Prozess: Wie eine zweite Vergewaltigung
"Die Gerichtsverhandlung war wie eine zweite Vergewaltigung, ich glaube, sogar schlimmer. In der Schule hat man uns beigebracht, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Deshalb hätte ich nie geglaubt, dass in unserem Land so etwas möglich ist.“
Eine 20-jährige Frau, die null Vertrauen mehr in unseren Rechtsstaat hat, wie kann das sein? Als Charlotte 14 war, wurde sie nach einer Party vergewaltigt. Ihre Mutter arbeitet in einer Beratungsstelle. Sie wusste, was eine Anzeige bedeuten würde. Befragungen, Ausbreiten intimer Details: Wo genau hatte der Täter sie berührt, wie tief war er in sie eingedrungen, war sie zum Zeitpunkt der Tat noch Jungfrau? Die 14-Jährige schämte sich und beschloss zu schweigen. Doch der Täter hatte nicht nur vergewaltigt. Er hatte auch geklaut. Eine Freundin ging zur Polizei, zeigte den Diebstahl an und erzählte bei dieser Gelegenheit auch von Charlottes Vergewaltigung. Nun war das Ganze zum Offizialdelikt geworden und musste von Staats wegen verfolgt werden.
Ist das Mädchen überhaupt glaubwürdig?
Die erste Amtshandlung der Richterin: Sie beantragt ein Gutachten. Ist Charlotte überhaupt glaubwürdig? Hatte sie sich die Vergewaltigung nicht nur ausgedacht? Stundenlang musste Charlotte sich nun einer Befragung stellen. Was war genau passiert? Warum hatte sie sich nicht gewehrt? Wie war es zu der Tat gekommen? Die Gutachterin befand, Charlotte sei absolut glaubwürdig. Damit hätte es zügig zum Prozess kommen können, doch wieder zog sich das Ganze hin: Mal war die Gutachterin krank, mal die Richterin. Dicke Akten mussten hin- und hergeschickt werden, denn Digitalisierung ist in deutschen Gerichten immer noch ein Fremdwort. Erst dreieinhalb Jahre nach der Vergewaltigung kam es zum Prozess.
Charlotte hatte Angst, dem Täter vor Gericht erneut zu begegnen. Es beruhigte sie, dass man ihr eine Videovernehmung zugesichert hatte. Aber: Das Amtsgericht Leverkusen, wo der Prozess stattfindet, ist dafür nicht ausgestattet. Das entsprechende Equipment hätte man aus Köln herbeischaffen müssen. Doch das wurde vergessen.
Und so passiert genau das, was das Opfer nicht wollte: Es sitzt im Gerichtssaal dem Täter gegenüber, der Charlotte – so erinnert sie sich wütend – auch noch höhnisch angrinst und dem die Richterin nicht Einhalt gebietet.
Charlotte ist allein im Gerichtssaal: Eltern und Freunde dürfen sie nicht begleiten, auch nicht auf der Zuschauerbank Platz nehmen, denn sie könnten, so die Richterin, möglicherweise als Zeugen vernommen werden. Dafür sitzen die Freunde des Täters geschlossen auf der Zuschauerbank und sparen nicht mit abfälligen Kommentaren über „die Schlampe“.
Der Täter grinste
sie nur höhnisch an
Nach der langen Zeit kann sich Charlotte an einige Details nicht mehr erinnern. „Ich musste erklären, warum ich mich nicht an die Farbe meiner Unterwäsche erinnere, die ich vor drei Jahren anhatte“, erzählt sie. Sie empfindet den Umgang mit ihr wie auch den gesamten Prozess als tiefe Demütigung. „Der Täter war polizeibekannt und hatte schon viele Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs. Und ich musste mich dafür rechtfertigen, dass ich mich nicht genug gewehrt habe. Man wird als Opfer hingestellt, als sei man der Täter. So ungerecht behandelt gefühlt habe ich mich noch nie in meinem Leben.“ Der Angeklagte wird freigesprochen.
Nach dem Prozess geht es Charlotte so schlecht, dass sie eine Traumatherapie beginnt. Ruth Reimann, Direktorin des Amtsgerichts, räumt auf Nachfrage ein, dass es in dem Verfahren „Versäumnisse“ gegeben habe, allerdings meint sie damit die drei Jahre Wartezeit. Das Gutachten sei mit Verzögerung erstellt worden, Krankheiten hätten den Prozessbeginn weiter verzögert. Es sei „immer unbefriedigend, wenn Straftaten nicht zeitnah abgeurteilt werden können“.
Ob sie ihrer Tochter raten würde, im Fall einer Vergewaltigung vor Gericht zu gehen? Natürlich! sagt die Juristin. Man muss sich doch wehren.
Aber kann man das überhaupt?
Rita Knobel-Ulrich (die für das ZDF die Doku "Im Namen des Volkes - Justiz vor dem Kollaps" gemacht hat, berichtet in EMMA von weiteren Fällen, die das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern.