Jil Sander: Weniger ist mehr

Foto: Paolo Rocco
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Sie ist die Frau der klaren Linien und des hochwertigen Materials. Sie wollte Frauen mit ihrer Kleidung nicht dekorieren, sondern sie für ihren Arbeitsalltag ausstatten. Und sie zog Frauen schon Hosenanzüge an, als eine Frau mit Hose im Bundestag noch für einen handfesten Skandal sorgte. Am 27. November ist Jil Sander 80 geworden.

Es gibt keine zweite wie Jil Sander in der deutschen Mode. In den späten Sechzigerjahren hat sie von Hamburg aus begonnen, eine internationale Marke aufzubauen. Ihre Entwürfe verkaufte sie schon bald bis nach Amerika. Ihre Marke „Jil Sander“ macht sie 1989 zur Aktiengesellschaft und war damit die erste Frau an der Spitze eines börsennotierten Unternehmens in Deutschland. Vor allem aber änderte sie die deutsche Mode, denn was sie entwarf, richtete sich an Frauen, die so waren wie sie: emanzipiert, selbstbewusst – und vor allem berufstätig. Frauen also, die sich nicht verkleidet fühlen wollten und die es sich leisten konnten, die schnörkellosen, strapazierfähigen Entwürfe zu kaufen, weil sie ihr Geld eben nicht vom Ehemann in die Haushaltskasse gelegt bekamen, sondern selbst arbeiteten.

Einen Ursprung für Sanders geradlinige, zeitlose Designideen vermuten Modejournalisten gern in ihrer norddeutschen Herkunft. Am 27. November 1943 bringt ihre Mutter Erna-Anna Sander das Mädchen mit dem Namen „Heidemarie Jiline“ in einem Feldlazarett nördlich von Hamburg zur Welt. Hochschwanger war sie vor den Luftangriffen mit ihrer ältesten Tochter Ingrid aus der Hansestadt aufs Land geflohen; ihr Mann war als Soldat an der Front. Als der Krieg zu Ende ist, liegt auch die Ehe in Trümmern. Die Mutter lässt sich scheiden. „Schuldig geschieden“, wird Jil Sander später einmal erklären, „das war damals heikel.“

Noch bis 1977 musste in der Bundesrepublik die Schuldfrage bei Scheidungen geklärt werden, der oder die „Schuldige“ trug rechtliche Nachteile hinsichtlich des Sorgerechts und der Unterhaltszahlungen davon. Die älteste Tochter Ingrid bleibt beim Vater, die jüngere Heidemarie Jiline bei der Mutter. Die zieht mit ihrem neuen Lebensgefährten, einem Autohändler, zurück nach Hamburg. Jil Sander wächst dort gemeinsam mit einem Stiefbruder, Heino, auf. Das Verhältnis zum Stiefvater ist herzlich, von ihm übernimmt sie den Tatendrang und die Disziplin bei der Umsetzung von Plänen. Sie erinnert ihn als jemanden, „der keine Mittelmäßigkeit“ ertrug, ein Charakterzug, der auch ihr nicht fernliegt.

Bis sie selbst kreativ wird, begutachtet sie zunächst als Moderedakteurin bei den Zeitschriften Petra und Constanze in Hamburg zahllose Kleider, die sie gar nicht gut findet. Zu bieder, zu kindlich, zu püppchenhaft ist die damalige Mode. Die Bilderstrecken, die Sander vorschweben, von selbstbewussten Frauen, kann sie mit diesen Kleidern nicht umsetzen. Irgendwann „hatte ich es satt, mich als Moderedakteurin irgendwelchen Supertypen von Chefredakteuren anzupassen“, sagte sie später.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten Frauen, nachdem sie die Trümmer weggeräumt hatten, in der BRD zurück an den Herd. Waren sie kurz zuvor noch unverzichtbare Arbeitskräfte für die Industrie, wurden sie nun nicht mehr gebraucht, nachdem die überlebenden Männer von der Front zurückgekehrt waren. Frauen sollten sich wieder ausschließlich um die Kindererziehung und den Haushalt kümmern.

Mit den alten Rollenbildern kam auch die alte Mode zurück. Was modisch Designerinnen wie Coco Chanel in den Zwanziger- und frühen Dreißiger Jahren an Freiheiten für Frauen errungen hatten (kein Korsett, dafür Hosen!), war plötzlich wieder passé. Als hübsche Anhängsel ihrer Ehemänner sollten Frauen von Rüschen, Kleidern und glitzernden Accessoires träumen und sich nicht etwa nach Gleichberechtigung, eigener Arbeit und damit eigenem Geld sehnen. Übrigens: Bis in die frühen Sechzigerjahre oblag es dem Ehemann, das Konto zu verwalten. Für die Anschaffung größerer Gegenstände (Möbel, Musikinstrumente, Autos) mussten die Ehefrauen die explizite Genehmigung des Gatten vorlegen. Wer arbeiten wollte, musste ebenfalls die Einwilligung des Mannes einholen.

