Klarsfeld: „Keine Nazis in die EU!“
Monsieur Klarsfeld, kennen Sie die Ukraine und Russland?
Arno Klarsfeld: Leonid Breschnew lebte noch, als ich das letzte Mal in Russland war. Ich besuchte die Schwester meiner Großmutter, die aus Bessarabien am Schwarzen Meer stammte. Ich kenne Russlands Küche und Kultur, liebe Dostojewski und hatte russische Freunde und Freundinnen.
Ihre Eltern, Beate und Serge Klarsfeld sind als „Nazi-Jäger“ berühmt geworden. Jetzt engagieren Sie sich politisch.
Ich brach mein Schweigen, als das Gesuch der Ukraine zum EU-Beitritt angenommen wurde. Ein Land, in dem Verbrecher, die Zehntausende von Juden ermordet haben, als Helden verehrt werden – wie zum Beispiel Stepan Bandera –, hat in der EU nichts zu suchen. Die Massaker wurden von den deutschen Nazis und ukrainischen Nationalisten begangen, weite Teile der Bevölkerung nahmen an den Pogromen teil. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurden die Denkmäler, die an den Sieg über den Nationalsozialismus erinnerten, gestürzt. An ihrer Stelle errichtete die Ukraine Monumente zu Ehren des Nationalisten und Kollaborateurs Bandera. Aber ich will kein Europa, das in Zukunft Russland als den wahren Feind im Zweiten Weltkrieg betrachtet. Ich will nicht, dass sich die Auffassung durchsetzt, die Nazis und die ukrainischen Nationalisten hätten die europäische Zivilisation gegen Russland verteidigt. Die Russen begehen Kriegsverbrechen, die ich verurteile, aber keinen Genozid.
Der Bundestag hat jüngst den Holodomor, die von Stalin organisierte Hungersnot, zum Genozid erklärt.
Der Holodomor war kein Genozid. Es ging nicht darum, mit dieser Hungersnot die ukrainische Bevölkerung auszumerzen. Es gab auch in Russland und in Kasachstan Hunderttausende von Toten. Stalin wollte die Kulaken vernichten – nicht weil sie Kulaken waren, sondern weil diese Bauern sich der Kollektivierung widersetzten. Der Holodomor war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Denkmäler der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wurden gestürzt, weil sie an den Stalinismus erinnerten.
Wenn Lenin-Statuen gestürzt werden, stört mich das nicht. Der Kult um Stepan Bandera aber wird auch mit Briefmarken und Prozessionen betrieben. Es gibt einen Gedenktag. Straßen und Stadien sind nach ihm benannt. Die Hauptstraße zur Gedenkstätte von Babyn Jar, wo 33.000 Juden ermordet wurden, trägt den Namen Bandera. Die letzte Strecke ist nach Roman Schuchewitsch benannt, der noch viel schlimmer war.
Und deren nostalgische Anhänger haben die Maidan-Revolte 2013 inszeniert?
Ich war nicht dabei. Was ich am Fernsehen sah: Bei den Mutigsten unter den Aufständischen an der vordersten Front handelte es sich um Rechtsextremisten. Sie waren bereit, für die Revolution zu sterben. Aber auch die ukrainische Jugend war beteiligt, sie will in Freiheit leben und ist nach Westen orientiert. Das ist legitim. Doch die Korruption des Regimes und sein fragwürdiges Geschichtsbild kann man nicht übergehen. Wer Nazis und Kollaborateure zu Idolen des Antikommunismus verklärt, darf ihre Massaker nicht verschweigen. Sonst wäre in Berlin auch eine Hermann-Göring-Allee denkbar, Göring war ein Held des Ersten Weltkriegs. Letztlich wird man dann auch noch Adolf Hitler rehabilitieren, weil er wie Stepan Bandera den Stalinismus und die Russen bekämpfte, die wir jetzt durchweg als Feinde Europas betrachten. Die Schoah wird so zum Kollateralschaden.
