Kamala heißt Lotusblüte
In Thulasendrapuram, dem kleinen Ort mit dem ellenlangen tamilischen Namen, wird schon jetzt Diwali gefeiert, obwohl Indiens höchster Feiertag erst auf den kommenden Samstag fällt. Kracher knallen, Feuerwerk erhellt den dunklen Nachthimmel über dem Kokospalmenwald, in festliche Saris gekleidete Frauen und Männer in frischen weißen Dhotis bringen Blumen und Obst zur Puja in den kleinen blauen Tempel, vor dessen Eingangstor eine ganze Heerschar steinerner Gottheiten die Leute willkommen heißt.
Im Tempelhof werden Süßigkeiten und Essen für alle verteilt, Idlis und Sambar, die traditionellen Reiskuchen mit aromatischer Sauce. Und Kokosnüsse werden am Boden zerschmettert, am besten 102 Stück, das ist eine lucky number. Thulasendrapuram feiert die frischgekürte amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris so, als wäre sie bereits die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten. Dass es bis dahin nur noch den berühmten Herzschlag weit ist, davon sind die Leute überzeugt. „Der Biden ist alt“, sagen sie, „und gesund sieht er auch nicht aus“.
"Sie ist schließlich unsere Tochter", sagen die Dorfbewohner von Thulasendrapuram
Wohl kein indisches Dorf hat so mitgefiebert bei der endlosen Stimmenzählung wie Thulasendrapuram. Überall dort ist Kamala Harris präsent. Auf zahlreichen Plakaten steht sie lächelnd vor einem riesenhaften Kapitol, kunstvolle Rangolis, aus buntem Puder gefertigte Gemälde vor den Hütten wünschen ihr Glück, in den Hütten prangt ihr Foto gleich unter dem Bild von Gandhi. Wer eine Satellitenschüssel besitzt, hatte in letzter Zeit Tag und Nacht Dauerbesuch von der Nachbarschaft, denn im Fernsehen war ja alles noch viel aufregender als auf dem Handy. Natürlich erhofft man sich auch - auf gut indische Weise - etwas von Kamala. „Wir hätten so gern ein College“, heißt es.
„Sie ist schließlich unsere Tochter“, sagen die Leute in Thulasendrapuram stolz, denn nun fällt ein bisschen Glanz auch auf sie. Dabei ist das mit der Tochter so eine Sache. Die 56-Jährige war, wenn überhaupt, nur einmal im Dorf, und das ist mindestens 50 Jahre her. Geboren in Thulasendrapuram dagegen wurde ihr Großvater P.V. Gopalam. Zwar zog auch der schon als junger Mann, so etwa vor 90 Jahren, fort nach Madras, das heute Chennai heißt. Aber jeder Inder hat sowieso „sein“ Dorf, und 90 Jahre sind schließlich keine Zeit, wenn man in Jahrtausenden rechnet, was die Inder gerne tun.
Obwohl Kamalas Mutter Shyamala, eine nach Amerika ausgewanderte erfolgreiche Krebsforscherin, die jung einen schwarzen Wissenschaftler aus Jamaika geheiratet hatte, ihre Töchter bewusst als „schwarze“ Mädchen aufzog, legte sie großen Wert darauf, dass die beiden sich auch ihrer indischen Identität bewusst blieben. Nicht nur gab sie ihnen Sanskrit-Namen, Kamala heißt Lotus; sondern sie fuhr auch regelmäßig mit den Kleinen nach Indien zu den Großeltern nach Madras.
Kamalas Mutter, die aktiv in der Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung war, hatte den Kindern schon früh beigebracht, was Gleichheit und Gerechtigkeit heißt. Der Großvater, ein hoher brahmanischer Beamter, der seine Sporen in den Freiheitskämpfen Indiens verdient hatte, machte ihnen zusätzlich klar, was Demokratie und Unabhängigkeit bedeutet. „Das hat mich geprägt“, sagt die Juristin Kamala. Trump nennt sie deshalb eine „grässliche Frau“.
Harris ist die erste Frau auf dem Posten des Vizepräsidenten - nach 48 Männern
Freilich sind nicht alle Inder solche Fans der nächsten Vizepräsidentin wie die Leute von Thulasendrapuram. Die Anhänger des Premierministers Modi halten sie für anti-indisch, weil sie als überzeugte Liberale die Unterdrückung der Minderheiten, die Menschenrechtsverletzungen und die rücksichtslose Aufkündigung des von der Verfassung garantierten Sonderstatus von Kaschmir kritisiert hat. Trump hatte so etwas ferngelegen. Ihn verband schließlich eine Männerfreundschaft mit dem autoritären Modi. Beide hatten sogar jeweils für den anderen Wahlkampf gemacht.
Kamala Harris hat nicht nur die männliche Dominanz auf dem Posten der Vizepräsidenten beendet - alle 48 vor ihr waren Männer -, sondern sie ist als erste Angehörige einer Minderheit so hoch aufgestiegen, dass sie gute Chancen hat, sogar noch Präsidentin der USA zu werden. Der etwa vier Millionen starken indischen Diaspora ist das bisher nicht klar. Eigentlich haben die indisch-stämmigen Amerikaner immer mehrheitlich die Demokraten gewählt. Aber da die meisten betuchte Geschäftsleute sind, bekam diesmal der angeblich so wirtschaftsfreundliche Trump einen guten Anteil ihrer Stimmen.
Viele finden auch, dass sie nicht ausreichend „indisch tickt“, und fürchten, sie werde sich nicht genug für die Interessen Indiens einsetzen. Wobei offenbar völlig vergessen wird, dass es Aufgabe einer amerikanischen Vizepräsidentin ist, sich für die Interessen ihres Landes zu verwenden, und das sind nun einmal die Vereinigten Staaten. Kamala Harris ist nämlich ein typisches Produkt des Schmelztiegels Amerika und seiner multikulturellen Gesellschaft. Deshalb wird ihr Aufstieg von so viel Begeisterung, aber auch von vielen Hoffnungen begleitet. Übrigens nicht nur in den USA, sondern auch in Afrika und in Südasien. Und ganz besonders von den Frauen.
GABRIELE VENZKY