Jüdin sein im Deutschland danach
Wie war das für eine jüdische Deutsche, zurückgekommen aus dem Exil, in ihrer Heimat Deutschland? Die Journalistin Inge Deutschkron, bekannt geworden mit ihren Erinnerungen „Ich trug den gelben Stern“, schreibt über ihr „Leben nach dem Überleben“ – bei dem es auch oft nur ums Überleben ging. Sie zog die Konsequenz aus ihrem Fremdsein im eigenen „Vaterland“ und ging Mitte der 60er Jahre nach Israel. Heute lebt und arbeitet Inge Deutschkron zwischen Deutschland und Israel.
In einem Brief an meinen Vater in England schrieb ich am 2. Oktober 1945: „Ja, guter Paps, unserer lieben Mutti geht es nicht gut. Ihr Gewicht, 75 Pfund, sagt ja wohl alles... Du kannst mir glauben, daß das, was wir in den letzten Jahren durchgemacht haben, sich nicht in die Kleider setzte und seine Folgen haben muß. Solltest Du uns wiedersehen, mußt Du aus uns beiden erst wieder Menschen machen, die nicht den minderwertigsten aller Triebe den Vorrang geben, sondern auch für das Schöne, das es eben doch wohl auch jetzt noch auf der Welt geben muß, einen Sinn haben.“
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„Aber gnädige Frau!“ Noch heute habe ich den Ton der Empörung im Ohr, den ein kostümierter Journalist im Bonner Presseclub ausstieß, als ich seinem Freund eine deftige Ohrfeige versetzte. Dazu veranlaßt hatten mich die Kostümierung und das Verhalten seines Freundes anläßlich einer der ersten Karnevalsveranstaltungen meines Lebens im Februar 1960. Diese Ohrfeige wurde zur Grundlage meiner Beziehungen zur Gesellschaft der deutschen Journalisten in Bonn. Nur wenige zeigten Verständnis für mich. Die Ohrfeige machte auch meinen Wunsch zunichte, endlich einmal „dazuzugehören“, nicht mehr, wie in Nazi-Deutschland, „gezeichnet“ zu sein oder, wie in England, als Ausländerin nach dem Kriege nicht in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Ob ich das ohne diese Ohrfeige erreicht hätte, bleibt eine offene Frage.
Ich war in der Hoffnung nach Bonn gekommen, als eine unter vielen am Aufbau eines neuen Deutschland in irgendeiner Funktion mitzuarbeiten. Was ich damit praktisch meinte, wußte ich eigentlich nicht so recht. Ich glaubte nicht nur ein Recht, sondern auch die Pflicht dazu zu haben. Schließlich hatten Deutsche ihren Kopf für mich riskiert, um meine Mutter und mich vor dem Mord durch die Nazis zu bewahren. Sozialdemokratische Politiker, die ich auf Konferenzen der Sozialistischen Internationale traf, hatten mich auch zu diesem Denken ermutigt. Ja, jeder von ihnen sagte mir Unterstützung zu, als ich darum bat.
Aber als ich dann wirklich in Bonn war, fand ich die meisten „auf der Flucht“ vor mir. So jedenfalls schien es mir. Sie schützten Abwesenheit vor oder unaufschiebbare Termine. Einige, die ich besonders gut kannte, luden mich zum Essen ein. Aber niemand fragte, was ich denn nun plane oder ob ich ein Auskommen hätte oder gar, ob sie etwas für mich tun könnten.
„Wie kannst du nur erwähnen, daß du Jüdin bist.“ Ein Freund empörte sich. Er war selbst Jude, war schon bald nach Kriegsende aus Palästina nach Deutschland zurückgekehrt und hatte eine diplomatische Karriere eingeschlagen. Er hielt auch mich für geeignet, eine Aufgabe im Auswärtigen Dienst zu übernehmen. Leute mit Sprachkenntnissen wie ich würden immer gebraucht, meinte er. Er hieß mich einen Lebenslauf schreiben, den er weiterzuleiten versprach. Es versteht sich von selbst, daß ich darin die Verfolgung als Jüdin im Dritten Reich erwähnte. Er war ganz außer sich, als er es las. Mit den Worten „Wozu das?“ schob er mir den Lebenslauf wieder zu. Heutzutage müsse man so etwas verschweigen, wolle man in der Bundesrepublik Karriere machen, sagte er.
