Wird eine schwarze Frau US-Präsident?
Den Ton setzte Kamala Harris gleich bei ihrer ersten Rede in der Wahlkampfzentrale der DemokratInnen. „Ich kenne Typen wie Donald Trump. Ich habe es mit Verbrechern aller Art aufgenommen“, ließ die erste amerikanische Vizepräsidentin und Präsidentschaftskandidatin der Demokraten Ende Juli in Delaware wissen und holte aus. Verbrecher, die Frauen missbrauchten, Betrüger, die Konsumenten über den Tisch zogen, und Schwindler, die zur eigenen Bereicherung Gesetze brachen – sie alle hätten die 59-Jährige schon in ihrer Zeit als Bezirksstaatsanwältin und Justizministerin in Kalifornien beschäftigt. „Während des Wahlkampfes werde ich meine Vergangenheit voller Stolz Donald Trumps Vergangenheit gegenüberstellen“, spielte Harris auf dessen Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs und der Fälschung von Geschäftsunterlagen an.
Die WahlhelferInnen in der Zentrale in Wilmington jubelten, KommentatorInnen amerikanischer Medien sprachen von „Angriffslust“, „Kriegserklärung“ und „Fehdehandschuh“. Trump revanchierte sich prompt. Bei einem Wahlkampfauftritt im Südstaat North Carolina wetterte der frühere Bewohner des Weißen Hauses und Präsidentschaftskandidat der RepublikanerInnen wenige Tage später gegen eine „lügende Kamala Harris“ und erklärte sie zum „nächsten Opfer einer Niederlage“. Seine Gegenkandidatin bei der Stimmabgabe am 5. November sei unfähig, stehe zu weit links und gefährde die Demokratie in den Vereinigten Staaten. Ihre Haltung zu Abtreibung und Waffenrecht entlarve „Kamala“ als radikale, verrückte Frau.
Dass der selbsternannte Alpha-Mann Trump gegen eine Frau wie Harris ins Rennen um das Weiße Haus geht, tut seinem Stolz offenbar nicht gut. Die Juristin gilt als selbstbewusst, kämpferisch und gut vernetzt. Nach dem plötzlichen Rückzug von Präsident Joe Biden als Kandidat der Demokratischen Partei trat sie nicht nur innerhalb weniger Stunden dessen Nachfolge an und versicherte sich der Unterstützung der meisten demokratischen GouverneurInnen und Kongressabgeordneten. Sie ließ auch Wahlkampfspenden fließen: 81 Millionen Dollar in nur 24 Stunden, die bis dahin größte Summe der Kampagne 2024 bei DemokratInnen und RepublikanerInnen.
Nach dreieinhalb eher blassen und von den Medien unbemerkten Jahren als Bidens Stellvertreterin begann Harris nun, an ihrem Profil zu arbeiten. Sie ist die Tochter eines jamaikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und einer indischstämmigen Brustkrebsforscherin, die ihre beiden Töchter allein großzog. Kamalas indische Großmutter war aktive Frauenrechtlerin.
Jeder Amerikaner und jede Amerikanerin, kündigte Harris in Wilmington an, solle in der Lage sein, sich den amerikanischen Traum von Aufstieg und Bildung zu erfüllen. Das eigene Haus, gesicherte Altersversorgung und eine Krankenversicherung sollten für alle erreichbar sein. „Wir müssen die Mittelklasse wieder aufbauen“, forderte Harris und warf Trump vor, Reiche steuerlich entlasten zu wollen und NormalverdienerInnen durch die geplante Abschaffung des Affordable Care Act zu vernachlässigen, ein Gesetz zur Ausweitung der Krankenversicherung aus den Obama-Jahren. Als „Running Mate“, also potenziellen Vizepräsidenten, holte sich die Akademikertochter Tim Walz an ihre Seite. Ein „Kämpfer für die Mittelschicht“ sei der ehemalige Erdkunde-Lehrer, Veteran und Football-Coach aus Nebraska, erklärte Harris. Der Gouverneur von Minnesota soll Stimmen in den wahlentscheidenden Swing States holen, und hier besonders die deklassierten weißen Männer überzeugen, die sich von den Demokraten abgewandt haben.
Angreifbar ist Harris bei Themen wie Fracking und Grenzschutz. Als die Demokratin im Jahr 2019 zum ersten Mal als Präsidentschaftsbewerberin antrat, hatte sie versprochen, sich nach einem Einzug in das Weiße Haus für ein Verbot der umstrittenen Methode bei der Förderung von Öl und Gas stark zu machen. Nach ihrem Amtsantritt als Vizepräsidentin 2021 setzte die erklärte Umweltschützerin das Fracking als Mitglied der Regierung Biden jedoch fort. Auch bei der Sicherung der Grenze zu Mexiko fiel Harris durch eine Kehrtwende auf. Trotz früherer Beteuerungen, die Einwanderungsbehörde (ICE) abschaffen zu wollen, um mehr EinwanderInnen ins Land zu lassen, deutete sie an, viele von ihnen nach Bidens Vorbild an der Grenze zurückzuschicken, ohne ihre Asylanträge zu prüfen.
