die Angeklagte dies zu akzeptieren und sich von ihren Stimmen loszusagen. Jeanne aber entgegnete: „Ich fürchte mich mehr, meine Stimmen zu verlieren, indem ich etwas äußere, was den Stimmen missfallen könnte, als davor, Euch durch mein Schweigen zu erzürnen.“ 

Ein solcher Draht zum Allerhöchsten, wie Jeanne ihn beanspruchte, war erst hundert Jahre später im Zuge der Reformation mit dem Glauben vereinbar. Diesen riesigen Schritt in Richtung mündiger Selbstverantwortung vor Gott hat die junge Frau sozusagen verfrüht vollzogen und sich damit die Exkommunikation eingehandelt. Das Urteil hieß: Tod auf dem Scheiterhaufen. Am 30. Mai 1431 wurde es in Rouen vollstreckt.

Die Überfülle an Jeanne-Bildern, Sagen, Geschichten, Mythen und Literarisierungen, die uns überliefert worden sind, ist erklärlich. Denn die späteren Jahrhunderte, ja schon ihre Mitwelt, konnten Jeanne und ihr Schicksal nicht einfach so zur Kenntnis nehmen. Sie mussten diese Frau vielmehr deuten, manches hinzuerfinden und alles aufs Verstehbare runterbrechen. Barbara Tuchman drückt es so aus: „Das Phänomen Jeanne d’Arc – die Stimmen von Gott, die ihr sagten, sie müsse die Engländer vertreiben und den Dauphin zum König krönen lassen, die Kraft in ihr, die jene mitriss, die das Mädchen normalerweise verachtet hätten, die Entschlossenheit, die die Belagerung von Orléans aufbrach und den Dauphin nach Reims trug – entzieht sich jeder Kategorie. Der Moment forderte sie, und sie erhob sich. Ihre Kraft zog sie aus der Tatsache, dass sich in ihr zum ersten Mal in der Geschichte der alte Glaube und der moderne Patriotismus verbanden. Gott sprach zu ihr mit den Stimmen der heiligen Katharina, des heiligen Michael und der heiligen Margarete. Aber was Er ihr befahl, war weder Demut noch ein Leben im Geiste, sondern politisches Handeln, um ihr Land von den fremden Tyrannen zu befreien.“

In dieser Interpretation Tuchmans steckt so etwas wie Demut, auch ein Verzicht auf das Hinter-die-Fassade-schauen-Wollen, stattdessen die Bereitschaft, Jeanne, ihre Sendung, ihre unglaublichen Erfolge, ihre furchtbare Niederlage, ihren Tod im Feuer, als Tatsachen anzunehmen. Tuchman lässt Jeanne ihr Geheimnis und nimmt sie als „Phänomen“. Etwas anderes bleibt eigentlich auch gar nicht übrig. Denn was heutige Historiker sich so leisten, um dem ‚Phänomen‘ auf die Spur zu kommen, bringt keine besseren Resultate als einst das Weben der Legenden.

Zu diesen Legenden gehörte das Geraune, Jeanne sei in Wahrheit ein Knabe, Bastardsohn eines Fürsten, den Bauersleuten in Domrémy zur Pflege anvertraut, bis er erwachsen und sein Erbe anzutreten fähig sei. Auch dass die Jungfrau aus Lothringen eine Seherin sei, deren Erscheinen lange schon prophezeit worden war, wurde gern behauptet. Nach Jeannes Tod 1431 schließlich hieß es, man habe eine Verbrecherin an ihrer Statt verbrannt, die wahre Jeanne sei am Leben und werde weiter Wunder wirken. 

Mehr als eine Wiedergängerin der Jungfrau traten dann auch in Erscheinung und hofften, sich im Ruhme der Kriegerin sonnen zu können. Aber wenn sich dann ein Zeuge meldete, der die echte Jeanne gekannt und sich bereit erklärt hatte, die wieder erschienene Jungfrau zu identifizieren, waren diese Ritterinnen des Mythos ganz schnell wieder verschwunden.

