Jenny Milkereit, echter Schutzengel

© Bettina Flitner
Artikel teilen

Jenny Milkereit ist deutsche Meisterin. Im Cheerleading. Wer dabei an kreischende Mädchen mit wedelnden Pompons denkt, liegt falsch. Bei Jennys Cheerleading auf Wettkampfebene gibt es zwei Positionen: Die Mädchen, die geworfen werden, und die Mädchen, die werfen – und wieder auffangen. Die 16-jährige Jenny ist groß und stark und deshalb wirft sie und fängt auf.

Anzeige

Am Nachmittag des 20. Septembers hat Jenny aus dem 700-Seelen-Dorf Weidach, inmitten von grünen Wiesen und unweit der Schwäbischen Alb, etwas Bemerkenswertes getan: Sie hat eine rumänische Zwangsprostituierte aufgefangen, mehr noch: gerettet. Wenige Wochen später sitzt in der EMMA-Redaktion eine ­besonnene Teenagerin, daneben ihre Mutter Birgit. So eine Aktion, sagt die Mutter in einem Ton zwischen Stolz und Sorge, sei einfach „typisch Jenny“. Die Jenny, die hat sich schon in der Realschule immer für alle eingesetzt.

Ich würde es sofort wieder tun, sagt Jenny.

Typisch Jenny: Wie an jedem Samstag fährt sie nachmittags mit dem Bus nach Neu-Ulm zum Cheerleader-Training in der Turnhalle. Von der Bushaltestelle sind es noch ein paar Meter zu laufen. Da bemerkt sie auf der Straße das streitende Paar. Die Frau reißt sich los und rennt weg. Der Mann sprintet hinterher, packt sie brutal am Arm und schreit weiter. Da stimmt was nicht, denkt Jenny. Ein Ehestreit? Sie geht auf die beiden zu. Als Einzige – alle anderen PassantInnen gehen einfach weiter. „Was ist hier los?“ fragt Jenny betont ruhig. Und dann in Richtung Frau: „Brauchen Sie Hilfe?“ Die Frau starrt sie nur ängstlich an und schweigt. Der Mann erklärt barsch, dass weder er noch sie Deutsch sprechen. „Go away!“, herrscht er Jenny an. Aber die lässt sich nicht einschüchtern. Sie redet auf Englisch weiter: „Ich bleibe. Die Frau braucht Hilfe!“. Und dann wendet sie sich direkt an die Frau: „Do you need help?“ Jetzt reißt die Frau sich los.

Zufällig steigen in dem Moment drei junge Männer direkt neben Jenny und dem Paar aus ihrem Auto. Jenny wittert ihre Chance: Sie greift die Frau am Arm und zieht sie weg. Der Mann bleibt zögernd zurück. Jenny und die Frau eilen zur nahegelegenen Turnhalle. Die Frau spricht fließend Englisch und erzählt hastig: Sie ist 26 Jahre alt und aus Rumänien. Der Mann, auch ein Rumäne, seit drei Jahren ihr Freund. Vor drei Wochen hat er sie nach Deutschland geholt und behauptet, sie könne hier leicht Arbeit finden und Geld verdienen für den gemeinsamen zweijährigen Sohn in Rumänien. Stattdessen aber hat er sie zur Prostitution gezwungen. In einem Bordell bei Leipzig und online. Jetzt wollte der Mann sie in ein Bordell nach Ulm schleppen. Jenny schluckt. Sie hatte sich tatsächlich mit einem Zuhälter angelegt.

Kurz bevor die beiden die Turnhalle erreichen, holt der Mann sie ein. Jenny, die im zarten Alter von zehn einen Karatekurs gemacht hat, baut sich zwischen der Frau und dem Mann auf. „Ich rufe die Polizei“, sagt sie, packt die Frau am Arm und zerrt sie in die Turnhalle. Da warten die anderen Cheerleaderinnen auf sie. Der Mann brüllt Drohungen auf Rumänisch hinterher. Aber die beiden sind erst mal in Sicherheit.

Rückblickend sagt Jenny: „Im Nachhinein ist es für mich viel krasser, als es in dem Moment selbst war!“. Nun war das mutige Mädchen Jenny in aller Munde: FreundInnen und Verwandte gratulierten ihr. Die Polizei in Neu-Ulm verlieh ihr einen Preis für ihren Mut, denn sie hat nicht „weggeschaut, ignoriert, gekniffen“. Die Lokalpresse berichtete über Jennys „Riesenportion Mut“ und ihren „Gerechtigkeitswillen“. Jenny sagt nur: „Ich finde das, was ich getan habe, selbstverständlich“.

Den Mut, bestätigt die Mutter, hat die Jenny vom Opa.

Aber manchmal bekommt sie doch Schiss vor der eigenen Courage. Besonders, als die Medien über die Studentin Tuğçe ­berichteten, die ja auch Mut bewiesen hatte, indem sie zwei ­bedrohte Mädchen verteidigte. Tuğçe hat dafür mit ihrem Leben bezahlt. Jenny hatte Glück. Und es war ja auch am hellen Tag, nicht nachts auf einem Parkplatz, wie bei Tuğçe.

Ihren Mut, das bestätigt auch Mutter Birgit, hat die Jenny vom Opa: „Der mischt sich auch immer ein!“ Einmal ist in Ulm ein Betrunkener in die Donau gesprungen. Der Opa gleich hinterher, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Was Großvater und Enkelin auch gemeinsam haben, ist der Hunger auf Neues: Der Opa hat eine „künstlerische Ader“ und viele Jobs in seinem Leben gehabt. Jenny hat die Ausbildung zur Konditorin gerade abgebrochen. Jetzt macht sie „erst mal ein soziales Jahr in einem Behindertenwohnheim“. Mal in Afrika arbeiten, das könnte sie sich auch vorstellen. Wir EMMAs geben Jenny den Tipp: „Werd doch Polizistin!“ Denn von Jenny würden wir uns gut beschützt fühlen.

Rückhalt bekommt das Mädchen von ihrer Familie. Die wohnen alle dicht beieinander: so wie die Mama, die sich um alle kümmert und als Hausfrau (und ausgebildete medizinisch-technische Assistentin) gelegentlich Geld mit Kurierdiensten dazuverdient; der Papa, der bei einem Verlag in der EDV sitzt; und der Bruder, der eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker macht. An die Frau auf der Straße denkt Jenny oft. „Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas hier bei uns gibt“, sagt sie. Der Mann sitzt jetzt im Gefängnis. Nachdem die Polizei an jenem Samstag Jenny und die Rumänin verhört hatte, wurde bundesweit nach ihm gefahndet, in Köln wurde der 25-Jährige festgenommen. Die Frau ist wieder in Rumänien und in Sicherheit. Und Jenny sitzt aufrecht in der EMMA-Redaktion und sagt: „Ich würde es sofort wieder tun!“

Mehr zum Thema
Das Aktionsbündnis „Stop Sexkauf“, zu dem auch EMMA gehört, fordert die Kanzlerin und die MinisterInnen Schwesig und Maas via Petition zum Handeln auf. Denn der vorliegende Gesetzentwurf zur Prostitutionsreform ist quasi wirkungslos. Würde er verabschiedet, bliebe Deutschland ein Eldorado für Zuhälter und Frauenhändler. Jetzt unterzeichnen! 

Artikel teilen

Der Kampf um ihre Ehre

Inge Schafhäuser hat mit Löwinnenmut für ihre Ehre gekämpft. - Fotos: Bettina Flitner
Artikel teilen

Plötzlich steht er in der Tür. Ein Mann im Anorak. Groß, mindestens eins achtzig. Es ist Sonntagnachmittag, das dreistöckige Gebäude ausgestorben, heute arbeitet hier niemand. Niemand außer Inge Schafhäuser, die im mittleren Stockwerk gerade den Staub vom Schreibtisch der Chefsekretärin wischen will. Und da steht er. Die Etage ist komplett mit Teppich ausgelegt, die Putzfrau hat ihn nicht kommen hören. Sie erschreckt sich zu Tode, als sie aufblickt und den Fremden in der Tür sieht. Er sagt: „Haben Sie Lust auf eine Runde Sex?“

Anzeige

„Wenn mir das einer auf der Straße gesagt hätte, hätt ich gedacht: Was für ein Spinner!“ Aber Frau Schafhäuser ist gerade nicht auf einer belebten Straße, sondern in einem verwaisten Bürogebäude. Allein mit einem unbekannten Mann. Sie hat Angst. „Nein“, sagt sie mit zittriger Stimme und klopfendem Herzen. Was wird jetzt passieren? Der Mann dreht sich um und geht. Nach ein paar Sekunden schleicht Inge Schafhäuser zur Tür und schaut vorsichtig um die Ecke. Der Mann am Ende des Ganges blickt sich noch einmal um, zuckt mit den Schultern und sagt: „Kein Bedarf? Schade, dann eben nicht!“ Sie sieht am Bürofenster, wie der Mann in sein Auto steigt und wegfährt.

