Jens Jessen und das Phantom

Bedrohter Mann? Jens Jessen hier als Laudator beim Börne-Preis. CC BY-SA 3.0
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Kommen wir zum Theken-Talk des vergangenen Wochenendes: Der Jens Jessen beklagt in der Zeit anlässlich der #MeToo-Debatte den "ideologischen Triumph eines totalitären Feminismus". Echt jetzt?! Ja, Titelgeschichte, zwei ganze Zeit-Seiten. Sprich: Sehr wichtiges Thema! Prost!

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Werden Männer wirklich in "Kollektivhaft" genommen?

Beginnen wir gleich mit etwas vielleicht Unerwartetem: Ich kann Jens Jessen verstehen. Sehr gut sogar. Zumindest in einigen Punkten. Denn ich kenne diese totalitäre Seite des so genannten "neuen" Feminismus leider auch. Ich arbeite bei einem feministischen Magazin, das selbst immer wieder Ziel dieser "offen zur Schau getragenen Feindseligkeit" (Jessen) wird. Und ich kenne tatsächlich auch mehrere Menschen, die an "bolschewistische Schauprozesse" (Jessen) erinnernde, öffentliche Attacken erlebten. Durchgeführt von einer "recht überschaubaren Szene" (Jessen) im derzeit anscheinend schwer angesagten Feminismus. Und die im Zuge solcher Diffamierungen Reputation, Netzwerke, Projekt verloren haben.

Diese vom Feminismus geschassten Menschen haben alle etwas gemein: Sie sind Frauen. In Jens Jessens Beitrag in der aktellen Zeit geht es aber nicht um Frauen. Es geht um Männer, mal wieder. Um "bedrohte" Männer. Männer unter "Generalverdacht". Und damit auch gleich um nichts Geringeres als die Aufkündigung der "Conditio humana", die "allen Menschen ein gleiches Maß an Menschlichkeit zumisst". Das Ende der "kostbarsten Errungenschaft des abendländischen Rationalismus, welcher Gleichheit und Menschenrechte auf die allgemeine Akzeptanz von Vernunft und Logik gründete". Wow.

Diese "totalitären" Feministinnen, schreibt Jessen, der zu der Sorte „älterer weißer Mann“ gehört, nehmen die Männer nämlich im Zuge der #MeToo-Debatte in "Kollektivhaftung". Stellen also jeden an den Pranger. Auch die, die eigentlich gerne an der Seite der Frauen stünden - aber durch den Ton der Debatte zu "eingeschüchtert" sind. Zu diesen "schüchternen Intellektuellen" zählt Jessen sich scheinbar selbst. Und zum "verfluchten Geschlecht". Denn: "Für die neuen Feministinnen gibt es keine schuldlosen Männer, auch wenn eingeräumt wird, dass nicht alle 'sexualisierte Gewalt' auch praktisch ausüben." Männer können es heute nur falsch machen, resigniert Jessen. Und schuld daran sind die verhetzten Feministinnen, die eine "Grenze überschritten haben, die den Bezirk der Menschlichkeit von der offenen Barbarei trennte".

Und wie "objektiv" sind
Vergewaltigungs-Prozesse?

Bisher fiel der belesene Autor ja meist eher durch einen gelassenen Ton auf, sogar im Umgang mit dem Feminismus. Nun aber: Apokalypse und Nazi-Vergleiche ("feministischer Volkssturm")! Sogar das abgegriffenste Klischee in der Geschichte des Patriarchats wird (zumindest zwischen den Zeilen) aus der verstaubten Ecke gezerrt: die hysterische Frau. Da möchte man ja fast zum Hörer greifen und fragen: Was ist denn nur los, Herr Kollege? Warum so hysterisch?

Das ist los: Jens Jessen fürchtet sich vor einem Phantom. Damit ist er unter Männern derzeit mit Sicherheit nicht alleine. Das Phantom trägt ein T-Shirt auf dem steht: #MeToo. Denn der Unmut der Frauen raunt seit Wochen allerorten, und das frecherweise auch noch in Gefilden, in denen bislang doch eigentlich Männer wie Jens Jessen das Sagen hatten: den links-liberalen Feuilletons und politischen Magazinen dieses Landes, in der Zeit, beim Stern oder beim Spiegel. Da machen sie sich schon ordentlich breit, diese marodierenden Emanzen. Was soll da als nächstes kommen?!