Auch die Dramatiker der Nachwelt scheuten sich nicht, ihre je eigene Jeanne zu erfinden. Shakespeare war Engländer, mithin ihr Kriegsgegner als Bühnenautor, er musste sie in „Henry VI, Teil 1“ als Hexe desavouieren, ließ ihr aber ihre konsequente Militanz. Am stärksten hat Friedrich Schiller sie in seiner „Jungfrau von Orléans“ entstellt: aus der ‚Bellizistin‘, wie heutige Forscher sie ohne Scheu nennen, machte er ein schwärmerisches Naturkind, aus der Jungfrau, die sie im physischen Sinne bis zu ihrem Tod geblieben ist, eine von der erotischen Bezauberung besiegte Liebende. 

Der französische Dramatiker Jean Anouilh gibt ihr die gefällige Gestalt seiner aufmüpfigen Mädchenfiguren, macht sie zu einer Schwester der Antigone. Der Deutsche Bertolt Brecht kommt ihr mit der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“, einer resoluten Kämpferin, da schon näher. Am besten hat der Ire George Bernard Shaw sie verstanden. Kühn vergleicht er sie in seiner Vorrede zum Drama „Die heilige Johanna“ mit Sokrates: „Nun war aber Sokrates ein Mann der Argumente, der langsam und friedlich auf die Köpfe der Leute einwirkte, wogegen Johanna ein Weib der Tat war, das mit ungestümer Gewalt über deren Leiber gebot. Das ist ohne Zweifel auch der Grund, weshalb die Zeitgenossen des ­Sokrates ihn so lange duldeten und weshalb Johanna umgebracht wurde, ehe sie noch ganz erwachsen war. Doch beide vereinten eine erschreckende Fähigkeit zur Menschenführung mit einer Offenherzigkeit, persönlichen Bescheidenheit und Güte, die den wütenden Widerwillen, dem sie zum Opfer fielen, umso mehr reizen musste.“

Die Historikerzunft des 20. Jahrhunderts wie auch des unseren hingegen hatte und hat ihre liebe Not mit dem Unerklär­lichen, zu dem neben Jeannes Siegeszug ihre Stimmen aus dem Himmel gehören. Auch gestehen sie ungern ein, dass es etwas geben könnte, was „sich jeder Kategorie entzieht“. Man nahm die moderne Psychologie zu Hilfe und machte aus Jeannes Laufbahn eine Krankengeschichte. Ihre Stimmen als Halluzinationen zu qualifizieren, mag noch hingehen. Ihr dann aber auch noch Magersucht, Amenorrhoe und Schizophrenie anzudichten, das geht eindeutig zu weit. Es macht aus der kriegerischen Sendbotin Gottes eine arme Irre. Und das war sie als Allerletztes. 

Jeanne d’Arc ist überhaupt ein gutes Beispiel dafür, dass die Individualpsychologie bei der Suche nach der historischen Wahrheit keineswegs immer weiterhilft. Wer ihr Leben erfahren und erforschen will, hat im übrigen nicht zu wenig Quellenmaterial zur Verfügung, sondern zu viel. Die beiden großen Prozesse, die um ihre Person geführt wurden, der so genannte Verdammungsprozess von 1431, der mit dem Todesurteil endete, und der Rehabilitationsprozess ab 1450, bei dem es darum ging, die Jungfrau vom Vorwurf der „Ketzerei“ und der „Hexerei“ im Nachhinein freizusprechen, haben eine enorme Menge an Protokollen produziert.

Diese Protokolle sind großenteils erhalten und liefern uns reichlich Einlassungen der ‚Pucelle’, wie sie sich selber nannte, aber auch ihrer Mitkämpfer und Gegner. Leider widersprechen sich viele der Aussagen lebhaft, so dass die Historiker nicht wissen, was sie glauben sollen und nach Gutdünken entscheiden. Im 19. Jahrhundert, als Ernst damit gemacht wurde, die geschichtliche Wahrheit aus dem Legendenwust herauszuschälen, wurde die Wahrheitsfindung natürlich von politischen Standpunkten gefärbt – was bis heute so geblieben ist. Religiös gebundene Historiker gewichten anders als Erben der Aufklärung. Nationalisten machten aus der Jungfrau eine Bannerträgerin des Patriotismus – im wahrsten Sinne, denn Jeanne trug bei ihren militärischen Aktionen und auch bei der Krönung stets ein Banner. Katholiken hoben ihre tiefe Frömmigkeit hervor. Sozialisten betonten ihre Herkunft aus dem einfachen Volk. Rationalisten verwiesen auf die – in den Protokollen spürbare – Unabhängigkeit ihres Denkens; ­Revolutionäre auf ihre quasi antiautoritäre Aufsässigkeit. 