Der fremde Mann: Haben Sie Lust auf eine Runde Sex?

Sie schreibt das Kennzeichen auf. Und hat immer noch Angst. Über ein Jahr ist das jetzt her, aber Inge Schafhäuser ist immer noch aufgeregt, als sie uns ihre Geschichte erzählt. Sie hat sich Stichworte auf kleine Zettel geschrieben, „damit ich nichts vergesse“. Sie hat auf dem skandinavischen Holztisch auch die Papiere bereitgelegt, es ist ein beachtlicher Stapel: die Korrespondenz der Anwälte, der Antrag auf Prozesskostenhilfe, die Gerichtsakten.

Aber während der nächsten zwei Stunden, in denen Inge Schafhäuser berichtet, muss sie kein einziges Mal auf ihre Notizen oder in den Stapel schauen. Sie hat nichts von dem, was im vergangenen Jahr passiert ist, vergessen. Auch, wie es an jenem 13. November 2011 weiterging, weiß sie noch bis ins kleinste Detail.

„Ich hab mich nicht von der Fensterscheibe weggetraut, weil ich dachte: Vielleicht kommt der ja doch wieder!“ Sie ruft von ihrem Handy aus zuerst ihren Mann und dann ihren Sohn an. Der kommt mit dem Fahrrad und wartet zwei Stunden lang, bis seine Mutter den Cheftrakt fertig geputzt hat. Inge Schafhäuser ist eine pflichtbewusste Frau. Eine, die weiß, was sich gehört. Von der Katastrophe, die in den nächsten Monaten über sie hereinbrechen wird, ahnt sie noch nichts: Die Anzeige, die Rechtsanwälte, die schlaflosen Nächte. Der quälende Prozess, die ignorante Richterin, das unfassbare Urteil. Die schlimmen Schulden, der schimpfende Sohn, der stumme Mann.

Die Richterin: Das ist auf Mallorca eine normale Begrüßung

Am allerwenigsten ahnt Inge Schafhäuser an diesem 13. November 2011 aber, dass sie am Ende dieser zermürbenden Monate einen Sieg errungen haben wird. Weil sie mit Löwinnenmut gegen ein Urteil gekämpft hat, das, wäre es rechtskräftig geworden, ein Desaster für alle Frauen (und, der Vollständigkeit halber: einige Männer) gewesen wäre, die etwas eigentlich Selbstverständliches tun: sich bei ihrem Arbeitgeber gegen eine sexuelle Belästigung zur Wehr setzen.

Aber der Reihe nach. „Hallo, ich schreibe Ihnen aus Sorge um meine Schwester, die in einer verzweifelten Lage ist“, lautete der erste Satz in der E-Mail von Helga Bauder, die im Mai 2012 unter redaktion@emma.de ankam. Sie endete mit den Worten: „Ich möchte meiner Schwester gern zu ihrem Recht (und ihrer Ehre) verhelfen. Und damit auch auf die Situation der belästigten Frauen aufmerksam machen. Darum wende ich mich an Sie.“ Wir nahmen sofort Kontakt auf. Aber noch lief das Verfahren.

Jetzt, wo Inge Schafhäuser gesiegt hat, konnten wir sie in ihrer kleinen Mietwohnung in dem ergrauten Häuschen am Stadtrand von Hannover besuchen. „Da sind Sie ja endlich!“ sagt sie. Und erzählt, eingekreist von der nahezu alle Wände bedeckenden Bierkrug-Sammlung ihres Mannes, von den schrecklichen Monaten, in denen sie manchmal „keine Lust mehr hatte, aufzustehen“.

Als sie am Abend des 13. November 2011 endlich wieder zu Hause ist, überlegt sie, was zu tun ist. „Soll ich den zusammenschlagen?“ fragt ihr Mann. Das hilft jetzt auch nicht wirklich weiter. Sie beschließt: Erstmal nichts tun. Denn die Chefin der Putzfirma geht sehr früh ins Bett, weil sie mitten in der Nacht raus muss. Das weiß Inge Schafhäuser und will die Chefin nicht stören.

Am nächsten Morgen geht sie zur Arbeit zu ihrer zweiten Stelle: als Bürokraft in einer Physiotherapie-Praxis. Das Putzen war vor ein paar Jahren dazugekommen, weil die Praxis-Chefin wegen eines Engpasses ihre Stunden von 35 auf 25 reduzieren musste. Da wurde das Geld knapp. Die Rente von Ehemann Helmut, einem Straßenbauer, ist nicht die höchste.

Der Anwalt: Die will sich doch nur wichtig machen

Seither putzte die 53-jährige gelernte Arzthelferin zweimal die Woche die Büros der Speditionsfirma. Für 6,50 Euro die Stunde. Und weil sie jeden Euro gebrauchen können, nahm sie schließlich auch noch die tägliche, halbstündige Toilettenreinigung dazu. Nach der Praxis fährt Inge Schafhäuser, die keinen Führerschein hat, also jeden Abend eine halbe Stunde mit dem Fahrrad zum Bürogebäude. Für 3,25 Euro. „Nach Hause ist es ja dann näher, da brauche ich nur eine Viertelstunde“, sagt sie.

Nachdem Inge Schafhäuser ihr den Vorfall vom Vortag geschildert hat, erklärt die Chefin der Physiotherapie-Praxis: „Da kannst du nicht wieder hin!“ Also ruft Inge Schafhäuser die Chefin der Putzfirma an und erzählt, was passiert ist. Die ist ebenfalls empört und versichert: „Ich spreche mit dem Chef.“ Das findet die Belästigte gut und gibt das notierte Autokennzeichen durch.

Aus ihrer Sicht könnte die Angelegenheit jetzt unkompliziert gelöst werden. „Ich wollte das nur weghaben, damit ich wieder in Ruhe putzen kann, ohne Angst. Ich hatte mir vorgestellt, dass der Chef den zu sich reinruft und sagt: ‚Jetzt holen Sie der Frau Schafhäuser mal einen Strauß Blumen und entschuldigen Sie sich!‘“.

Aber mit der Ruhe ist es ab jetzt vorbei. Denn als Inge Schafhäuser am Nachmittag in die Firma kommt, erwartet sie kein Blumenstrauß, sondern ein Schock. „Der geht gegen Sie vor!“ sagt ihr Chef. Der Mann, der sie belästigt hatte, arbeitet im dritten Stock, in einer Logistik-Firma. Was die Sache umso beklemmender macht – er hatte in der zweiten Etage überhaupt nichts zu suchen. Er stand also nicht zufällig in der Tür, hinter der Inge Schafhäuser putzte.

Und jetzt geht er „gegen Sie vor“. Am 9. Dezember 2011 geht bei der Staatsanwaltschaft Hannover eine Strafanzeige gegen Inge Schafhäuser ein: wegen „Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung“. Der Mann behauptet, dass Inge Schafhäuser lügt. Er gibt zwar zu, an dem fraglichen Sonntag im Gebäude gewesen zu sein. Und er erklärt auch, dass er der Putzfrau kurz begegnet sei, unten im Haupteingang. Der Rest sei frei erfunden.

Inge Schafhäuser soll 4.000 Euro Prozesskosten zahlen

Nur: Warum hätte Inge Schafhäuser einen solchen Vorwurf erfinden sollen? Sie kannte den Mann aus dem dritten Stock, nennen wir ihn Michael Meier, überhaupt nicht. Die üblichen Verdächtigungen, die Frauen in solchen Fällen gern unterstellt werden, entfallen also: Konkurrenz, Eifersucht, Rache und so weiter.

Aber Meiers Rechtsanwalt fällt trotzdem etwas ein: Bei seinem Mandanten handle es sich um einen „attraktiven jungen Mann“. Inge Schafhäuser dagegen sei „ungefähr 45 Jahre alt und zumindest nicht so attraktiv, dass sich junge Männer im besonderen Umfang von ihr (sexuell) angezogen fühlen müssten. Vor diesem Hintergrund liegt die Spekulation nahe, dass sich die Klägerin vor ihrem Ehemann interessant machen wollte und die Geschichte erfunden hat, dass ein junger Mann sie nach Sex gefragt habe.“ Wie bitte?

Michael Meier hingegen hat gute Gründe für seine Version der Geschichte: Innerhalb weniger Stunden wusste der ganze Betrieb Bescheid. Die Sache wurde nämlich keineswegs so diskret unter sechs Augen geregelt, wie Inge Schafhäuser sich das gewünscht hatte. Und Michael Meier hat eine Frau und zwei kleine Kinder. Auch sie hätte früher oder später von der Sache erfahren. Aber später, im Prozess, wird all das der Richterin egal sein. Jetzt ist also das Opfer Inge Schafhäuser die Täterin.