In der Mode lässt sich dieser Rückschritt am deutlichsten an den Hosen zeigen, die für Frauen nun wieder verpönt waren. Noch 1970 erschütterte der sogenannte „Hosenskandal“ den Bundestag, als die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer in einem beigefarbenen Zweiteiler vor das Plenum trat. Es gab Zwischenrufe und wütende Briefe. Der Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger (CSU) sah in ihrer Kleiderwahl gar die „Würde der Frau“ angetastet.

Auch Jil Sander war mit ihrer Vorliebe für Hosen schon in der Schule angeeckt. Ihre Mutter aber unterstützte sie dabei, nähte ihr Kleidung nach ihren Vorstellungen. 1968 beschließt Jil Sander, die Sache mit dem Design selbst in die Hand zu nehmen; immerhin hatte sie eine Ausbildung zur Textilingenieurin in Krefeld abgeschlossen. Also nahm sie einen Kredit auf und eröffnete ihre eigene Boutique in Hamburg.

Was sie dann in ihrem Atelier entwirft, flüstert von einer anderen Zeit, in der Frauen nicht mehr in den alten Rollenbildern festhängen. „Als ich anfing, waren Frauen noch völlig dem Diktat ergeben, sich nicht für sich selbst einzukleiden, sondern für jemand anderen. Sie waren dekoriert – ergaben sich der Oberflächlichkeit“, sagte die Designerin rückblickend 1997 der New York Times „Frauen sind so viel stärker geworden seitdem.“ Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hatte an dieser Veränderung einen großen Anteil. Jil Sander: „Es hängt sehr wohl mit der Emanzipation zusammen, dass Dekoration altmodisch geworden ist, und das habe ich schon sehr früh begriffen.“

Die Frauen, mit denen sie befreundet ist, haben ähnliche Lebensentwürfe und bilden schnell die Anhängerschaft für Sanders Avantgarde-Kleidung. Sie sind Künstlerinnen, Galeristinnen, Fotografinnen. Eine der ersten, die in der Boutique auftauchte, war Angelica Mommsen, Sanders spätere Lebensgefährtin. Mehr als dreißig Jahre blieben die beiden Frauen ein Paar, lebten in einer gemeinsamen Villa in Hamburg und auf Gut Ruhleben am Plöner See in Schleswig-Holstein, auf dem Mommsen aufgewachsen war. Als Sanders Lebensgefährtin an Krebs erkrankte, zog sich Jil Sander 2013 endgültig zurück, ihre Marke hatte sie bereits 1999 in einem Joint Venture mit dem italienischen Luxushaus „Prada“ zusammengeführt.

Über das Private verlor Sander nie viele Worte, zeigte sich auch sonst kaum der Öffentlichkeit. Wenn sie mit der Presse sprach, dann um ihre Projekte und Ideen zu erklären. „Kleine Chichi-Frauen, die sich verspielt geben und verkleiden möchten, kann ich nicht anziehen. Was ich für meine Sachen brauche, ist eine Frau, die Kopf hat und kräftig ist.“

Der berühmteste Entwurf, das Kernstück der Sander-Kollektionen, ist bis heute ihr Hosenanzug. Yves Saint Laurent hatte Frauen in Paris schon 1966 im Smoking auf den Laufsteg geschickt. Catherine Deneuve, Liza Minelli und Bianca Jagger trugen als erste seine Jacketts, gern auch ohne Hemd oder Bluse darunter. Doch Sander überführte Saint Laurents Extravaganz in den Arbeitsalltag der Frauen. Sie fragte sich, wie man das Kleidungsstück so fertigen könnte, dass es nicht mehr der Männergarderobe entlehnt aussah, sondern sich dem weiblichen Körper anschmiegte, ihm Stärke verlieh, ohne steif zu wirken. Sie übernahm Schnitttechniken, die bisher der Maßschneiderei für Herrenanzüge vorbehalten waren, ließ aber Futter und Schulterpolster entfernen, und gab den Frauen so eine Rüstung für die neue Arbeitswelt. Wer sich einst einen Blazer, eine Hose oder einen Pullover von Jil Sander kaufte, trägt die Kleidung der Materialfetischistin mitunter bis heute.

MARIA WIESNER

 

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