Ich war verwirrt und empört zugleich. Er zeigte sich verständnislos, als ich ihm erklärte, daß ich nicht bereit wäre, meinen Lebenslauf zu „frisieren“. Nach allem, was geschehen war, hätte ich nicht die Absicht, mein Judentum je wieder zu verleugnen. Tatsächlich dürfte es in seinem Amt nicht besonders aufgefallen sein, wenn jemand über „jene Jahre“ seines Lebens ungenaue Angaben machte. Versuche deutscher Beamten, ihre nazistische Vergangenheit zu verschleiern, waren eher die Regel als die Ausnahme. Mein Freund versuchte auf seine Weise, sein „Judenproblem“ zu lösen, von dem ich fälschlicherweise angenommen hatte, daß es mit dem Ende der Nazizeit nicht mehr existiere. Ich handelte darum auch entsprechend.
Am ersten Weihnachtstag im Jahre 1959 hörte ich wie gelähmt zu, als der Nachrichtensprecher die Meldung über Hakenkreuzschmierereien an der Synagoge von Köln verlas. Es war knapp ein Jahr, nachdem mich die israelische Zeitung „Maariv“ als Deutschlandkorrespondentin angeworben hatte.
An jenem Weihnachtsmorgen eilte ich nach Köln, um das Unvorstellbare in Augenschein zu nehmen. Am Sockel der Synagoge in der Roonstraße, die erst am 20. September des gleichen Jahres ein-geweiht worden war, stand: „Deutsche fordern: Juden raus.“ Etliche Hakenkreuze „zierten“ diese Schmierereien. Die gleichen Täter hatten über eine Grabplatte für sieben prominente Opfer des Nationalsozialismus schwarze Lackfarbe gegossen und damit die Inschrift: „Dieses Mal erinnert an Deutschlands schmachvollste Zeit 1933-1945“ gelöscht. Dieses damals für mich Unfaßbare in einem neuen Deutschland ist heute leider längst keine Seltenheit mehr, sondern gehört zu den Ereignissen, die von Zeit zu Zeit als wenig beachtete Nachricht unter dem Strich in der Presse erscheinen.
Damals führte die Schmiererei an der Synagoge zu einer Welle von antisemitischen Aktionen in der Bundesrepublik, aber auch in anderen europäischen Ländern. Es war, als habe man den Deckel von einem Drucktopf genommen.
Einem von der Bundesregierung herausgegebenen Weißbuch zufolge hat es bis zum 28. Januar 1960 insgesamt 684 „Folgetaten“, also Hakenkreuzschmierereien auf Gerichtsgebäuden, Kirchen, Schändungen jüdischer Friedhöfe, antisemitische Aufschriften, anonyme Drohbriefe an in der Bundesrepublik lebende Juden gegeben, vorwiegend von jungen Menschen verübt. Das Fazit der Bundesregierung, daß es sich dabei um schwachsinnige Missetäter und Rüpel handelte und nicht um antisemitische Bewegungen oder staatsfeindliche Kader und auch nicht um nazistische Restgruppen, schien mir denn doch zu leichtfertig in einem Land, in dem nur 15 Jahre zuvor Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum ermordet worden waren.
Mich traf dieser antisemitische Zwischenfall in Köln ausgesprochen hart. Es war, als zöge man mir den Boden unter den Füßen weg. Wie war es möglich, daß nur 15 Jahre nach den Morden an den Juden Deutsche abermals bereit waren, Juden zu verfolgen oder untätig dabei zusahen oder gar diese Tatsache bagatellisierten, wie es das Gerichtsurteil zeigte?
Um diesen Gedanken, die mich lange Zeit nicht losließen, für ein paar Stunden zu entfliehen, beschloß ich, eine Karnevalsveranstaltung zu besuchen. Aber schon bei dem Eintritt in den Presseclub glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Da hatte sich ein junger Journalist derart kostümiert, daß er meiner Meinung nach klar als Jude zu erkennen war. Mit Seitenlocken (Peies), Käppchen und einer Art Gebetsschal, wie sie von frommen Juden getragen werden, ging er inmitten der bunten Masken einher. Ein schäbiges Köfferchen in der Hand und zerschlissene Kleidung sollten wohl den Eindruck eines jüdischen Händlers vervollständigen. Entsprechende, als „jüdisch“ ausgewiesene Handbewegungen taten das ihrige dazu. Mit ihm und über ihn schien sich eine Anzahl von Journalisten köstlich zu amüsieren.
