Tag der Pflege: Protest in Berlin!

Tag der Pflege: Heute wird der Protest vor das Gesundheitsministerium gebracht. Foto: imago/Stefan Zeitz
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Frau Ohlerth, was passiert zurzeit in den Heimen?
Eva Ohlerth Es ist die reine Katastrophe. Corona verschärft die ohnehin dramatische Situation in den Heimen. Es gibt viel zu wenig Pflegekräfte. Nun sind es noch weniger, da viele in Quarantäne oder krank sind. Und jetzt dürfen auch die Angehörigen nicht mehr kommen.

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Eine Sicherheitsmaßnahme…
Ja, nur mit welchen Folgen? Die Angehörigen leisten mittlerweile einen großen Teil der Pflege in den Heimen, weil die Pflegerinnen es allein nicht mehr schaffen. Sie gehen mit ihren Angehörigen zur Toilette, geben ihnen zu essen, ziehen sie um, halten die Hand und reden mit ihnen. Das alles bricht nun weg. Die Menschen werden völlig allein gelassen. Auf den Gängen hört man Schreie der Verzweiflung. Demenzkranke verstehen nicht, warum niemand mehr kommt. Sie sind verzweifelt. Und die Pflegerinnen auch.

Glauben Sie, dass um das Leben von Pflegeheim-BewohnerInnen noch gekämpft wird?
Nein, das glaube ich nicht. Wenn Kliniken entscheiden müssen, wen sie noch aufnehmen können, werden das sicher keine alten Menschen sein. Sie werden geopfert. Corona ist nicht der einzige Grund für die vielen Toten.

Die Menschen sterben nicht nur wegen Corona?
Nein, sie sterben auch aufgrund der Pflegesituation durch chronische Unterversorgung. Die Menschen in Heimen sind in Panik und dazu verdammt, vor sich hin zu vegetieren. Sie starren weiße Decken an, werden nicht mehr ordentlich versorgt. Das Desinfektionsmittel wird knapp, die Handschuhe auch. Weil viele Heime keine Masken und Schutzkleidung haben, dürfen wir nicht einmal mehr die Hand halten, wenn jemand stirbt. Es ist ein würdeloses Warten auf den Tod. Es ist ein einsames Sterben. Und das ist es bereits seit vielen Jahren.

Immerhin schauen die Menschen gerade auf die Pflegeheime…

Ja, hoffentlich genau! Und nicht nur wegen Corona. Ältere Menschen sind schon vor Corona allein gestorben. Es ist Usus, dass eine Pflegerin nachts für 90 oder mehr BewohnerInnen allein zuständig ist. Sie hat oft nicht die Zeit Sterbebegleitung zu machen oder Angehörige anzurufen. Wo bleiben die Gewerkschaften? Wo bleibt Verdi? Diese Missstände sind lange bekannt.

Eva Ohlert: Gewalt bedeutet nicht nur Schläge. Es beginnt ja schon damit, wie jemand angesprochen wird.
Eva Ohlert: Gewalt bedeutet nicht nur Schläge. Es beginnt ja schon damit, wie jemand angesprochen wird.

Warum haben wir so lange weggeschaut?
Weil ältere Menschen all das sind, was wir nicht sein wollen. Alt, krank, wie Kinder auf Hilfe angewiesen. Würde man Kinder in den Kitas so behandeln wie ältere Menschen in Heimen behandelt werden, würden Eltern mit Steinen werfen – und das zurecht. Alte Menschen sind eine willenlose Verfügungsmasse. Ihnen werden Windeln angezogen, obwohl sie sie nicht brauchen, weil es Zeit spart. Einigen werden die Haare abgeschnitten, weil sie dann nicht mehr gekämmt werden müssen und das Zeit spart. Sie müssen manchmal auf einem Toilettenstuhl das Mittagessen einnehmen, weil das Zeit spart. Und sie werden auch geschlagen und angeschrien, wenn sie nicht funktionieren.

Ist Gewalt die Regel oder die Ausnahme?
Ich würde leider sagen, die Regel, da Gewalt viele Facetten hat. Und wie ich von Kolleginnen höre, verschärft Corona auch diese Gewalt noch. Gewalt bedeutet nicht nur Schläge. Es beginnt ja schon damit, wie jemand angesprochen wird. Ich habe erlebt, wie Menschen das Essen in den Mund gerammt wurde, wenn sie nicht schnell genug gegessen haben. Es gibt Pflegekräfte, die sind selbst so am Limit, dass sie einfach ausrasten, wenn sie aufgehalten werden. Und dann gibt es auch Pflegekräfte, die haben eine sadistische Ader, weil sie den Job gar nicht machen wollen. Viele sind ungelernt. In der Pflege wird so händeringend Personal gesucht, dass praktisch jeder genommen wird. Ohne Ausbildung, ohne jegliche Affinität für den Job, ohne deutsche Sprachkenntnisse.

