Judi Dench: Die heimliche Queen
Die Worte „Gott schütze“ sind auf den ganzseitigen Zeitungsanzeigen für den Film „Victoria & Abdul“ mit Judi Dench in der Rolle der verwitweten Herrscherin so groß gedruckt, dass sie eine ganze Zeile füllen. Darunter hätte es weitergehen müssen: „… die Königin“ (God save the Queen). Stattdessen lautet die nächste Zeile: „Dame Judi Dench“. Auf der Anzeige steht ihr Name drei Mal. Sämtliche andere Mitwirkenden fehlen, selbst Regisseur Stephen Frears, obwohl auch er nach internationalen Erfolgen wie „The Queen” und „Philomena“ (mit Judi Dench in der Titelrolle) ein Gütesiegel ist.
Dass der Kritiker der Times seine Rezension von „Victoria & Abdul” mit dieser Zeile, „Gott schütze Dame Judi Dench“, begann, zeigt, welchen Stellenwert die 1988 geadelte Darstellerin in Großbritannien genießt. In Umfragen macht sie sogar Königin Elizabeth Konkurrenz als beliebteste Britin und landete auf Platz 1, vor der Queen auf Platz 2. Umgangssprachlich ist Dench zum Synonym für „cool” geworden, seit die heute 82-Jährige eine Baseballmütze aufsetzte und sich von dem Grime-Musiker Lethal Bizzle das Rappen beibringen ließ.
Vor kurzem geriet Judi Dench in die Schlagzeilen, als sie verkündete, dass sexuelles Begehren auch in ihrem Alter ein Thema sei: „Natürlich begehrt man noch. Geht das jemals weg?“ Ihren Altersgenossinnen gab die Schauspielerin den guten Rat: „Geben Sie nicht auf!“ Romantik und Intimität seien nicht bloß jüngeren Menschen vorbehalten, erklärte sie. Ihr 2001 verstorbener Mann, der Schauspieler Michael Williams, mit dem sie eine Tochter hat, schickte ihr in den fast 30 Jahren ihrer Ehe jeden Freitag eine Rose.
Seit einigen Jahren ist Judi Dench mit dem 74-jährigen Naturschützer David Mills liiert. Den Begriff „Partner“ findet sie „scheußlich“. Sie spricht lieber von „meinem Kerl“ oder dem „besonderen Freund“. Nein, an Ehe sei nicht zu denken. Diese Vorstellung weist sie entschieden zurück und fordert, „sich zu berappeln und sich seinem Alter entsprechend zu verhalten.“
Judi Dench gilt als „nationaler Schatz”, eine Bezeichnung, die sie selber zu verabscheuen behauptet. Sie zieht die Fernseh-Sketche von Tracey Ullman vor, in denen die Komikerin den strahlenden Publikumsliebling als Kleinganovin parodiert, die mit Vergnügen Ladendiebstahl, Sachbeschädigung und andere Delikte begeht, sich aber aus jeder Klemme herauswindet, indem sie ihren Status als „nationalen Schatz“ geltend macht.
Der Witz liegt darin, dass Starallüren der echten Judi Dench fremd sind. Selbst bei Filmpremieren fällt die längst silberhaarige Darstellerin auf dem roten Teppich inmitten der aufgedonnerten echten und Möchtegern-Stars mit ihren gebügelten Gesichtern durch Understatement auf. Solovorstellungen, wie sie manche Diven geben, widersprechen Denchs Auffassung, dass Schauspielern einem Puzzle gleicht, bei dem viele einzelne Teile zu einem Ganzen zusammengefügt werden.
Die Schauspielerei sei ein selbstloser Beruf, in dem es gelte, dem Autor, dem Direktor und dem Ensemble treu zu sein und jeden Abend ein anderes Publikum zu animieren, sagt Judi Dench: „Wenn man als Schauspieler auf Selbstverherrlichung aus ist, hat man den falschen Beruf gewählt.“
Die nationale Ikone versteht sich bis heute als Schauspielerin, die sich von einer Rolle zur nächsten durchwurschtelt. Bei Theaterpremieren kamen ihr schon in ihren besten Jahren manchmal die Tränen, weil sie jedes Mal fürchtete, es könnte mangels Angeboten ihr letzter Auftritt sein.
Im nordenglischen York als Arzttochter aufgewachsen, hat Judi Dench von Kind an Theaterluft geschnuppert. Ihre Eltern machten bei einer Laienschauspieltruppe mit. Der Vater war außerdem für die medizinische Betreuung des Theaters zuständig. Nach dem Internat, in dem sie zu dem ihr bis heute Halt gebenden Quäkertum bekehrt wurde, hegte sie ursprünglich den Wunsch, Bühnenbildnerin zu werden. Doch brach die junge Frau die Ausbildung ab und folgte dem älteren Bruder nach London in die Schauspielschule, die sie mit Bravour abschloss.