Johannas Biografin Vita Sackville-West, ihr Buch „Jeanne d’Arc“ erschien 1936, beschäftigt sich mit einem speziellen Anklagepunkt: dem Tragen von Männerkleidung. „Nur mit Mühe kann man heute verstehen, warum die Doktoren und Rechtsgelehrten einen solchen Nachdruck auf Johannas Kleiderwahl legten. Um welche Sünde, welches Verbrechen oder Laster könnte es sich dabei handeln?“ J.B. Shaw bemerkt dazu trocken: „Sie war der Pionier einer vernünftigen Frauenkleidung. Genauso wie zwei Jahrhunderte später die Königin von Schweden, ganz zu schweigen von den zahllosen Heldinnen, die sich als Männer vermummten, um als Landsknechte und Seeleute zu dienen, wollte auch Johanna nichts davon wissen, das ‚wahre Los des Weibes‘ auf sich zu nehmen.“ 

Die Gefangene war wiederholt bedrängt worden, sich von ihren Hosen zu trennen und zum artigen Frauengewand zurück zu kehren, aber sie weigerte sich lange, und ihre Gegner reagierten wutentbrannt. 

Jeannes Jungfräulichkeit, die nach ihrer Gefangennahme noch einmal überprüft und für intakt befunden wurde, schützte sie nun offenbar nicht mehr vor dem ­Umgang mit dem Teufel – jetzt, wo es im politischen Interesse der Engländer lag, das Mädchen all der Todsünden zu überführen, die den Scheiterhaufen unumgänglich machten. Dazu gehörten eben auch: „Beschwörerin böser Geister, Teufelsanbeterin, Lästerin Gottes, Betreiberin schwarzer Magie …“ (so die Anklageschrift). 

Die leuchtende Magie dieser Frauengestalt wollte es dann aber, dass der katholischen Kirche letztendlich nichts anderes übrig blieb, als die abtrünnige Tochter in Gnaden wieder aufzunehmen. Auch die Kirchen gehen gern mit den Siegern. 1909 wurde die Jungfrau selig, 1920 heilig gesprochen. 

Heute beansprucht die französische Rechte Jeanne für sich – lässt sich ihr Mythos doch für Vaterlandsliebe, Fremdenfeindlichkeit, Katholizismus und Kriegertum gut instrumentalisieren. Marine le Pen, die Chefin der rechten „Front National“, pflegt ihre Brandreden in Paris vor dem Denkmal von Jeanne d’Arc zu halten (siehe Seite 68).

Und die Frauenbewegung? Jeanne selbst bevorzugte männliche Gesellschaft, und sie vertrieb Mädels, die sich zu den Soldaten gesellten, erbost aus dem Tross. Es ist nicht leicht, sie als „Schwester“ zu interpretieren, aber ein „Fall“ für den feministischen Blick auf die Geschichte ist sie unbedingt. Ihr Geschlecht hat ihr zu Beginn ihrer Laufbahn (ihres „kometengleichen Höhenfluges“, wie Tuchman sagt) geholfen, da es die Unwahrscheinlichkeit ihres Auftritts verstärkte, denn das Unwahrscheinliche konnte umso eher das Göttliche sein. Als sie nicht mehr siegte, sondern in Ketten lag, schadete ihr das Frausein. Die Engländer bezeichneten sie als „Hure“ oder „Schandweib“, Shakespeare dichtete ihr später gar eine Schwangerschaft an. Die ­Inquisitoren schäumten vor Zorn ob ihrer Intelligenz und Standfestigkeit, mit einem Mann hätten sie es wohl sportlicher genommen. Aber eine Frau, die sich nicht brechen ließ, versetzte ihre Ankläger, von Ausnahmen abgesehen, in furchtbare Rage. Ihre Kampfgefährten bis hin zum König ließen sie fallen, und das konnten sie umso leichter tun, als der kriegerische Komment für eine Frau nicht galt. 

