Tag der Pflege: Protest in Berlin!
Frau Ohlerth, was passiert zurzeit in den Heimen?
Eva Ohlerth Es ist die reine Katastrophe. Corona verschärft die ohnehin dramatische Situation in den Heimen. Es gibt viel zu wenig Pflegekräfte. Nun sind es noch weniger, da viele in Quarantäne oder krank sind. Und jetzt dürfen auch die Angehörigen nicht mehr kommen.
Eine Sicherheitsmaßnahme…
Ja, nur mit welchen Folgen? Die Angehörigen leisten mittlerweile einen großen Teil der Pflege in den Heimen, weil die Pflegerinnen es allein nicht mehr schaffen. Sie gehen mit ihren Angehörigen zur Toilette, geben ihnen zu essen, ziehen sie um, halten die Hand und reden mit ihnen. Das alles bricht nun weg. Die Menschen werden völlig allein gelassen. Auf den Gängen hört man Schreie der Verzweiflung. Demenzkranke verstehen nicht, warum niemand mehr kommt. Sie sind verzweifelt. Und die Pflegerinnen auch.
Glauben Sie, dass um das Leben von Pflegeheim-BewohnerInnen noch gekämpft wird?
Nein, das glaube ich nicht. Wenn Kliniken entscheiden müssen, wen sie noch aufnehmen können, werden das sicher keine alten Menschen sein. Sie werden geopfert. Corona ist nicht der einzige Grund für die vielen Toten.
Die Menschen sterben nicht nur wegen Corona?
Nein, sie sterben auch aufgrund der Pflegesituation durch chronische Unterversorgung. Die Menschen in Heimen sind in Panik und dazu verdammt, vor sich hin zu vegetieren. Sie starren weiße Decken an, werden nicht mehr ordentlich versorgt. Das Desinfektionsmittel wird knapp, die Handschuhe auch. Weil viele Heime keine Masken und Schutzkleidung haben, dürfen wir nicht einmal mehr die Hand halten, wenn jemand stirbt. Es ist ein würdeloses Warten auf den Tod. Es ist ein einsames Sterben. Und das ist es bereits seit vielen Jahren.
Immerhin schauen die Menschen gerade auf die Pflegeheime…
Ja, hoffentlich genau! Und nicht nur wegen Corona. Ältere Menschen sind schon vor Corona allein gestorben. Es ist Usus, dass eine Pflegerin nachts für 90 oder mehr BewohnerInnen allein zuständig ist. Sie hat oft nicht die Zeit Sterbebegleitung zu machen oder Angehörige anzurufen. Wo bleiben die Gewerkschaften? Wo bleibt Verdi? Diese Missstände sind lange bekannt.
Warum haben wir so lange weggeschaut?
Weil ältere Menschen all das sind, was wir nicht sein wollen. Alt, krank, wie Kinder auf Hilfe angewiesen. Würde man Kinder in den Kitas so behandeln wie ältere Menschen in Heimen behandelt werden, würden Eltern mit Steinen werfen – und das zurecht. Alte Menschen sind eine willenlose Verfügungsmasse. Ihnen werden Windeln angezogen, obwohl sie sie nicht brauchen, weil es Zeit spart. Einigen werden die Haare abgeschnitten, weil sie dann nicht mehr gekämmt werden müssen und das Zeit spart. Sie müssen manchmal auf einem Toilettenstuhl das Mittagessen einnehmen, weil das Zeit spart. Und sie werden auch geschlagen und angeschrien, wenn sie nicht funktionieren.
Ist Gewalt die Regel oder die Ausnahme?
Ich würde leider sagen, die Regel, da Gewalt viele Facetten hat. Und wie ich von Kolleginnen höre, verschärft Corona auch diese Gewalt noch. Gewalt bedeutet nicht nur Schläge. Es beginnt ja schon damit, wie jemand angesprochen wird. Ich habe erlebt, wie Menschen das Essen in den Mund gerammt wurde, wenn sie nicht schnell genug gegessen haben. Es gibt Pflegekräfte, die sind selbst so am Limit, dass sie einfach ausrasten, wenn sie aufgehalten werden. Und dann gibt es auch Pflegekräfte, die haben eine sadistische Ader, weil sie den Job gar nicht machen wollen. Viele sind ungelernt. In der Pflege wird so händeringend Personal gesucht, dass praktisch jeder genommen wird. Ohne Ausbildung, ohne jegliche Affinität für den Job, ohne deutsche Sprachkenntnisse.
Und es ist ein Frauenjob...
Ja, das ist der Großteil des Problems. Frauen nehmen viel zu viel hin, lassen sich ohne Ende ausnutzen. Viele Pflegerinnen trauen sich nicht einmal zu sagen, was im Heim passiert. Wer den Mund aufmacht, so wie ich, ist oft der Nestbeschmutzer und wird gemobbt. Nach Geld zu fragen, gilt unter Frauen als unmoralisch. Dabei trägt das System die Hauptschuld. Die Träger, die nur wirtschaftlich denken und das auf dem Rücken der Angestellten austragen. Mit all diesen netten Worten rund um Hingabe und Berufung werden wir Frauen manipuliert. Männer würde man damit nicht kleinkriegen. Die Pflege ist ein harter Beruf, körperlich wie geistig. Es braucht eine fundierte, professionelle Ausbildung, ein vernünftiges Gehalt und gesellschaftliche Anerkennung.
Was muss passieren?
Politisch muss die Professionalisierung des Berufs verankert werden. Wir müssen dilettantische Führungskräfte entlassen. Wir müssen wieder Teams aufbauen, anstatt gegeneinander zu arbeiten. Wir brauchen Pflegekräfte, die Deutsch können. Ein vernünftiges Gehalt ist ein Einstiegsgehalt von mindestens 4000 Euro brutto für diesen Beruf. Das ist angemessen, und das sage ich ganz offen. Wir brauchen unbedingt menschenwürdige Arbeitsbedingungen.
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Eva Ohlerth: "Alptraum Pflegeheim: Eine Altenpflegerin gibt Einblick in skandalöse Zustände" (Riva Verlag)
Hier geht es zur Petition: Change.org Corona-Krise Gemeinsamer Aufruf von Pflegekräften
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