Bernard-Henri Lévy ist der Wortführer der „neuen Philosophen“, die sich vor vierzig Jahren vom Kommunismus zum Antitotalitarismus bekehrten und den Imperativ des prophylaktischen Kriegs entwickelten.
In der Ukraine wird nicht die Demokratie verteidigt. Weder Russland noch die Ukraine sind Demokratien, beide Regierungen sind korrupt. Auch die Amerikaner verletzen das Internationale Recht. Als der Irak den Iran angriff, unterstützten sie den Aggressor. In Südamerika inszenierten sie Staatsstreiche antikommunistischer Diktatoren. Ja, Putin hat einen souveränen Staat angegriffen. Man muss wohl von bislang 200.000 Toten auf je beiden Seiten ausgehen. Dazu die Verletzten. Dieser Krieg ist grauenhaft. Und dafür ist Putin verantwortlich.
Wurde Russland jetzt von der Nato bedroht?
Nein. Es gab keine unmittelbare Bedrohung Russlands. Aber es gibt eine Mitverantwortung der NATO. Sie hat es zugelassen, dass die Ukraine den Hass auf die Russen im Kern ihrer Identität verankert hat. Die Nato hätte Druck auf die Ukraine ausüben müssen, um diese Eskalation zu verhindern. Kompromisse waren möglich.
Weil Sie in einem Aufruf Verhandlungen fordern, hat Sie Bernard-Henri Lévy als „nützlichen Idioten Putins“ bezeichnet.
Ich bin vielleicht ein Idiot, er aber ist ein Lügner. Er ist so blindlings für die Ukraine, dass er sogar ihre Verbrecher rechtfertigt. Das gilt auch für Le Monde und andere Medien. Stepan Bandera wurde lange verschwiegen. Aber inzwischen geht das nicht mehr. Und deshalb wird er zur ambivalenten Figur verklärt. Bandera sei komplexer, als man gemeinhin annehme, schwadroniert Lévy. Er verteidigt einen Judenmörder, um sein Weltbild zu erhalten. Das ist Geschichtsrevisionismus.
Sind Verhandlungen möglich?
Man muss eine Lösung finden. Um zu verhindern, dass es nach zwei Weltkriegen, deren Schauplatz Europa war, einen dritten gibt. Ihn will die Ukraine. Weil sie allein nicht gegen Russland gewinnen kann, zieht sie die NATO in den Krieg hinein.
Die Medien berichten kritisch über Ihren Aufruf.
Ich kann mich heute nur in links- und rechtsextremen Medien äußern, deren Wertvorstellungen mir eigentlich völlig fremd sind. Ich gehöre zur politischen Mitte. Aber sie ist heute von einer blinden kriegerischen Leidenschaft beseelt.
Was halten Sie von Emmanuel Macron?
Er will den Krieg beenden, ist aber gezwungen, den Amerikanern zu folgen. Sie beschützen uns, und ich bin ihnen dankbar dafür. Ich habe einen Teil meiner Jugend in den USA verbracht und als Anwalt einen Eid auf die amerikanische Verfassung abgelegt. Doch es gibt den amerikanischen Imperialismus. Ich ziehe ihn allerdings dem Imperialismus der Russen, der Chinesen und des Islam vor.
In Israel haben Sie als Soldat gedient. Ist die Ukraine nicht ebenfalls in ihrer Existenz bedroht?
Nein, ich glaube, dass sich Putin auf den Donbass und die Krim beschränken will und für Osteuropa eine Art Monroe-Doktrin vorsieht: Keinen NATO-Beitritt.
Sie appellieren an Frankreich und Deutschland, eine gemeinsame Initiative zu starten.
Das wäre ihre historische Aufgabe. Und jene der EU, die als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg entstand. Doch mit jedem Tag wird eine Lösung schwieriger. Putin weiß: Wenn er den Krieg verliert, verliert er sein Leben.
Was sagen Ihre Eltern, die als antifaschistisches Gewissen verehrt werden?
Sie sehen es so wie ich.
Das Gespräch führte Jürg Altwegg.
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