Es ergab sich, daß ich – auf der Tanzfläche neben ihn geratend – diesem „Narren“ schließlich mein Mißfallen zu verstehen geben konnte. Ich sagte ihm, daß ich nicht begreifen könne, wie ein Deutscher nach allem, was vorgefallen war, eine dieser armen gequälten Kreaturen zur Gaudi des Karnevals machen konnte. Ihn, der möglicherweise unter dem Einfluß von Alkohol stand, reizte dies, mich zu hänseln – mich hingegen dazu, ihm eine Ohrfeige zu versetzen. Der Bonner Journalist hatte seinen Skandal.
Der betroffene Journalist wurde bis zur Klärung der Angelegenheit von seiner Redaktion suspendiert. Er wies sofort den Verdacht antisemitischer Regungen von sich und erklärte, er habe nicht einen Juden, sondern einen griechischen Teppichhändler darstellen wollen. Auch meine Handlungsweise erfuhr viel Kritik, wie es dem Geist der Bundesrepublik damals voll entsprach. Die Angelegenheit führte zu einer Aussprache aller Beteiligten unter dem Vorsitz des SPD-Abgeordneten Adolf Arndt. In einem später herausgekommenen Kommuniqué der Bundespressekonferenz, deren Mitglied der Journalist war, wurde alsbald festgestellt, es tue dem Betreffenden herzlich leid, daß „...ein von ihm nicht gewollter, falscher Eindruck entstand, durch den sich Teilnehmer der Veranstaltung herausgefordert und verletzt fühlen konnten“.
Ich nahm diese Erklärung an. Ich hatte gar keine andere Wahl, obwohl ich Zweifel an der Ehrlichkeit der Behauptung hatte. Ich fühlte mich geschlagen. Das Gros der Bonner Journalisten bezeugte mir seine Abneigung. Ich war isoliert. Ich begriff das nicht. Natürlich hatte ich nicht erwartet und auch nicht gewollt, daß man einer unter den Nazis verfolgten Jüdin, die trotz allem nach Deutschland zurückgekehrt war, mit Ehrfurcht oder Demut begegnete. Aber ich hatte erwartet, daß man sie so aufnahm, vielleicht sogar mit Freude darüber, daß eine Jüdin durch ihre Rückkehr ihr Vertrauen zu einem neuen Deutschland bekundete. Und daß man mit ihr gemeinsam den Versuch unternehmen konnte zu verstehen, was damals geschehen und wie es zu den grausamen Verbrechen Deutscher gekommen war. Statt dessen wurde eine Barriere aufgerichtet, und sie stand nicht nur zwischen den Bonner Journalisten und mir, sondern zwischen Deutschen und Juden überhaupt.
Tatsächlich waren nur wenige deutsche Juden zurückgekehrt. Vielfach waren es ältere Menschen, die die Probleme des Exils nicht ertrugen und so wie ich glaubten, in Deutschland wieder unter Menschen leben zu können, die sich ihres Wissens nach mit dem Nationalsozialismus nicht identifiziert hatten. Sie blieben Außenseiter. Nur wenige fanden Aufnahme in der deutschen Gesellschaft.
Die Vergangenheit hemmte die Spontaneität vieler Deutscher, die eigentlich bereit waren, mit Juden in Freundschaft zu leben. Aber auch die Juden waren voller Scheu und nie ganz sicher, wie wahr die Behauptungen von Menschen waren, daß sie niemals etwas mit dem Nazismus zu tun gehabt hätten. Einige Juden – meist aus DP-Lagern und auf dem Weg nach Israel in Deutschland hängengeblieben – gaben ihre Unsicherheit an ihre Kinder weiter, die nach dem Kriege in Deutschland geboren worden waren. Sie versuchten, sie von der Außenwelt abzuschirmen.
Diese Kinder, von denen einige später nach Israel auswanderten, berichteten mir, daß ihre Eltern ihnen untersagt hätten, Sportclubs beizutreten oder gar Freundschaft mit nicht-jüdischen Gleichaltrigen zu schließen. Ein junges Mädchen erinnerte sich an ihr Studium an einer deutschen Universität, in der sie auf Geheiß ihrer Eltern jeden Umgang mit Deutschen ihres Alters, ja jedes Gespräch mit ihnen mied. Eine Ehe kam natürlich nur mit einem jüdischen Partner in Frage. In der Hoffnung, durch eine Ehe dieser gefängnisähnlichen Situation entrinnen zu können, gingen manche frühzeitige Verbindungen ein, die nicht lange Bestand hatten. Die Eltern behaupteten zwar immer wieder, daß sie über kurz oder lang aus Deutschland auszuwandern gedächten. Aber sie taten es selten, meist weil sie des Wanderns müde waren, oft auch, weil sie in Deutschland günstige Verdienstmöglichkeiten gefunden hatten.