Doch Fakt ist: In Deutschland stehen bislang kaum Männer am Pranger. Der ewige Brüderle, den Jessen als Beweis heranzieht, ändert daran nichts. Der ebenso erwähnte und in der Tat sehr zu Unrecht gescholtene Medizin-Nobelpreisträger Tim Hunt lebt in England. Und dass das Gedicht "Avenidas" an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule überpinselt werden soll, findet eine EMMA zum Beispiel schockierend.

Es werden hierzulande auch keine Männer im großen Stil in "Kollektivhaftung" genommen. Es werden - anders als in Hollywood – keine Namen genannt, bis auf Dieter Wedel, und auch keine Posten geräumt. Und es werden auch von berühmten Frauen keine Millionen Dollar in Opfer-Fonds gesteckt, die es den weniger berühmten, den weniger reichen, den weniger mächtigen Frauen dieser Welt ermöglichen sollen, einen Prozess gegen ihren Vergewaltiger zu finanzieren.

Marodierende Emanzen im
Feuilleton - was kommt als nächstes?

Jens Jessen beschwört ein angeblich "objektives" und der "allgemeinen Vernunft zugängliches" Verfahren der Prüfung solcher Anklagen, das bislang ganz prima funktioniert haben soll. Nun aber wird dieser paradiesische Rechtsstaat durch eine gar zügellose Selbstjustiz der Frauen in Sozialen Medien gefährdet.

Doch die Verfahren, in denen vor Gerichten über sexuelle Gewalt geurteilt wird, sind in der Regel alles andere als „objektiv“ und „vernünftig“. Es sind Verfahren, in denen die Opfer meist nur verlieren können. Gerade in Deutschland wird zudem so gut wie jeder Vergewaltigungsprozess von dem stets gleichen Sound in den Medien orchestriert: Unschuldsvermutung. Vorverurteilung. Sie wollte es doch auch. Sie war auf Droge. Sie wollte sich rächen. Falschbeschuldigerin.

Kommt Ihnen bekannt vor, lieber Jens Jessen? Klar!

Alexandra Eul

 

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And the Oscar goes to... #MeToo?

Stars und Aktivistinnen auf den diesjährigen Golden Globes. Foto: Axelle/Bauer-Griffin/FilmMagic/Getty Images.
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So tun, als sei nichts gewesen, kann auf jeden Fall keine und keiner. Und es ist auch sehr unwahrscheinlich, denn Hollywoods Frauen sind in Aufruhr. Und nicht nur die. „A tectonic shift“ hatte Frances McDormand in ihrer Dankesrede für den Golden Globe als beste Hauptdarstellerin das genannt, was gerade in den USA passiert. Eine tektonische Verschiebung, das ist ­etwas wirklich Gewaltiges: Ganze Kontinentalplatten bewegen sich, die Erdkruste platzt auf, oft gibt es gleichzeitig ein Erdbeben. Es bleibt, im wahrsten Sinne des Wortes, kein Stein auf dem anderen.

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Hollywood erlebt eine tektonische Verschiebung

Tatsächlich brodelt es seit #MeToo so gewaltig, dass in den Erdspalten schon reihenweise mächtige Männer versunken sind: Filmboss Harvey Weinstein und Oscar-­Preisträger Kevin Spacey, Amazon-Studiochef Roy Price und Uber-CEO Travis ­Kalanick, die Fox-News-Flaggschiffe Roger Ailes und Bill O’Reilly, die Modefotografen Bruce Weber und Mario Testino. Sie alle mussten gehen, weil die Zeit, in der sexuelle Erpressung und Gewalt als Kava­liersdelikt galten, vorbei ist. In Deutschland rutscht gerade Dieter Wedel in diese Spalte.

So haben 300 Frauen aus der Filmindustrie ihre Kampagne genannt, die sie am 1. Januar 2018 lancierten. Die Liste der Schauspielerinnen, die das „Time’s Up“-Manifest unterzeichnet haben, ist lang und prominent: von Charlize ­Theron bis Emma Thompson, von Halle Berry bis Julianne Moore, von Reese ­Witherspoon bis Meryl Streep. Als eine Woche nach dem Kampagnen-Start die Golden Globes verliehen wurden, trugen viele Schauspielerinnen zu ihren fast ausnahmslos schwarzen Kleidern den Sticker mit dem schwarz-weißen „Time’s up“-­Logo am Revers, und auch so mancher Schauspieler. Fast alle Frauen, die an diesem Abend mit einer Trophäe ausgezeichnet wurden, nutzten die Chance, um ­etwas zum Thema Sexismus zu sagen.