Aus Angst vor dem Feuertod hat Jeanne d’Arc kurz vor der Hinrichtung widerrufen – in der Hoffnung, danach frei zu kommen. Als sie aber erfuhr, dass lebenslange Kerkerhaft ihr Los sein werde, widerrief sie den Widerruf und ließ sich zum Marktplatz führen. Sie starb, ein kleines eilig aus zwei Zweigen zusammengebundenes Holzkreuz an sich gedrückt, das ihr ein englischer Soldat auf ihre ­flehentlichen Rufe hin durch Flammen und Rauch zugesteckt haben soll. 

Wahrscheinlich ist auch diese Geschichte nur eine fromme Legende, ersonnen von Engländern, als sich, etliche Jahrzehnte später, der Wind erneut gedreht hatte und die Pucelle als Siegerin der Geschichte dastand. Bis auf Calais hatten die Engländer alle ihre französischen Domänen verloren, und sie durften sich jetzt untereinander in den so genannten Rosenkriegen zerfleischen. Karl VII befand nun, dass die Jungfrau wohl doch von Gott gekommen sei. Er ließ im so genannten Rehabilitationsprozess das Todesurteil aufheben und Jeanne von allen Anklagepunkten freisprechen. Seine Krone war damit vom Verdacht auf schwarze Magie rein gewaschen und wieder ganz jenes heilige Insignium, als das Jeanne d’Arc sie ihm dargebracht hatte. 

Weiterlesen
Vita Sackville-West: Jeanne d’Arc 
Die Jungfrau von Orléans (Ullstein)
Gerd Krumeich: Jeanne d’Arc. Die ­Geschichte der Jungfrau von Orléans (C.H.Beck)
Heinz Thomas: Jeanne d’Arc. Jungfrau und Tochter Gottes (A. Fest)

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Pharaonin Hatschepsut

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Die Pharaonin Hatschepsut kam um das Jahr 1495 vor Christus in der Hauptstadt Theben zur Welt. Die Epoche, in der sie über Ober- und Unterägypten regierte (zirka 1479-1458 vor Christus) wird "Neues Reich" genannt. Sie begann ihre Herrschaft als Witwe und Regentin für ihren vierjährigen Neffen und Stiefsohn Thutmosis III. Anfangs ließ sie sich noch hinter ihm stehend abbilden, womit sie anzeigte, dass ihm, dem Kind Thutmosis, der Vortritt gebühre. Doch irgendwann genügte ihr die Regentschaft nicht mehr und sie griff nach der ganzen Macht.

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Hatschepsut nannte sich "Maat Kare" (König von Ober- und Unterägypten) und bestieg den Horusthron. Statuen und Reliefs zeigen sie mit allen Insignien der Macht, in männlichem Königsmantel und mit dem Pharaonenbart. Objektiv gesehen war Hatschepsut eine der bedeutendsten Pharaonen des ägyptischen Reiches. Sie bescherte ihrem Land zwei Jahrzehnte großer Prosperität, Frieden und Reichtum. Dennoch war sie über 3.000 Jahre vergessen, ausradiert. Ihr Nachfolger hatte dafür gesorgt, dass uns beinahe kein einziges Abbild von ihr erhalten geblieben wäre, geschweige denn die Geschichte ihres langen Wirkens. Und bis ins 21. Jahrhundert hinein ist Hatschepsut für viele ägyptische Männer ein rotes Tuch. Schon nur die Erwähnung dieser vor genau 3.467 Jahren gestorbenen Frau provoziert im Nilstromland bis heute gereizte Debatten über Frauen und Macht. Wer also war sie wirklich, diese Hatschepsut, genannt Maat Kare?

