Kate Millett ist tot
Das letzte Mal, dass wir uns getroffen haben, war bei ihr auf dem Land, in ihrer Farm in Poughkeepsie. Das ist viele Jahre her. Aber ich sehe Kate noch vor mir: Hoch auf dem Sitz ihres Traktors, auf dem Weg in ihre Wälder. Denn auch das war die Intellektuelle und Künstlerin: ein Working Girl, das es liebte, Land zu roden und Bäume zu pflanzen oder zu fällen. Vor allem aber war Kate Millett die wichtigste theoretische wie literarische Stimme der amerikanischen Frauenbewegung. Diese Stimme ist jetzt verstummt. Die 82-Jährige starb am Morgen des 6. September in Paris, ihrer Lieblingsstadt. Herzstillstand.
1969 erschien Milletts epochales Werk „Sexual Politics“ (auf Deutsch 1971 unter dem Titel „Sexus und Herrschaft“). Millett analysiert in ihrer Doktorarbeit die Rolle der Sexualität im Machtverhältnis der Geschlechter: von Pornografie über Missbrauch und Vergewaltigung bis hin zur Prostitution. Und sie vergleicht die biologistische Zuweisung der Charaktereigenschaften an Frauen und Männer (gender) mit den Zuweisungen an Schwarze und Weiße.
Zwei Jahre später veröffentlicht Millett ein kleines Buch, das nicht weniger brisant ist: „Prostitution: A Quartet for Female Voice“ (Auf Deutsch erst zwölf Jahre später unter dem Titel „Das verkaufte Geschlecht“ erschienen). Millett lässt darin vier Frauen in der Prostitution sprechen und kommt zu dem Schluss: „Was die Prostituierte in Wahrheit verkauft, ist nicht Sex, sondern Entwürdigung. Und der Käufer, der Kunde, kauft nicht Sexualität, sondern Macht: die Macht über einen anderen Menschen.“
Damit hatte Kate Millett sich in das Auge des Taifuns begeben: Sexualität & Gewalt. Die Attacken waren also nicht überraschend. Aber sie kamen nicht nur aus der Männerwelt. Schlimmer waren die aus den eigenen Reihen. Schwesternstreit. Der „Star“ wird auch von Feministinnen gehetzt. Und landet erst einmal in der Psychiatrie.
Der größte Eklat ist im November 1970. Millett beschreibt es in ihrem 1974 erschienenen autobiografischen Buch „Flying“ (erst 1983 auf Deutsch). Sie hält einen Vortrag an der New Yorker Columbia University. Da brüllt eine aktive Feministin namens Teresa Juarez aus dem Publikum: „Bist du eine Lesbe? Sag es doch! Bist du eine Lesbe?!“ Millett, seit Jahren mit dem japanischen Künstler Fumio verheiratet, zögert. „Ja, sage ich. Ja. Denn ich weiß, was sie meint“, schreibt sie in „Flying“ und erklärt: „Unbeugsam wie ein faschistisches Dekret müssen wir Bisexualität als Schleichweg bezeichnen.“ Darum: „Ja, sage ich, ja. Ich bin eine Lesbe. Mit letzter Kraft.“
Kurz darauf macht das Time Magazine eine Titelgeschichte daraus: „Women’s lib: A Second Look.“ (Frauenbewegung: Ein zweiter Blick). Skandal. Schock. Nun wird Millett vorgeworfen, die ganze Frauenbewegung diskreditiert zu haben.
In „Flying“ schreibt die von allen Seiten Gehetzte ermattet: „Ich kann nicht mehr Kate Millett sein. Sie ist ein Gegenstand; ein Ding. Ein Witz auf Cocktailparties. Sie ist niemand. Ich bin nichts als die Angst in meinem Bauch.“
Dennoch wird Millett ihren Weg weiter gehen. Sie macht aus ihrer Verletztheit eine Stärke. Sie schaut der Herausforderung, eine Frau und Feministin zu sein, jetzt erst recht bis auf den Grund. Sexualität und Macht, das bleiben ihre Themen. Doch nachdem die Feministin die äußeren Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern analysiert hatte, wagte sie sich nun an das größte Tabu: die innere Komplizenschaft der Unterdrückten, die patriarchale Deformation der Frauen.
1979 veröffentlicht sie „The basement. Meditations on a Human Sacrifice“. Darin bereitet sie literarisch den realen Fall der rituellen Folterung und Ermordung der 16-jährigen Sylvia Likens durch ihre Pflegemutter Gertrude Baniszewski auf. Sie identifiziert sich gleichzeitig mit dem Opfer und mit der Täterin, kriecht in sie hinein, um zu verstehen.
Das über Monate gefolterte Opfer hätte dem Martyrium entkommen können, aber Sylvia blieb. Ganz wie die vielen, vielen von ihren eigenen Ehemännern gefolterten Frauen, die nicht gehen oder selbst nach einer Flucht ins Frauenhaus wieder zurückkehren in ihre Hölle.
„Wie haben sie es geschafft, in deine Seele zu dringen?“, fragt sich Millett. „Es muss nicht nur der Körper gewesen sein, der gebrochen wurde, sondern auch der Geist.“
Millett hat in den vergangenen Jahrzehnten noch etliche Bücher geschrieben, von denen die meisten auch ins Deutsche übersetzt wurden, dennoch wurde es stiller um sie. 1982 veröffentlichte sie ein etwas zu schnelles Buch über den Iran, wo sie im April 1979 – wenige Tage vor mir – dem Hilferuf der zwangsverschleierten Frauen nach Teheran gefolgt war. 1990 ein radikales und auch selbstkritisches Buch über ihre „Klapsmühlentrips“, ihre immer wieder über sie hereinbrechenden Aufenthalte in der Psychiatrie. Darin thematisiert Kate ihr Leben mit der Engländerin Sophie Keir.
Die Lebensgefährtin war es auch, die jetzt öffentlich gemacht hat, dass Kate Milletts Herz stehen blieb, in Paris. Die beiden hatten dort, wie so oft, Kates Geburtstag am 14. September feiern wollen.
Als Simone de Beauvoir am 19. April 1986 in Paris beerdigt wurde, gingen wir nebeneinander hinter ihrem Sarg, Kate und ich. In EMMA nannte Kate in ihrem Nachruf Beauvoir „eine große Feministin und eine große Humanistin“. Dasselbe gilt für Kate Millett, die mit ihrem Leben und Werk so viel gegeben hat.
Alice Schwarzer
Die Bücher von Kate Millett (auch die vergriffenen) sind alle im FrauenMediaTurm in Köln nachzulesen.
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