Vor allem in von beiden Parteien besonders umkämpften Bundesstaaten wie Pennsylvania, Georgia, Nevada und Arizona, sogenannte Swing States, dürfte Harris’ Zickzackkurs nicht gut ankommen.
Das größte Potential, Trump am 5. November zu besiegen, bietet das Thema Abtreibung. Da Biden als gläubiger Katholik immer wieder beteuerte, „kein großer Freund von Schwangerschaftsabbrüchen“ zu sein, hatte sich seine Vize in den vergangenen Jahren regelmäßig für das Recht auf Abtreibung stark gemacht. Als der Oberste Gerichtshof nach Trumps Nominierung von drei konservativen RichterInnen im Sommer 2022 das in der Grundsatzentscheidung Roe v. Wade festgeschriebene landesweite Abtreibungsrecht strich, warf sie der Republikanischen Partei Frauenfeindlichkeit vor. „Wie kann sie es wagen, Gesetze als Waffen gegen Frauen einzusetzen?“, schimpfte Harris. Im vergangenen März besuchte sie als erste Stellvertreterin eines amerikanischen Präsidenten eine Klinik der Organisation Planned Parenthood Action Fund (PPAF), die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. „Wir erleben eine Krise des Gesundheitssystems. Vielen Frauen bleibt keine Wahl, weil Einrichtungen wie diese schließen müssen“, mahnte Harris bei ihrem Stopp in Minnesota während der Tour „Kampf für reproduktive Freiheit“.
Das Thema Abtreibung, erkannten die ManagerInnen der damaligen Kampagne Biden-Harris, bringt neben Stimmen junger WählerInnen auch die von AfroamerikanerInnen und hispanisch-stämmigen EinwanderInnen. Seit der Supreme Court vor zwei Jahren das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche kippte, kehrte die Mehrheit der AmerikanerInnen der Republikanischen Partei beim Thema Abtreibung den Rücken. Bei einer Erhebung des Pew Research Center gaben im Frühjahr mehr als 60 Prozent der Befragten an, dass Abtreibungen in allen oder den meisten Fällen legal sein sollten. So passt es gut in Harris’ Konzept, dass nach dem Urteil des Supreme Court ihr „Running Mate“ Tim Walz in Minnesota das Recht auf Abtreibung in der Landesverfassung verankerte.
Für Trump könnte der Kampf um Schwangerschaftsabbrüche und reproduktive Rechte zum Pulverfass werden. Der 78-Jährige und sein „Running Mate“ J. D. Vance deuteten zwar an, die Entscheidung über Abtreibung den einzelnen Bundesstaaten überlassen zu wollen. Bei ihrem Parteitag in Milwaukee sprachen sich die RepublikanerInnen im Juli aber auch für die Theorie der „fetal personhood“ aus, nach der eine befruchtete Eizelle einen Menschen mit allen verfassungsmäßigen Rechten darstellt. Gemäßigte VertreterInnen der Republikanischen Partei mahnen allerdings immer wieder, dass dieses Konstrukt neben einem landesweiten Abtreibungsverbot auch ein Verbot künstlicher Befruchtung und bestimmter Verhütungsmethoden einläuten könnte. Um weder konservative, evangelikale ParteianhängerInnen noch liberalere WählerInnen vor den Kopf zu stoßen, versucht Trump nun, das Thema zu umschiffen. Harris wird von ihm und seinen UnterstützerInnen in die Radikalenecke gedrängt. „Joe Biden konnte das Wort ,Abtreibung‘ nicht mal aussprechen. Kamala Harris schreit es aus voller Kehle“, warf Marjorie Dannenfelser, Sprecherin der Organisation Pro-Life America, der Vizepräsidentin vor.
Wie die Verfahrensliste des Obersten Gerichtshofs zeigt, hat die Debatte über das Recht auf Abtreibung, in den Vereinigten Staaten der Maßstab für Frauenrechte und Gleichstellung, nun einen weiteren Höhepunkt erreicht. In der vergangenen Sitzungsperiode stand sie gleich zweimal auf dem Programm. In einem Fall bestritten sogenannte Pro-Lifer die Rechtmäßigkeit der Zulassung der Abtreibungspille Mifepriston durch die Arzneimittelbehörde des amerikanischen Gesundheitsministeriums (FDA). In einem weiteren Fall ging es um den angeblichen Widerspruch zwischen einem Bundesgesetz, das eine Notfallversorgung in Krankenhäusern verlangt, und einer Regelung in Idaho, die Abtreibungen nur erlaubt, falls das Leben der Frau in Gefahr ist. Mit dem Verweis auf Formales gab der Supreme Court beide Fälle ohne Entscheidung zurück an die Gerichte in Texas und Idaho.