Was nun folgt, ist ein Alptraum, der sie an den Rand ihrer Kräfte bringt. Zum Beispiel als die Polizei, die sie zweimal aufsucht, um nun ihrerseits Anzeige zu erstatten wegen sexueller Belästigung, erklärt: Ein Angebot zum Sex, das sei doch, haha, keine Straftat.

Trotz alledem putzt sie weiter im zweiten Stock. Obwohl sie schon am Tag nach dem Vorfall Panik und Atemnot bekommt, als sie ins Gebäude geht. „Ich musste doch meine Angst wegputzen“, sagt Inge Schafhäuser. „Ich hätte sonst mein Leben lang Angst gehabt.“ Außerdem braucht sie das Geld. Also steigt sie, wie ein gestürzter Reiter, sofort wieder aufs Pferd. Wenn auch von jetzt an immer mit Pfefferspray.

Nach dem Vorfall putzt sie nur noch mit Pfefferspray

Das Unglaublichste aber ist der Prozess. Er findet im März 2012 statt und endet, um es gleich vorwegzunehmen, mit einem, gelinde gesagt, erstaunlichen Urteil. Es lautet sinngemäß: Inge Schafhäuser hätte die Belästigung durch Michael Meier ihrer Arbeitgeberin nicht mitteilen dürfen.

In der Zwischenzeit hatten sich die Anwälte beider Parteien mit Briefen bombardiert. Es gibt eine Klage von Inge Schafhäuser, die weiterhin sagen dürfen möchte, was passiert ist. Dagegen klagt Michael Meier auf Unterlassung. Seine Strafanzeige wegen Verleumdung ist ein gesondertes Verfahren.

Die Richterin, berichtet Inge Schafhäuser, habe die Verhandlung im Landgericht Hannover mit den Worten eröffnet: „Glauben Sie ja nicht, dass ich auf Ihrer Seite bin, nur weil ich eine Frau bin!“ Dann erklärt sie: Der Satz „Haben Sie Lust auf eine Runde Sex?“ sei auf Mallorca „eine ganz normale Begrüßung“. Inge Schafhäuser, die noch nie ein Gericht von innen gesehen und bis dato großen Respekt vor der deutschen Justiz hatte, ist fassungslos. „Ich war in dem Gebäude eingeschlossen und die fängt mit Mallorca an!“ Der junge Gerichtsreferendar scheint die Sache ebenfalls nicht besonders ernst zu nehmen. „Der grinste die ganze Zeit und hat Grimassen gezogen.“

Schafhäuser muss noch einmal detailgenau erzählen, was sie schon mehrfach zu Protokoll gegeben hatte. Die Begegnung an der Haustür, das Büro im zweiten Stock, der Mann in der Tür. Was genau hat er gesagt? Was passierte dann? Die Putzfrau erzählt. Michael Meier muss nur eine Frage beantworten. „Haben Sie Frau Schafhäuser nach Ihrer Begegnung am Haupteingang noch einmal gesehen?“ Er sagt: „Nein.“

Die Richterin kommt zu dem Schluss, dass beide Parteien „glaubwürdig wirken“. Und weil sie das findet, beschließt sie: Inge Schafhäuser darf ihre Anschuldigung nicht weiter behaupten. Mehr noch: Sie hätte das auch nie tun dürfen. Denn: „Sie hat nicht den Beweis für die Wahrheit oder Richtigkeit der von ihr aufgestellten Behauptung erbringen können.“ Da diese Behauptung aber „geeignet ist, den Beklagten verächtlich zu machen“, habe sein Interesse Vorrang. „Ein schutzwürdiges Interesse für die nicht erweislich wahre ehrenrührige Tatsache besteht hier nicht.“ Im Klartext heißt das: Da sexuelle Belästigungen in aller Regel ohne Zeugen stattfinden und das Opfer die Belästigung nicht beweisen kann, verbietet dieses Urteil es de facto allen belästigten Frauen, sich hilfesuchend an ihre Vorgesetzten zu wenden.