Und es ist ein Frauenjob...
Ja, das ist der Großteil des Problems. Frauen nehmen viel zu viel hin, lassen sich ohne Ende ausnutzen. Viele Pflegerinnen trauen sich nicht einmal zu sagen, was im Heim passiert. Wer den Mund aufmacht, so wie ich, ist oft der Nestbeschmutzer und wird gemobbt. Nach Geld zu fragen, gilt unter Frauen als unmoralisch. Dabei trägt das System die Hauptschuld. Die Träger, die nur wirtschaftlich denken und das auf dem Rücken der Angestellten austragen. Mit all diesen netten Worten rund um Hingabe und Berufung werden wir Frauen manipuliert. Männer würde man damit nicht kleinkriegen. Die Pflege ist ein harter Beruf, körperlich wie geistig. Es braucht eine fundierte, professionelle Ausbildung, ein vernünftiges Gehalt und gesellschaftliche Anerkennung.

Die Mai/Juni-EMMA.
Die Mai/Juni-EMMA.

Was muss passieren?
Politisch muss die Professionalisierung des Berufs verankert werden. Wir müssen dilettantische Führungskräfte entlassen. Wir müssen wieder Teams aufbauen, anstatt gegeneinander zu arbeiten. Wir brauchen Pflegekräfte, die Deutsch können. Ein vernünftiges Gehalt ist ein Einstiegsgehalt von mindestens 4000 Euro brutto für diesen Beruf. Das ist angemessen, und das sage ich ganz offen. Wir brauchen unbedingt menschenwürdige Arbeitsbedingungen.

Weiterlesen
Eva Ohlerth: "Alptraum Pflegeheim: Eine Altenpflegerin gibt Einblick in skandalöse Zustände" (Riva Verlag)

Hier geht es zur Petition: Change.org Corona-Krise Gemeinsamer Aufruf von Pflegekräften

Mehr über die Zukunft der so wichtigen Arbeit mit Menschen in den systemrelevanten Frauenberufen steht in der aktuellen Mai/Juni-EMMA. Am Kiosk und im EMMA-Shop!

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Wulf-Mathies: "Jetzt ist die Zeit reif!"

Foto: Rainer Unkel/imago images
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Frau Wulf-Mathies, Sie dürften zum ersten Mal erleben, dass Kassiererinnen und Krankenschwestern applaudiert wird und diese Berufe plötzlich als „systemrelevant“ bezeichnet werden. Wie findet das die Gewerkschafterin?
Das Klatschen für die Frauen ist ja nett, aber davon haben sie noch keinen zusätzlichen Euro auf dem Konto. Deshalb ist es wichtig, dass die Gewerkschaften jetzt die Gunst der Stunde nutzen. Jetzt haben sie Schützenhilfe von der Politik und der Öffentlichkeit. Sie müssen das Thema auf der Tagesordnung halten, denn die Menschen vergessen ja leider sehr schnell, sobald der Normalbetrieb wieder einsetzt. Wenn die Corona-Krise vorbei ist, müssen Politik, Gewerkschaften, aber auch die Gesellschaft insgesamt ein umfangreiches Pflichtenheft abarbeiten. In dem Applaus für die Frauen steckt nämlich die Verpflichtung, sich auch hinterher um die Dinge zu kümmern, die nicht in Ordnung sind.

Welche Aufgaben stehen in dem Pflichtenheft?
1. Der Mindestlohn in den systemrelevanten Frauenberufen muss steigen. 2. Die Arbeitgeber müssen darüber hinaus bei den anstehenden Tarifverhandlungen kräftig zulegen und den vielen wunderbaren Erklärungen, die sie jetzt über die Systemrelevanz dieser Berufe abgeben, endlich Taten folgen lassen. 3. Die Ausbildung im Bereich Krankenpflege muss verbessert und besser bezahlt werden. 4. Die Arbeitsbedingungen in all diesen Berufen müssen verbessert werden. Das gilt für die Kassiererin wie für die Kranken- oder Altenpflegerin. Da geht es nämlich nicht nur um die Bezahlung, sondern auch um die Personalschlüssel und die Wertschätzung dieser Berufe. 5. Der Gesundheitsschutz in den Pflegeberufen muss verbessert werden. Es kann doch nicht angehen, dass nicht einmal ausreichend Masken und Schutzanzüge vorhanden sind. Allerdings muss man den Bürgerinnen und Bürgern auch sagen: Wenn wir alle wollen, dass die Frauen in der Pflege besser verdienen und die Personalschlüssel erhöht werden, dann wird sehr wahrscheinlich der Krankenkassenbeitrag steigen müssen.