Beobachter gehen davon aus, dass sie im kommenden Jahr unter einer Regierung Harris oder einer Regierung Trump in Washington verhandelt werden. „Abtreibungsmedikamente stellen die größte Gefahr für ungeborene Kinder in der Welt nach dem Ende von Roe v. Wade dar. Die FDA sollte die Zulassung widerrufen“, gibt die konservative Denkfabrik Heritage Foundation mit „Project 2025“ die Marschrichtung für eine eventuelle zweite Amtszeit Trumps vor.
Wie erwartet, plant der mehr als 900 Seiten lange Leitfaden auch ein Rollback der Rechte der LGBTQ+-Community. „Familien, die aus einer verheirateten Mutter, einem Vater und ihren Kindern bestehen, bilden das Fundament für eine geordnete Nation und eine gesunde Gesellschaft“, fasst die Heritage Foundation zusammen. Gleichgeschlechtliche Paare, Frauen ohne Kinder und Transgender, legt der Think Tank nahe, passen nicht in das Bild des traditionellen, bibelfesten Amerikas.
Die meisten Stimmen von LGBTQ+-Organisationen wie Equality Federation, GLAAD und Human Rights Campaign sind Harris spätestens durch „Project 2025“ sicher. Die Kandidatin der DemokratInnen, die von Trumps möglichem Vize Vance als „kinderlose Katzen-Frau“ beschimpft wurde, gilt bei Homo-Ehe und Schutz von Lesben und Schwulen als Vorreiterin. Beim Thema Transsexualität schneidet die Vizepräsidentin, die mit dem Medienanwalt Doug Emhoff verheiratet ist, gemischt ab. Als kalifornische Justizministerin wurde sie im Jahr 2015 von der Trans-Community beschimpft, weil sie einem transsexuellen Mann im Gefängnis eine geschlechtsangleichende Operation verwehrte. Inzwischen wird Harris von Vereinen wie „Advocates for Trans Equality“ (A4TE) aber für ihr Engagement gefeiert. Sie hatte Trans-Menschen unter anderem zu einem neutralen „X“ als Geschlechtsidentität in Ausweisen verholfen und Mittel für ihre mentale Gesundheit bereitgestellt. „Seit Kamala Harris als erste Woman of Color die Vizepräsidentschaft angetreten hat, beweist sie unermüdlichen Einsatz“, begründete A4TE die Unterstützung ihrer Kandidatur.
Auch bei Israel und Gaza ist Harris‘ Haltung nicht so eindeutig, wie es vielen DemokratInnen lieb wäre. Bei einem Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Juli sagte sie zwar zu, Bidens Politik der Unterstützung Israels fortzusetzen und die militärische Hilfe nicht zu stoppen. Sie verwies aber auch auf die menschliche Katastrophe der PalästinenserInnen in Gaza.
Trump, der selbsternannte „beste Freund Israels“, verurteilte Harris’ Bedenken reflexartig als Affront gegen Netanjahu und Israel. Wie nach dem Treffen der Präsidentschaftskandidatin mit Netanjahu in Washington durchsickerte, ging Harris’ Verweis auf das Leid in Gaza auch einigen demokratischen MitstreiterInnen zu weit. Sie habe Israels Recht auf Selbstverteidigung zwar zurecht anerkannt. Harris’ Erinnern an getötete Kinder, Hunger und Familien auf der Flucht relativiere jedoch die Verbrechen der radikalislamistischen Hamas während des Anschlags auf Israel.
Harris’ Ukraine-Politik scheint da schon eindeutiger. „Die Vizepräsidentin ist eine starke Verfechterin der Fortsetzung der amerikanischen Unterstützung der Ukraine. Sie hat immer wieder wissen lassen, den Menschen des Landes bei der Verteidigung gegen die brutale russische Aggression zu helfen“, bettete das Weiße Haus ihre Haltung in die Debatte über militärische Unterstützung und einen NATO-Beitritt Kiews ein. Bei der Schweizer Friedenskonferenz für die Ukraine hatte Harris die Bedingungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin für ein Kriegsende im Juni als „Forderung nach einer Kapitulation“ zurückgewiesen.
Trump scheint dagegen auf Druck und ein schnelles Kriegsende zu setzen. Falls der Republikaner im November gewinnt, deuten seine BeraterInnen an, könnte er weitere amerikanische Waffenlieferungen an die Bereitschaft der Ukraine zu Friedensverhandlungen knüpfen – samt Gebietsabtretungen an Russland.
Trump greift an: „Kamala Harris lässt sich mit zwei Worten beschreiben: bösartig und dumm. Das ist eine üble Mischung.“ Die ehemalige amerikanische Außenministerin und First Lady Hillary Clinton, die bei den Wahlen 2016 gegen Trump antrat, verurteilte die Tiraden als Sexismus. „Ich wurde als Hexe, fiese Zicke und Schlimmeres beschimpft. Als erste schwarze und südasiatische Frau an der Spitze einer großen Partei kommt auf Frau Harris noch mehr zu“, prognostizierte Clinton in der New York Times.
Amerika steht also eine echte Wahl bevor: Zwischen einem weißen Macho, der allerdings ankündigt, den Krieg zu beenden – und einer schwarzen Frau, die ihn weiterführen will.
CHRISTIANE HEIL