Nicole Kidman, die für ihre Rolle in „Big Little Lies“ prämiert wurde – einer Serie über eine geschlagene Frau – erklärte: „In der Rolle, die ich spiele, geht es um ­genau die Debatte, die wir gerade führen: Missbrauch.“ Sodann bedankte sie sich bei ihrer Mutter Janelle: „Sie war eine Aktivistin der Frauenbewegung und wegen ihr stehe ich heute hier. Danke für alles, ­wofür du so hart gekämpft hast!“

Natalie Portman, die die Nominierten für die beste Regie vorstellte, bemerkte mokant, dass diese mal wieder „alle männlich“ seien. Und dann kam Oprah. Ihre fulminante Rede riss das Publikum gleich mehrfach zu Standing Ovations von den Stühlen, die eine oder andere Schauspielerin kämpfte mit den Tränen. Meryl Streep war ebenso gerührt wie Emma Stone oder Sally Hawkins. „Viel zu lange wurde Frauen nicht zugehört oder man hat ihnen nicht geglaubt, wenn sie es wagten, die Wahrheit über jene mächtigen Männer zu sagen“, erklärte Oprah. „But their time is up!“

Aber es geht ja nicht nur um Hollywood

Oprah Winfrey weiß, wovon sie spricht. Die heutige Milliardärin wuchs als Tochter einer Putzfrau in Mississippi auf. Mit neun wurde sie von einem Cousin vergewaltigt, mit 14 bekam sie ein Kind aus ­einem weiteren Missbrauch. Es starb nach der Geburt.

Oprah erklärte: „Dies betrifft nicht nur die Unterhaltungsindustrie. Sondern auch die Frauen, deren Namen nie bekannt werden. Sie sind Hausfrauen, sie arbeiten auf Farmen, in Fabriken und in Restaurants, sie arbeiten in der Medizin und in der Wissenschaft, sie sind Teil der Welt der Technik, der Politik und der Wirtschaft, sie sind Olympia-Athletinnen und Soldatinnen in der Armee.“

Schon am 12. November 2017 waren in Los Angeles Tausende Frauen auf die Straße gegangen. Vier Wochen nach dem Start der #MeToo-Kampagne kamen sie zusammen zum „Take Back the Work­place March“.

Unter denen, die ihren Arbeitsplatz gegen übergriffige Chefs verteidigten, war auch die „Alianca Nacional de Campesinas“: der Verband der Farmarbeiterinnnen. „Di No al Acoso Sexual!“ – Sag Nein zu ­sexueller Belästigung!” stand auf ihren Schildern, von denen die meisten auf ­Spanisch geschrieben waren. Denn die schlecht bezahlte Arbeit auf den Feldern und in den Packstationen wird meist von den so genannten Hispanics geleistet, Einwandererinnen aus Mexiko oder der ­Dominikanischen Republik, nicht wenige von ihnen ohne Papiere.

Schauspielerinnen haben sich solidarisiert ...

An diesem Tag traten zwei Vertreterinnen der Campesinas ans Mikrofon und verlasen ihre Botschaft an die Kolleginnen aus den Filmstudios: „Liebe Schwestern“, sagten sie, „wir vertreten 700.000 Frauen, die in der Landwirtschaft und den Packhäusern der USA arbeiten. Wir haben mit Bedrückung gehört und gesehen, wie Schauspielerinnen und Models über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt durch ihre Bosse, Kollegen und andere mächtige Menschen in der Unterhaltungsindustrie berichtet ­haben. Wir sind nicht überrascht, denn wir kennen diese Erfahrungen nur zu gut. Unzählige Landarbeiterinnen im ganzen Land leiden still. Wir arbeiten nicht im Scheinwerferlicht, sondern im Schatten der Gesellschaft, auf abgelegenen Feldern und in Packhäusern, die niemand im Blick hat. Aber wir teilen eine Erfahrung: Jemandem zum Opfer zu fallen, der die Macht hat, uns anzustellen, zu feuern oder uns auf eine Schwarze Liste zu setzen.“

Und die Campesinas fuhren fort: „Ihr müsst gerade damit zurechtkommen, dass man euch mit Skepsis und Kritik begegnet, weil ihr mutig gegen die schlimmen Dinge aufbegehrt, die man euch angetan hat. Wir möchten euch sagen: Ihr seid nicht ­allein. Wir glauben an euch und stehen an eurer Seite!”