Ich lernte viele Deutsche kennen, die feuchte Augen bekamen, wenn das Gespräch auf Juden kam, und sie überschütteten mich mit Lobpreisungen über Juden, wenn sie meiner Herkunft gewahr wurden.
Diese fatale Art des Denkens, daß Juden etwas „Besonderes“ und darum unfehlbar seien, fand verständlicherweise auch viele Kritiker, vor allem unter der jungen Generation. Man prägte für diese Geisteshaltung den Begriff des Philosemitismus, der ebenso abstoßend wie schädlich war, da er selten auf ehrlicher Überzeugung beruhte. Er war in seinen Konsequenzen fast ebenso gefährlich wie der Antisemitismus.
In anderen Kreisen aber galten Juden auch weiterhin als Verkörperung übler geschäftlicher Machenschaften. Eine Anzahl Menschen jüdischen Glaubens, die vielfach nicht deutscher Herkunft waren, hatte die Konjunktur nach Deutschland gelockt. Nicht selten waren sie skrupellos, da sie meinten, Deutschen keine Rücksicht schuldig zu sein. In Frankfurt gab die Zahl jüdischer Besitzer von zweifelhaften Etablissements dieser Meinung neue Nahrung. Andererseits aber dienten Juden, die wieder in Deutschland zu leben bereit waren, den offiziellen Stellen als Aushängeschild dafür, daß das Nachkriegsdeutschland keinerlei Vorurteile mehr kannte.
Ich tat, als ginge mich das alles nichts an. Ich versuchte, normal unter und mit Deutschen zu leben. Aber es gelang mir einfach nicht. Immer wieder geschah irgend etwas, was mich auf meine besondere Stellung als Jüdin zurückverwies. Einmal war es ein Erlebnis im „Kaufhof“ in Bonn.
„Jüdische Apfelsinen rühren wir nicht an“, sagte eine gut aussehende, wohlhabend gekleidete Dame mit Nachdruck in der Lebensmittelabteilung. „Bitte geben Sie mir spanische“, bedeutete sie der erstaunten Verkäuferin. (Spanien war damals noch unter dem Franco-Regime.) Während die Dame noch ihren „reinrassigen“ Einkauf verstaute, sagte ich ebenso laut und deutlich zu der Verkäuferin: „Bitte geben Sie mir Jaffa-Apfelsinen, ich esse keine spanischen.“ Die Dame maß mich mit feindseligen Blicken. Die Verkäuferin konnte sich das Lachen kaum verbeißen.
Ein andermal wollte ich gerade in meinen Wagen steigen, als ich bemerkte, wie eine Dame, die in meinem Haus wohnte, mit dem Schirm gegen den Schneesturm anzukämpfen hatte. Ich bot ihr an, sie in die Stadt mitzunehmen. Sie stieg ein, dankbar dafür, daß sie bei dem Wetter nicht möglicherweise zehn Minuten auf den Autobus warten mußte. In einer Unterhaltung bemerkte sie, wie schön und ruhig es sich in unserem Hause leben ließ. Nur einen Makel hätte die Sache. Bei ihr auf dem Flur wohne eine Dame, die alle Menschen ärgere, sich ständig beschwere, mit allen Krach anfange. „Sie ist wirklich unangenehm. Aber das ist ja nicht zu verwundern. Sie ist eine rassisch Verfolgte.“
Es wurmt mich noch heute, daß ich sie nicht auf der Stelle wieder in den Schneesturm entlassen habe.
Ich gehörte der Jüdischen Gemeinde in Bonn nicht an, was diese sehr übel vermerkte und mir in einem Brief das Recht absprach, mich „Jüdin zu nennen“. Ich sah einfach keinen Sinn in der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, mit der ich nichts außer der Verfolgung gemeinsam hatte. Statt dessen glaubte ich, zu denen zu gehören, die in der vorderen Front derer gestanden hatten, die den politischen Kampf für den Aufbau eines antifaschistischen demokratischen Deutschland geführt hatten. Mein Elternhaus und meine sozialistische Erziehung machten es mir leicht, ja, es war einfach selbstverständlich für mich, in die Sozialdemokratische Partei einzutreten. Das schien mir meine wahre Heimat zu sein. Aber auch das erwies sich als Illusion.