Es gibt in 14 Berufsgruppen branchenspezifische Mindestlöhne. Nur drei davon sind so genannte Frauenberufe: die Gebäudereinigung, die Wäscherei- und Textilbranche und die Pflege. Der Mindestlohn in der Pflege ist erst 2010 eingeführt worden.
Dass der Mindestlohn in der Pflege eingeführt wurde und jetzt steigen soll, hängt damit zusammen, dass die Branche Probleme hat, überhaupt noch Menschen in diesen Beruf reinzukriegen und sie dann zu halten. Und da geht es nicht nur um die Bezahlung. Die Pflegerinnen haben immer weniger planbare Dienste, immer mehr Nachtdienste, immer weniger Zeit für das, was Pflege ausmacht. Sie arbeiten ständig am Limit, zumal sie ja in der Regel auch noch für die Familie zuständig sind. Es geht hier schließlich um unser reaktionäres Frauenbild in Deutschland, das Frauen noch immer kein wirklich uneingeschränktes Recht auf Berufstätigkeit zugesteht. Frauen sollen sich nach wie um die Familie kümmern und dem Mann den Rücken freihalten. Dazu passt, dass Pflege früher als Heilhilfsberuf bezeichnet wurde und nicht als eigenständiges Berufsbild anerkannt war – mit fatalen Folgen für die Bezahlung.

Sind Gehälter und Arbeitsbedingungen von Altenpflegerinnen und Krankenschwestern im Vergleich zu früher schlechter geworden?
Sie hinken zumindest weiter hinterher, während in so genannten Männerberufen große Schritte nach vorn gemacht wurden.Gerade die Krankenschwestern oder Erzieherinnen hätten ja eine enorme Macht, wenn sie streiken würden. Aber sie tun es nur selten.Das hat was mit dem Berufsethos zu tun, weil die Frauen in diesen Berufen eben die Verantwortung für Menschen haben. Dass Müllmänner und Busfahrer streiken, ist normal. Das entspricht ja auch eher dem Bild gewerkschaftlicher Interessenvertretung als die helfenden Hände der Krankenschwester. Aber es hat natürlich auch etwas mit dem Organisationsgrad zu tun. Der ist in diesen Berufsgruppen nicht sehr hoch, zumal hier auch viele Frauen in Teilzeit und in prekären Arbeitsverhältnissen ohne Tarifvertrag arbeiten.

Der Handelsverband HDE hat angekündigt, bei den Kassiererinnen die geplante Tariferhöhung auszusetzen. Keine Rede mehr von Prämien. Was erwarten Sie von Politik und den Gewerkschaften?
Das Problem ist, dass der Handel ja nicht nur aus den großen Lebensmittel-Discountern besteht, die jetzt enorme Zuwächse haben. In anderen Läden, die jetzt geschlossen haben, sieht das schon anders aus. Und einem Unternehmen wie Karstadt/Kaufhof ging es schon vor Corona schlecht. Staatshilfen dürfen deshalb keinesfalls von Lohnverzicht abhängig gemacht werden. Hier müssen die Gewerkschaften aufpassen, dass nicht wieder die Arbeitnehmer die Zeche bezahlen müssen.

Und was kann die Politik tun?
Die Politik legt ja leider die Tariflöhne nicht fest. Aber sie kann angemessene Löhne in systemrelevanten Berufen für allgemeinverbindlich erklären. Außerdem habe ich die Ankündigung von Finanzminister Scholz, Prämien z. B. für Kassiererinnen bis 1.500 Euro steuerfrei zu stellen, als Wink mit dem Zaunpfahl an die Unternehmen empfunden: Leute, jetzt müsst ihr den Frauen auch was geben! Das Argument, dass sie davon wegen der Besteuerung ja gar nichts hätten, hat der Minister den Arbeitgebern damit aus der Hand geschlagen. Ich war dann allerdings ziemlich baff, als ich gehört habe, dass die Prämien 100 oder 200 Euro betragen sollen. Das ist wirklich lächerlich. Dagegen ist die Sonderprämie von 1.500 Euro, die ver.di mit den Arbeitgebern ausgehandelt hat, ein positives Signal und ein wichtiger erster Schritt. Aber das genügt nicht. Wir brauchen dauerhaft bessere Arbeitsbedingungen und eine Bezahlung, die der Verantwortung der Pflegeberufe gerecht wird.

Gibt es Länder, die es besser machen als wir?
Ja. In Skandinavien arbeiten viel mehr Männer in diesen Berufen. Dadurch werden sie besser bezahlt, die Bedingungen sind besser und die Wertschätzung ist höher. In Skandinavien sind übrigens 90 Prozent der Pflegerinnen und Pfleger in der Gewerkschaft. Ich kann deshalb nur sagen: Frauen, organisiert euch!

Das Gespräch führte Chantal Louis.
 

 

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