Auch im alten Ägypten galt eigentlich einzig die männliche Erbfolge. Hatschepsut aber wurde von ihrem Vater Thutmosis I seinen männlichen Nachkommen vorgezogen, vielleicht weil sie das erste Kind war, das ihm seine Hauptfrau Ahmose geboren hatte. Es folgte aus dieser Verbindung noch eine Tochter, aber kein Sohn.

Hatschepsuts Mutter Ahmose entstammte als einzige jenem göttergleichen Pharaonengeschlecht, das nach langer Fremdherrschaft der so genannten Hyksos die Macht über Ober- und Unterägypten zurückerobert hatte. Jetzt musste dieses Geschlecht seine Herrschaft festigen. Und zwar über Ahmose, die das genealogisch mächtigere Geschlecht repräsentierte als ihr Gatte Thutmosis I, Hatschepsuts Vater, der einer weniger wichtigen Nebenlinie entsprossen war. Hier deutet sich also schon eine über Frauen vermittelte Erbfolge bzw. Machtweitergabe an.

Hatschepsut, Tochter der Ahmose und des Thutmosis, genoss die allerbeste Erziehung, begleitete ihren Vater auf dessen Expeditionen und lernte früh, was es heißt, über ein Land zu gebieten. Die Forschung glaubt Anzeichen dafür gefunden zu haben, dass der Pharao sie – entgegen der Tradition – von Anbeginn an als Nachfolgerin aufbauen wollte.

Sie heiratete, den Gepflogenheiten folgend, in früher Jugend ihren Halbbruder Thutmosis II, der als kränklich oder gar geistig behindert dargestellt wird. Nach dem Hinscheiden von beider Vater Thutmosis I wurde Hatschepsut, die "große königliche Gemahlin", wahrscheinlich sogleich mit den Regierungsgeschäften betraut. Nach nur dreieinhalb Jahren auf dem Horusthron verstarb Hatschepsuts Bruder-Ehemann; das Paar hatte lediglich eine Tochter, Neferure (auch: Nofrure).

Als legitimer Thronerbe wurde nun Thutmosis III, Sohn von Thutmosis II mit seiner Nebenfrau Isis, eingesetzt. Für diesen vierjährigen Knaben trat seine Tante und Stiefmutter Hatschepsut im Jahre 1479 vor Christus die Regentschaft an. Doch sie sollte sich zur Pharaonin aufschwingen und den Thron bis zu ihrem Ende nicht mehr aufgeben.

Ein Pharao hatte zunächst sein Reich zu verwalten; hierin hatte es das alte Ägypten weit gebracht. Ein großer und differenzierter Beamtenapparat stand zur Verfügung und musste von Hatschepsut geleitet werden. Anzunehmen, dass sie die dafür nötigen Kenntnisse als Liebling und rechte Hand des Vaters, sowie als Mitherrscherin an der Seite ihres beschränkten Bruder-Gatten längst erworben hatte. Jetzt aber kam die Autorität der Pharaonin hinzu. Hatschepsut stieß auf wenig Schwierigkeiten, wenn es galt, sich durchzusetzen.

Selbstverständlich stand der Pharao auch an der Spitze des Militärs; auch hier kannte Hatschepsut sich aus. Der Vater hatte seine Tochter in die Geheimnisse der Kriegskunst eingeweiht, wenn er sie nicht sogar mitnahm auf einige seiner "Strafexpeditionen" oder Feldzüge gegen Aufrührer oder Abtrünnige, etwa aus dem Lande Kusch. Hatschepsut aber war dennoch keine kriegerische Pharaonin; sie zog es vor, das Land durch Förderung des Bergbaus, des Handwerks und des Güteraustauschs sowie durch mancherlei Reformen groß zu machen.

Ihre weiten Reisen zum Zwecke des Warenaustausches sind legendär. So schickte sie eine Handelsmission in das sagenhafte afrikanische Land Punt (dessen genaue Lage auf dem afrikanischen Kontinent bis heute unbekannt ist), um Weihrauch, Elfenbein, Gold und Tierfelle zu erwerben.

