Juliette Gréco, eine Hommage
"Deshabillez-moi ..." Schmal und aufrecht steht sie da, ganz still, die Hände an der Seitennaht ihres dunklen, schlichten Kleides ausgestreckt - "Ziehen Sie mich aus ... ja, aber nicht sofort, nicht zu schnell ..." Seit einem halben Jahrhundert gehört dieses Chanson von Begehren, Zittern und Zartheit zu Juliette Grécos Repertoire, eine Hymne in jedem ihrer Konzerte. Mitte der Sechzigerjahre wegen seiner frivolen Ungeniertheit noch verboten, hat sich die Empörung über dieses Lied längst gelegt. Gebannt verfolgt das Publikum jedes Wort. Juliette Gréco ist zu diesem Zeitpunkt 87 Jahre alt. Mit 90 Jahren ist sie immer noch bestens im Geschäft, über die Generationen hinweg vernetzt.
Muse der Existenzialisten. Königin von St. Germain des Pres, die schwarze Sonne von Paris - seit Juliette Gréco die Kellerclubs am linken Seine-Ufer und schließlich die Bühnen der großen Musikpaläste von Tokio bis Berlin erobert hat, wird sie zur Ikone stilisiert. Ihren ersten Auftritt hat sie im Paris der Nachkriegszeit, einer legendären Ära, deren düsterer Glamour und strahlender Geist bis heute nachwirken. Es ist eine Ära geprägt von Sehnsucht nach Leben, Freiheitswillen und wiedererwachter Freizügigkeit, in der Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus oder Boris Vian den Ton vorgeben und das Denken formen.
Ohne jede Gesangsausbildung wurde sie
zur Legende des Chansons
Sartre schreibt in einem Text über "die Stimme der Gréco": "Sie ist ein warmes, weiches Licht, das mit einem Funkenschlag die Flammen der Dichter entzünden kann." Und der jungen Frau, die ohne jede Gesangsausbildung eine Weltkarriere als Legende des Chansons starten wird, ist klar: "Diese Zeilen waren wie ein Pass für mich. Mit ihnen hatte ich überall Zutritt. Mein Leben lang." Prominente Denker wie Camus, Mauriac, Prevert, Aznavour, Frangoise Sagan werden später ihre Texte schreiben. Über Sartre, ihren ersten und wichtigsten Mentor, sagt sie 66 Jahre später in einem Interview: "Er hat mir Flügel geschenkt. Und ich bin damit losgeflogen."
Losfliegen? Sie hätte leicht abstürzen können, in diesem Leben, das am 7. Februar 1927 im südfranzösischen Montpellier begann, und das eigentlich kein bisschen erwünscht war. Der Vater hatte nach Tochter Charlotte auf einen Jungen gehofft, die Mutter nannte sie mal "die Frucht einer Vergewaltigung", dann wieder "ein Findelkind". Da waren die Eltern, zwischen denen seit Langem Krieg herrschte, bereits getrennt, die kleine Juliette fühlte sich als "Betriebsunfall".
Mit ihrer Schwester wächst sie mal bei den Großeltern auf, dann bei der Mutter, dann bei Nonnen im Internat: "Je weniger ich geliebt werde, umso mehr schotte ich mich ab." Sie entdeckt eine Einsamkeit in sich, die sie nie wieder loswerden wird und die ihr schließlich eine ganz eigene Freiheit verschaffen wird. Die Mutter, deren Stärke und Unbeugsamkeit sie geerbt hat, und Schwester Charlotte engagieren sich in der Resistance. Auch Juliette gerät 1943 in die Fänge der Gestapo, wo sie Opfer von Schikanen und sexueller Gewalt wird.
"Die Wunde wird nie verheilen, aber
der Hass führt zu nichts"
Nach drei Wochen wird sie entlassen, 16 Jahre alt kommt sie bei einer Freundin unter. Dass Mutter und Schwester nach Deutschland in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert wurden, weiß sie da noch nicht. Erst im Mai 1945 werden sich die drei Frauen in Paris wiedersehen.