Die „lieben Schwestern“ aus den Filmstudios hörten – und handelten. Sie riefen „Time’s Up“ und den „Time’s Up Legal ­Defense Fund“ ins Leben. Mit diesem Fonds sollen Frauen unterstützt werden, die gegen ihre Belästiger und Vergewaltiger klagen wollen, aber nicht die Mittel dazu haben. Die Filmstars wenden sich an „jedes Zimmermädchen, das versucht hat, vor einem übergriffigen Gast zu fliehen“, an „jede Kellnerin, von der erwartet wird, dass sie dem grapschenden Kunden mit ­einem Lächeln begegnet“ und an „jede Migrantin, die ihr illegaler Status zum Schweigen bringt“. Die „Time’s Up“-Initiatorinnen versichern nun ihrerseits den „lieben Schwestern“: „Wir sind an eurer Seite. Wir unterstützen euch.“

... mit Zimmer-
mädchen, Farm-
arbeiterinnen & Kellnerinnen

15 Millionen Dollar sind bisher im „Time’s Up Legal Defense Fund“ zusammengekommen. Auch Steven Spielberg soll eingezahlt haben. Angesiedelt ist der Fonds beim „National Women’s Law Centre“ (NWLC), das sich seit 1972 für geschlechtergerechte Gesetzgebung einsetzt. 250 Anwältinnen gehören dem NWLC-„Netzwerk für Gender-Gerechtigkeit“ an.

Bei der Golden-Globe-Verleihung demonstrierten die „Time’s Up“-Initiatorinnen diesen Schulterschluss: Viele Schauspielerinnen hatten als Begleitung eine Aktivistin mitgebracht. So kam Meryl Streep Seite an Seite mit Ai-jen Poo, der Vorsitzenden der „Allianz der amerikanischen Hausangestellten“. Emma Watsons Begleiterin für den Abend war Marai Larasi, Direktorin von „Imkaan“, einer Initiative gegen Gewalt gegen schwarze Frauen und Mädchen. Michelle Williams hatte Tarana Burke mitgebracht, die Leiterin der New Yorker Initiative „Girls for Gender Equity“. Sie hatte vor zehn Jahren den Hashtag erfunden, der nach den Weinstein-Enthüllungen von Millionen Frauen in aller Welt wiederbelebt und zu einer Art Tsunami wurde: #MeToo.

Bei der Verleihung der Grammys zeigten auch die Kolleginnen der Musikbranche, dass sie nicht gewillt sind, zur Tagesordnung überzugehen. So trat Sängerin Kesha auf, die 2014 ihren Produzenten wegen schwerer sexueller Belästigung verklagt hatte. Der hatte mit einer Verleumdungsklage gekontert. Janelle Monáe, die Keshas Auftritt ankündigte, fand klare Worte. „An alle, die versuchen sollten, uns zum Schweigen zu bringen. Für euch haben wir zwei Worte im Angebot: Time’s up! Wir sagen: Time’s up für ungleiche Bezahlung! Time’s up für Diskriminierung! Time’s up für sexuelle Belästigung! Und Time’s up für Machtmissbrauch!“

Und das zeigt jetzt schon Wirkung

Auch am ersten Jahrestag der Amtseinführung von Pussygrabber Donald Trump nahmen die Rednerinnen kein Blatt vor den Mund. Über eine Million Frauen waren wieder auf die Straße gegangen, allein 600.000 kamen zum „Women’s March“ in Los Angeles. Natalie Portman prangerte in ihrer Rede den „sexuellen Terrorismus“ an, dem Frauen ausgesetzt seien. Und Scarlett Johansson sprach von einer „unaufhalt­samen Bewegung“.

„Vielleicht ist dies wirklich ‚der Moment‘, auf den so viele Frauen gewartet haben“, hofft Ms., EMMAs amerikanische Schwester in ihrer aktuellen Titelgeschichte „Smash the Patriarchy!“: „Die Büchse der Pandora ist geöffnet.“ Und es sieht so aus, als ob sie sich bis auf weiteres nicht wieder schließen wird. Die ersten „Time’s Up“-Effekte gibt es jedenfalls jetzt schon zu verzeichnen.

Mit Greta Gerwig ist eine Frau für die beste Regie nominiert (die fünfte in 90 Oscar-Jahren) und mit Rachel Morrison die erste Kamerafrau überhaupt.

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