Eine weitere wichtige Aufgabe des Pharaos war die Pflege der Baukunst, die religiöse Pflicht, Denkmäler, Grabstätten, Tempel und Stelen zu errichten – zu Ehren der Götter und des Herrscherhauses. Wir kennen bis heute diese großartigen Zeugnisse des Wirkens der Pharaonen als Pyramiden, Tempel, Skulpturen und Obelisken. Hatschepsuts Totentempel, ein in den Fels getriebenes Terrassenbauwerk im westlichen Theben nahe dem hochberühmten "Tal der Könige", ist – in Resten, die immer noch den Atem rauben – bis heute zu besichtigen.

Und wer die Stadt Paris besucht, kommt kaum um den Hatschepsut-Obelisken herum, der den Place de la Concorde beherrscht. Die Franzosen haben ihn im 19. Jahrhundert in Ägypten geklaut. Im Amun-Tempel zu Karnak am Ufer des Nil ließ die Pharaonin die damals höchsten Obelisken errichten (dreißig Meter); etliche weitere große Anlagen, so der Mut-(=Name der Göttin Thebens)Tempel zu Karnak, gehen auf ihre Regierungszeit zurück.

Die wichtigste aller Pflichten der Pharaonin jedoch war der Dienst an den Göttern. Als Herrscherin war sie zugleich die Gebieterin aller Priester, die höchste Vertreterin der Götter auf Erden – ja, mehr noch: sie war selbst von göttlicher Natur. Hatschepsut streute die Legende, dass niemand anderes als Gott Amun selbst sie gezeugt habe – nachdem er die Gestalt von Thutmosis I angenommen hatte.

Möglicherweise war es üblich, dass ein Pharao sich auf diese Weise eine göttliche Abkunft zuschrieb. Vielleicht aber hat Hatschepsut auf dieser hohen Geburt auch deshalb bestanden, weil sie als Frau auf dem Thron eine zusätzliche Legitimation liefern musste. Sie hatte ja schon Ahmose vorzuweisen, eine hochkönigliche Mutter. Der Vater sollte dann gleich Thebens Schutzgott selbst sein. Auch war da noch das Orakel des Amun, in dem ihr die Herrscherwürde prophezeit worden war ...

Im Leben der alten Ägypter war die Religion kein Bereich für sich – sie durchwirkte den Alltag mit all seinen Verrichtungen, sie war stets gegenwärtig. Die Pharaonin lebte ihr Leben quasi in Tuchfühlung mit den Göttern. An den Feiertagen zu Ehren der Götter und der Pharaonenfamilie legte Hatschepsut die männliche Tracht und den Bart an, und zollte so dem ursprünglich rein männlichen Thronanspruch Tribut.

Offenbar verstand diese Pharaonin und Gottestochter es sehr gut, sowohl das Volk als auch die Eliten, das heißt die Beamtenschaft, die Heerführer, Priester und Gelehrten derart für sich einzunehmen, dass niemand ihr die höchste Majestät streitig machte. Ihre auf Frieden, Handel und Baukunst gerichteten Regierungsziele überzeugten und machten sie zu einer beliebten Herrscherin ihrer Zeit, deren Ruhm über die Grenzen des Landes hinaus für Ägypten und sein Herrscherhaus warb.

Wichtige Unterstützung bei den Regierungstätigkeiten sowie den Bauvorhaben leistete ihr der Hauslehrer ihrer Tochter, der als Architekt weithin bekannte Senenmut. Die Forschung nimmt an, dass die langjährige Nähe zwischen Hatschepsut und ihrem engsten Berater ein Liebesverhältnis wurde. Die Deuter der Quellen glauben sogar ein Kind von Hatschepsut und Senenmut nachweisen zu können. Manche vermuten gar, Neferure sei Senenmuts Tochter gewesen. In späteren Jahren fiel der große Berater und Freund bei seiner Pharaonin in Ungnade, es kam zu keiner Versöhnung mehr. Senenmut verschwand von der Bildfläche. Die Gründe sind unbekannt.