Ob sie keinen Hass auf die Deutschen habe? Immer wieder werde ihr diese Frage auf ihren Konzertreisen in Deutschland gestellt, berichtet Juliette Greco in ihren Erinnerungen »So bin ich eben«, die 2012 gleichzeitig in Frankreich und Deutschland erscheinen. »Diese Wunde wird nie verheilen, sage ich dann; aber der Hass führt zu nichts, das sage ich auch.« 1965 gibt sie in Ostberlin drei Konzerte an einem Tag, zwei Tage später tritt sie im Westen auf. Grenzen, so macht sie klar, sind dazu da, überwunden zu werden. In jeder Hinsicht.
Als Juliette 22 ist, verliebt sie sich in den jungen Jazztrompeter Miles Davis, es ist eine heftige und kurze Liebe, und doch hält sie auf ihre Weise ein Leben lang. Wo immer er später gastieren wird, schickt er ihr eine Nachricht, so wie an der Stockholmer Oper: »Ich bin nicht mehr da. Aber ich war es. Ich küsse dich. Ich liebe dich. Miles.« Sie verliebt sich u.a. in ihren Gitarristen, den späteren Chansonsänger Sascha Distel (und zeitweise Begleiter von Brigitte Bardot) und heiratet Ende der 60er Jahre den Schauspieler Michel Piccoli, mit dem sie zusammen mit ihrer Tochter aus einer früheren Verbindung zehn Jahre gemeinsam lebt. Sie geht, wenn es langweilig wird. Der Pianist Gerard Jouannest, der sie auf ihren Konzerten begleitet, wird 1989, da ist sie 62 Jahre alt, ihr dritter Ehemann.
Sie sagt: "Jede Art von Abhängigkeit ist mir zuwider. Da mache ich keine Ausnahme.« Und sie verliebt sich auch in Frauen, schließlich wolle sie nicht »als Idiotin sterben", sagt sie in einem Interview. "Warum sollte man nicht die gleiche sinnliche und intellektuelle Liebe für eine Frau empfinden können wie für einen Mann?"
Sie ist ihr Leben lang engagiert und kämpferisch, wenn es sein muss, auch mit den Fäusten. "Eines Tages geriet ich auf der Straße in eine Schlägerei mit einem Mann von der extremen Rechten, der verletzende rassistische Äußerungen von sich gab. Wenn ich bemerke, dass es sinnlos ist zu argumentieren, wenn Worte keinen Wert mehr haben, weil niemand ihnen zuhört, dann kann ich körperlich gewalttätig werden."
Doch ihre stärkste Waffe ist die Stimme. "Bis zum letzten Tag meines Lebens werde ich für das Recht der Menschen kämpfen, glücklich zu werden. Ich werde also kämpfen gegen den Terror, gegen die geistige Bevormundung, gegen die Gleichgültigkeit und für das einzige Gut, das zu bewahren es sich um jeden Preis lohnt: die Freiheit." Noch im hohen Alter sagt sie, und es ist durchaus als Warnung gemeint: "Ich kusche nicht."
Ihr Leben lang streitet sie auch für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung, sie spricht über ihre Abtreibungen, sie unterstützt die Linken im Wahlkampf, sie singt ihre Texte von Freiheit und Liebe im von Franco unterdrückten Spanien, im von Pinochet tyrannisierten Chile. "Nach dem Konzert kamen die Leute zu mir und haben sich bedankt, dass ich gekommen bin, obwohl ich doch nur meine Pflicht getan habe." Sie spricht über ihre Krebserkrankung, die sie mit fast 80 überfiel, über Operation und Chemo.
Kurz vor ihrer letzten Tournee im Jahr 2016 fasst Juliette Gréco im Gespräch mit einer Journalistin zusammen, was sie all die Jahre bewegt und angetrieben hat. Ein Rückblick? Es ist ein Blick nach vorn. "Ich arbeite. Ich denke viel nach. Ich bin einfach da. Für mich ist jeder Augenblick der beste Augenblick meines Lebens."
Jetzt starb Juliette Gréco mit 93 Jahren in Ramatuelle, einem Dorf bei Saint Tropez, wo sie in den letzten Jahren lebte. Nicht nur in Frankreich fließen Tränen.
Rita Kohlmaier