„Ich halte nicht viel von Juden. Ich war SS-Mann und an der Exekution von Juden zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar beteiligt.“ Dies sagte mir ein Hörer in der Heimvolkshochschule der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bergneustadt, die unter anderem Kurse für Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei durchführte. Auf meine Bemerkung, er täte dann besser daran wegzubleiben, da ich Jüdin sei, rief er überrascht aus: „Wieso, die sind doch alle vergast worden!“
Ich gebe zu, daß ich nach diesem Zwischenspiel keinen sehr guten und überzeugenden Vortrag gehalten habe. In der Diskussion kamen dann folgende Meinungen zutage, die mir bewiesen, daß der „Genosse“ mit seiner Meinung über Juden nicht allein stand. Juden hätten die Machtergreifung Hitlers mit ihrer Finanzkraft – Wall Street wurde erwähnt – leicht verhindern können. Da sie dies nicht taten, seien sie an ihrem Unglück selber schuld. Überdies stellten sie im Nahen Osten eine derartige Gefahr dar, daß man sie besser aussiedelte. Schließlich handele es sich um ein Volk von 1,7 Millionen! Noch mehr als die Ansichten dieser „Genossen“ traf es mich, daß ich nach diesem „Unfall“ – wohl einer Weisung der Leitung der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge – nie wieder gebeten wurde, über Israel zu referieren.
„Wieviel Juden sind denn nun eigentlich ermordert worden?“, fragte ein Mitglied der Jungsozialisten von Bergheim (Rheinland). Man hatte mich zu einem Referat über Israel geholt, aber die 20 jungen Menschen, meist über 30, schienen an diesem Thema wenig interessiert. Man höre immer die Zahl von sechs Millionen, aber die käme ja wohl von einer „interessierten Seite“, meinte einer. Andere sprächen von einer wesentlich geringeren Zahl. Ich erwiderte, daß nicht mehr genau zu ermitteln sei, ob es sich um fünfeinhalb oder sechs Millionen handelte. Im übrigen käme es wohl kaum auf die Zahl an. Auch nur ein einziger, derart bestialischer Mord wäre kriminell und zu verurteilen. Aber das überzeugte nicht. „Wie lange sollen die Wiedergutmachungszahlungen noch weitergehen? Ich spreche hier als Steuerzahler!“ Andere Fragen hatte die Versammlung von jungen Sozialisten nicht.
Dennoch lebte ich nicht abgeschlossen, lernte Menschen kennen, die meine Ansichten teilten. Es entstanden enge persönliche Freundschaften, ja jahrelange Bindungen. Eine davon endete nach sieben Jahren abrupt, als mein Partner seine eigene Mutter eines plötzlichen Antisemitismus bezichtigte und vorgab, mich der Möglichkeit einer Begegnung mit ihr nicht weiter aussetzen zu können. Ich weinte damals bitterlich. Von da an besuchte er, so behauptete er jedenfalls, seine Eltern allein. In Wirklichkeit nutzte er die so für sich erschwindelte Zeit, um eine neue Bindung einzugehen.
Ähnlich erging es mir mit einem hohen Beamten eines Bonner Ministeriums, der, als unsere Freundschaft sehr eng wurde, sich plötzlich einer angeblichen Mitgliedschaft in der NSDAP und in der Reiter-SS entsann. Er folgerte daraus, daß es zwischen uns unweigerlich zu Spannungen kommen müsse. Deshalb sei es besser, die Bindung zu lösen. – Es hätte mich sicher weniger getroffen, wenn mein Charakter oder meine „Berliner Schnauze“ einer engeren Bindung im Wege gestanden hätten.
Es war schon ungeheuerlich und für mich bis heute kaum zu verarbeiten, daß Deutsche, denen ich vertraut hatte, sich aus Zweckmäßigkeit so skrupellos der nazistischen Vergangenheit bedienten, um eine Jüdin loszuwerden. Ich lebte nur noch für meine Arbeit, die darin bestand, als Deutschland-Korrespondentin meinen israelischen Lesern dieses neue Deutschland vorzustellen. Es wurde mir nicht immer leichtgemacht, objektiv zu bleiben. Den Versuch dazu habe ich nie aufgegeben.
Inge Deutschkron
Auszüge aus:
Inge Deutschkron: Mein Leben nach dem Überleben (Verlag Wissenschaft und Politik, vergriffen; im Taschenbuch bei dtv).