Nun gab es aber doch einen, der mit Neid und Missgunst auf die Frau auf dem Horusthron blicken musste, und das war Thutmosis III. Der junge Mann wuchs im Königspalast auf, während seine Tante/Stiefmutter regierte. Die Priester, Lehrer und Berater, die ihn unterrichteten, erwiesen ihm die Ehrerbietung eines künftigen Pharao, und auch Hatschepsut ließ sich häufig mit ihm sehen. Nach außen hin und auch gemäß dem Protokoll und dem Erbfolgegesetz war und blieb Hatschepsut eine Regentin in Vertretung ihres Neffen/Stiefsohns. Die Tatsachen aber sahen anders aus.

Auch als Thutmosis III herangewachsen war und sich auf der Jagd und in den allfälligen Grenzscharmützeln als wahrer Heißsporn erwies, war es weiterhin seine Tante/Stiefmutter Hatschepsut, die die politischen Entscheidungen fällte: Schiffe für Handelsmissionen ausrüstete, den Bau der Grabanlagen für die Pharaonenfamilie leitete, Heerführer und Spitzenbeamte ernannte und die Scharen von Bediensteten im Palast auf das Zeremoniell um ihre Person konzentrierte. Thutmosis, obwohl längst erwachsen, blieb ohne Einfluss, eine Nebenfigur. Wir wissen nicht, was er dabei empfand, dürfen aber annehmen, dass ein tiefer Grimm in ihm kochte.

War nicht er der wahre Pharao und sie nur seine Stellvertreterin? Aber was konnte er ihrer göttlichen Abkunft entgegensetzen, er, der Sohn des zweiten Thutmosis, der ja nur einer Nebenlinie entstammte, der Sohn der im Vergleich mit Ahmose unbedeutender Nebenfrau Isis? Der Familienzwist im Pharaonenpalast ist uns nicht überliefert, aber er muss heftig gewesen sein und entschied sich für Hatschepsut – sie verließ den Thron erst nach zwanzig Jahren und neun Monaten, als sie um 1458 starb.

Es wird von einem zeremoniellen Begräbnis berichtet, in dem kein Ritus fehlte, der einer Herrscherin gebührte. Lange Zeit galt ihre Mumie als verschollen. Erst im Jahre 2007 wurde sie quasi zufällig in einem Hinterraum des ägyptischen Nationalmuseums in Kairo entdeckt. Neueste Prüfmethoden ergaben zweifelsfrei: Es ist Hatschepsut. Den Untersuchungen zufolge soll die mit knapp vierzig Jahren Verstorbene an Krebs gelitten haben. Ob sie auch daran gestorben ist oder aber ob sie gar ermordet wurde, das ist bis heute nicht klar und wohl auch nicht mehr zu klären.

Hatschepsuts Nachfolger Thutmosis III übernahm ein hervorragend von seiner Stiefmutter organisiertes Heer, eine funktionierende Verwaltung, eine Riege hochmotivierter Skulpteure und Baukünstler (die ihre Aufgabe als königliche Bildhauer und Architekten nicht nur darin sahen, die Tradition zu pflegen, sondern auch, neue Ausdrucksformen zu erproben – das hatte die "Maat Kare" von ihnen gefordert). Thutmosis III also hatte die besten Startbedingungen für seine Herrschaft, und er nutzte sie.

Aber sein Grimm? Was wir wissen, ist, dass einige Jahre nach Hatschepsuts Tod in einer beispiellosen Zerstörungswut fast alle Zeugnisse von Existenz und Wirken der Pharaonin regelrecht eliminiert wurden: aus den unzähligen Reliefs in Palästen, Tempeln und Stelen wurden Hatschepsuts Bildnisse und die Verweise auf ihre Taten gelöscht. Sie wurden sozusagen chirurgisch herausgefräst und durch Abbildungen des Thutmosis III ersetzt. Statuen von Hatschepsut wurden zerstört oder zerstückelt. Ihre Bildnisse wurden aus Obelisken und Wandschmuck in Pyramiden und an Säulen herausgekratzt. Selbst auf den in Ägypten lückenlos geführten Königslisten verschwand ihr Name: auf Thutmosis II folgte sogleich Thutmosis III. Durch Zufall sind einige Statuen erhalten geblieben. Sie ergeben einen sinnlichen Eindruck der Pharaonin, die offenbar sehr schön war. Auch ihre Mumie wurde nicht angetastet.