Als Inge Schafhäuser mit dem niederschmetternden Urteil aus dem Gericht nach Hause kommt, trinkt sie ein Glas Rotwein. Dann setzt sie sich auf ihr Fahrrad und fährt Putzen. Sie ist am Boden zerstört. Nicht nur, dass sie jetzt als Lügnerin dasteht. Dazu kommt: Sie hat das Verfahren verloren und muss nun die gesamten Kosten tragen – rund 4 000 Euro. Die hat sie nicht. „Ich habe mir das Geld geliehen“, sagt sie leise. Von wem, sagt sie nicht, nur, dass sie heute immer noch daran abzahlt.

Der Richter: Die Belästigte darf den Namen des Täters nennen

Ihrem Mann hat sie nichts von dem Geld erzählt. Er fragt auch nichts, als sie aus dem Gericht nach Hause kommt. Ihr Mann fragt schon lange nicht mehr, auch nicht, wenn seine Frau sich in der Nacht stundenlang schlaflos hin- und herwälzt. „Irgendwann hab ich dann auch nichts mehr erzählt. Ich dachte, er regt sich sowieso nur auf. Und so hast du wenigstens zu Hause deine Ruhe.“ Ihre Stütze ist ihre Chefin in der Praxis. Die will immer besorgt wissen: „Wie hast du geschlafen?“ Sie hatte Inge Schafhäuser auch zum Prozess begleitet. Inge Schafhäusers Rechtsanwalt Ralf Möbius will das skandalöse Urteil nicht auf sich beruhen lassen. Er schlägt seiner Mandantin vor, in Berufung zu gehen. Doch die ist entmutigt und am Ende ihrer Kräfte.

Aber es brodelt in ihr. Fast einen Monat lang. Dann ist es so weit. „Dann hab ich mir gesagt: So kann es nicht bleiben. Ich hab nichts getan!“ Im Juni wählt Inge Schafhäuser die Nummer ihres Anwalts und fragt: „Wie sieht’s aus mit der Berufung?“ Der antwortet: „Ich zähle immer noch auf uns!“

Am 18. Juni 2012 beschließt das Oberlandesgericht Celle unter dem Vorsitz von Richter Thomas Knoke: Inge Schafhäuser darf sich „gegen eine solche sexuelle Belästigung (...) nicht nur wehren, sondern durch Namhaftmachung der jeweiligen Person auf einen solchen Vorfall auch aufmerksam machen.“ Zwar ist das noch kein richtiges Urteil, sondern ein so genannter „Hinweisbeschluss“. Gerichte können, um überflüssige Verhandlungen zu vermeiden, vorab verkünden, wie sie im Falle eines Prozesses höchstwahrscheinlich entscheiden würden. Am 11. Juli zieht Michael Meier seine Klage zurück. Inge Schafhäuser hat – für sich und viele andere Frauen – gesiegt! Quasi.

Aber sie ist, wie gesagt, eine Frau, die weiß, was sich gehört. Und sie findet, dass ein „Hinweisbeschluss“ nicht dasselbe ist wie ein Urteil. Also will Inge Schafhäuser ihr Recht, das heißt: ihren Prozess. Sie schreibt an ihren Rechtsanwalt: „Für mich persönlich wäre es eine schallende Ohrfeige, wenn nun kein Urteil eines höheren Gerichts gesprochen würde und sich Herr Meier einfach mit zwei Sätzen seines Anwalts aus der Affäre ziehen könnte. Nach über einem Jahr Dauerstress brauche ich für mich und meine Familie die Genugtuung eines Urteils, das für mich ausgeht und das ich Bekannten und Freunden schwarz auf weiß zeigen kann.“

Auf dieses Urteil wartet Inge Schafhäuser jetzt. „Ich bin sicher, dass es gut ausgeht. So ein Urteil wie das erste kann doch nicht nochmal jemand sprechen.“

Beim Abschied hat Inge Schafhäuser, die vor Aufregung ganz vergessen hatte, uns die extra gekauften Kekse anzubieten, noch einen Wunsch: „Könnten Sie vielleicht den Namen meiner Chefin reinschreiben? Die hat mich so unterstützt, ohne sie hätte ich das gar nicht durchgehalten.“ Gern. Die Frau heißt Maike Puls.

Die Kekse gibt Inge Schafhäuser uns mit auf den Weg. Sie hat eine halbe Stunde dafür geputzt.

PS Im Juli 2013 spricht das Oberlandesgericht Celle sein Urteil und bestätigt darin den "Heinweisbeschluss". Inge Schafhäuser hat endgültig gewonnen - für sich und alle Frauen, die sich gegen sexuelle Belästigung wehren.

Weiterlesen
 
Zur Startseite