In der Vorschule hatte Judi Dench noch als Schnecke debütiert. Ihren ersten professionellen Auftritt hatte sie 1957 als Ophelia in Shakespeares „Hamlet“. Nach den bestenfalls verhaltenen Kritiken hätte niemand darauf gewettet, dass sie einmal den ersten Platz erklimmen würde bei einer Abstimmung über den „besten Schauspieler aller Zeiten“. Ihren Durchbruch als Julia in Franco Zeffirellis Inszenierung von „Romeo und Julia“ hatte sie 1960. Ihr Vater war derart ergriffen, dass in dem Moment, wo Julia nach der Verbannung des geliebten Romeo bestürzt fragt: „Wo mag mein Vater, meine Mutter sein“, ungewollt aus ihm herausplatze: „Wir sind hier, Liebling, in der Reihe H.“
In den frühen Jahren machte Dench sich vor allem als Shakespeare-Darstellerin einen Namen. Bei ihr zuhause hieß Shakespeare „der Mann, der die Miete bezahlt“. Mit ihrem facettenreichen Spiel glänzte sie aber auch in einer Vielzahl anderer Rollen. Sie überzeugte als anzügliche Sally Bowles in dem Musical „Cabaret“, erfasste den eisernen Materialismus der Mutter Courage und triumphierte am Broadway als die scharfzüngige alternde Schauspielerin in David Hares tragikomischen Mutter-Tochter-Drama „Amys Welt“.
Judi Dench weiß mit ihrer heiseren Stimme sowohl verführerische als auch komische und tragische Akzente zu setzen. Dabei füllt sie die Figuren intuitiv mit menschlicher Leiblichkeit aus.
Obwohl sie selber seit 60 Jahren fast ununterbrochen hoch im Kurs steht, macht sie sich keine Illusionen über die Gleichberechtigung in ihrem Beruf. „Gehälter, Rollen, was auch immer: ich denke, es steht jetzt besser als je zuvor, aber es wird niemals Parität geben. Niemals. Egal, wie laut wir unsere Stimme erheben. Wir werden in die Schranken gewiesen.“Denchs Filmkarriere begann erstaunlich spät. In jungen Jahren hat sie sich von einem Produzenten abschrecken lassen, der behauptete, ihr Gesicht sei nicht für die große Leinwand geeignet. Obwohl sie hier und da in Film- und Fernsehproduktionen mitwirkte und 1965 sogar den Preis der britischen Film- und Fernsehakademie für den vielversprechendsten Neuling gewann, hatte sie ihren ersten großen Hollywood-Erfolg erst 1997, ebenfalls als Königin Victoria in „Mrs. Brown“; da war sie 62. Die Rolle trug ihr prompt die erste von bislang sieben Oscar-Nominierungen ein.
Dabei war „Mrs. Brown“ ursprünglich für das Fernsehen bestimmt. Der gerade durch Vorwürfe der sexuellen Belästigung in Bedrängnis geratene Produzent Harvey Weinstein brachte jedoch den Film statt dessen ins Kino. Aus Dankbarkeit ließ Dench sich seinen Namen auf den Hintern tätowieren. Als im Oktober die schweren Vorwürfe jahrzehntelanger sexueller Übergriffe durch den Hollywood-Boss bekannt wurden, erklärt Dench, sie hätte „keine Ahnung gehabt“, aber es sei „schrecklich“. Sie solidarisierte sich – ganz wie Meryl Streep, Glenn Close, Kate Winslet und andere – mit den Opfern.
Seit „Mrs Brown“ hat Dench in zahllosen Filmen mitgewirkt, darunter allein sieben Mal bei James Bond als Geheimdienstchefin „M“. Sie gestand, geweint zu haben, als man sie in „Skyfall“ sterben ließ. Die Begriffe „alt“ und „Ruhestand“ sind für Judi Dench Schimpfwörter, wohl nicht zuletzt, weil sie ungern alleine ist und die Geselligkeit des Ensemblespiels genießt.
Demnächst wird sie in Kenneth Branaghs hochkarätig besetzter Neuverfilmung von Agatha Christies „Mord im Orient-Express“ als die Ehrfurcht einflößende Prinzessin Dragomirov zu sehen sein.
Heute hält Judi Dench in Britannien den Rekord der meistbeschäftigten Filmdarstellerin. Dennoch schlägt ihr Herz weiterhin eher für die Bühne, weil jede Vorstellung im Theater die Chance zur Verbesserung biete. Wenn sie sich selber – widerwillig – auf der Leinwand sieht, wünsche sie sich oft, dass sie eine Szene anders gespielt hätte, gestand sie.
So bodenständig Judi Dench wirkt, so übermütig kann sie sein. Fast ist es, als artikuliere die enthemmte Figur in den Parodien von Ullman tatsächlich Denchs heimliche Sehnsucht, aus den Konventionen auszubrechen. Die reale Judi Dench lacht gerne und spielt wie ein Kind mit ihren Kollegen gern alberne Streiche. Ihrer Beliebtheit tut keinen Abbruch, dass sie auch ausrasten und fluchen kann wie ein Kesselflicker.
Früher bannte Judi Dench ihre Unangepasstheit mit zotigen Sprüchen auf Kissen, die sie während der Dreharbeiten zu sticken und zu verschenken pflegte, bis eine Augenkrankheit diesem Hobby ein Ende setzte.
Zum 81. Geburtstag schenkte ihre Tochter ihr ein Tattoo. Diskret versteckt an der Innenseite des Handgelenks steht jetzt der Spruch „carpe diem“ gestochen: Genieße den Tag.
Gina Thomas
Die Autorin ist FAZ-Korrespondentin in London.