Die Pharaonin sollte zur Unperson herabgewürdigt, ihr Dasein und ihre Leistung in den Orkus des Vergessens gerissen werden. Wie konnte das geschehen?

Erst im 19. Jahrhundert wurde Hatschepsuts Andenken durch die moderne Archäologie, in der England führend war, wieder hergestellt – die Bilderstürmer im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung hatten also ganze Arbeit geleistet. Doch für immer hatten sie die Pharaonin nicht aus der Geschichte katapultieren können. Wir wissen dreieinhalb Jahrtausende nach Hatschepsut von ihr und stellen ihr Andenken wieder her. Und wir fragen uns: Wer wollte warum einst die Erinnerung an sie auslöschen, die Geschichte so umschreiben, als habe Hatschepsut nie existiert?

Die Forschung stieß sogleich auf den Grimm des Thutmosis. Bloß hat es damit eine Schwierigkeit: Die geschilderte Zerstörungsorgie fand erst viele Jahre nach Hatschepsuts Tod statt, als der neue Pharao bereits fest und sicher auf dem Thron saß. Wäre es um eine Tat im Affekt gegangen, hätte sie keinen Aufschub vertragen.

Oder war Hatschepsuts Vernichtung von langer Hand geplant, musste jedoch mit Umsicht in die Tat umgesetzt werden, um ihre Anhänger und Gönner nicht zu verärgern? Man wird das Geheimnis nie ganz lüften. Man kommt aber einer Erklärung näher, wenn man an die Bedeutung des religiösen Lebens im alten Ägypten denkt. Die Götter waren keine Inbegriffe oder Prinzipien – sie wurden als wirkende, wirkliche Wesenheiten gedacht. Sie gekränkt zu haben, galt als größte Sünde – völliges Verderben, unter Umständen für das ganze Land, war die Strafe.

So ist es vorstellbar, dass Thutmosis eine Kommission aus hohen Priestern einsetzte, die im Verein mit den Verwaltern der Königslisten darüber nachsinnen sollte, wie man wieder Ordnung in die Erbfolge bringen und einen weiblichen Thronanspruch künftig ausschließen könnte. Zwar war Neferure schon vor ihrer Mutter gestorben – aber wer weiß, vielleicht gab es wirklich jene sagenhafte Tochter von Hatschepsut und Senenmut, die womöglich von einflussreichen Gruppen im Palast gefördert wurde. Bei ihrem Versuch, die Erbfolge rückwirkend rein männlich zu gestalten, musste eine solche Kommission sehr vorsichtig sein, um den Gott Amun sowie den Sonnengott und die übrige Verwandtschaft Hatschepsuts nicht zu brüskieren – man überstürzte also nichts.

Vielleicht gab es auch zwei Parteien bei Hofe, eine pro, eine contra Hatschepsut. Vielleicht musste die Contrapartei, geführt vom Pharao selbst, warten, bis das Haupt der Propartei, ein weiser Priester, der Hatschepsut einst persönlich in ihre religiösen Pflichten eingeführt hatte, vom Totengott Osiris abberufen worden war, bevor Hatschepsut ausradiert werden konnte.

Die Pharaonin Hatschepsut, die bedeutendste Herrscherin in der Antike, wurde jedenfalls nicht zufällig im 19. Jahrhundert, in der Epoche der Historischen Frauenbewegung, wiederentdeckt. So wie einst der patriarchale Furor ihre Person und Bedeutung ausgelöscht hat, so grub nun eine emanzipatorisch inspirierte Archäologie Hatschepsut wieder aus.

Zum Weiterlesen:
Marianne Schnittger: Hatschepsut (2008)
Christiane Desroches Noblecourt: Hatschepsut (2007)
Joyce Tyldesley: Hatschepsut (2001)
EMMA-Serie: Herrscherinnen

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