Killt der Kanzler die Initiative zur EU-Gleichberechtigung?
Die letzte Unrechts-Bastion im EU-Recht soll geschliffen werden doch die Männerlobbyisten aller Fronten verteidigen sie mit Klauen und Zähnen. Jetzt wurde die eigentlich für Juli geplante Veröffentlichung der Richtlinie der Europäischen Union gegen Frauendiskriminierung im Zivilrecht auf September verschoben und wird auf der Anhörung am 10. September in Brüssel wohl ganz beerdigt werden, wenn nicht endlich Unterstützung kommt. Nicht zufällig wurde, ganz nebenher, die Gleichberechtigung der Geschlechter auch in der EU-Verfassung nicht angemessen verankert. Last call zur Verfassungs-Änderung: die Regierungskonferenz Anfang Oktober.
Das Gebrüll war groß. EU-Feministinnen wollen die hübschen Girls von Seite 1 verbieten! eröffnete Bild am 26. Juni das Feuer und knallte der obligatorischen Nackten schon mal zum Vorgeschmack einen Zensurbalken vor den
Schülerinnen an? Genauer: Wie sind die zehn- bis 14-jährigen Mädchen gekleidet? Denn vor allem ihre Altersgruppe scheint es zu sein, die vor den Ferien im beschaulichen Sehnde den Eklat verursachte, der überregional Wellen bis in Bild, in den Spiegel, RTL und SAT1 schlug.
Angefangen hatte alles mit Nicole (Name geändert) in Klasse 7. Die hatte sich an einem heißen Junitag die Bluse ausgezogen und saß nun im Bustier (wie der Büstenhalter heute à la française heißt) da. Als die Lehrerin die Schülerin im Dessous aufforderte, ihre Bluse wieder anzuziehen, antwortete die schlicht mit Nein. Und blieb dabei.
Klar, dass der Vorfall anschließend im LehrerInnenzimmer ausgiebig diskutiert wurde. Tags darauf tagte die siebenköpfige Schulleitung und fasste einen Entschluss: Schulleiterin Helga Akkermann schreibt einen Brief, in dem um eine angemessene Kleidung gebeten wird. Gesagt, getan. Bauchfreie, rückenfreie, tief dekolletierte Shirts oder auch sehr kurze Röcke (...), die den Po kaum bedecken, sind als Schul- und Arbeitskleidung nicht angebracht, heißt es in dem Brief vom 4. Juni an die lieben Schülerinnen und Schüler und lieben Eltern.
Es dauerte nur wenige Tage, bis der Brief in der Presse gelandet war. Am 12. Juni berichtete die Hannoversche Allgemeine unter dem Titel Schule führt Kleiderordnung ein. Kurz darauf verbreitete die Deutsche Presse Agentur (dpa) die Meldung bundesweit unter der Schlagzeile Bauchfrei ist sexy von da zu Bild und RTL war es nur noch ein Schritt. Seither kann Schulleiterin Akkermann mitreden, wenn es um den Umgang von Medien mit Informationen geht.
Klar, dass die 49-jährige Pädagogin umgehend in den Generalverdacht der Prüderie geriet, die den kecken Kleinen nur den Spaß verderben will. Und auch klar, dass meist unterschlagen wurde, dass es sich bei dem Brief lediglich um eine Empfehlung und nicht um eine Anordnung gehandelt hatte. Um die Bitte an die Eltern, die erzieherischen Bemühungen der Schule zu unterstützen. Die scheinen auch überwiegend einverstanden zu sein mit dem Wunsch der LehrerInnen nach angemessener Kleidung. Von 58 ElternvertreterInnen im Elternrat erklärten jedenfalls 56, sie stünden ganz hinter der Position der Schulleitung.
Allerdings sind die im Elternrat Engagierten vermutlich nicht die Hauptzielgruppe des Briefes. Das sind eher die Eltern, die sich weniger engagieren und deren Erziehungs-Motto lautet: Machen lassen. Aufschlussreich auch die Beobachtung von Lehrerin Akkermann, dass sehr junge Mütter im Schnitt ablehnender reagierten als Mütter ab Mitte 30. Die erfahrene Pädagogin: Am Problematischsten sind die Eltern, die nicht alt werden können und wo Mütter sich als Freundinnen ihrer Töchter verstehen. Denn bei den Eltern machen die Kinder das Gesetz.
Beistand erhielten die LehrerInnen von Sehnde auch von Schulsprecherin Julia Scholz, die unter www.kgs.sehnde.de erklärte, auch SchülerInnen wollten in unserer Schule nicht das Bikini-Oberteil aus dem letzten Urlaub sehen. Und die 16-jährige Nadina aus der Klasse 9HC will zwar von einer Kleiderordnung nichts hören und findet, dass ihre Altersstufe alles im Griff hat, meint jedoch auch, ein Problem seien die Jüngeren in der Orientierungsstufe: Denn die kennen ja die Gefahr mit Vergewaltigungen usw. noch gar nicht.
In der Tat geht es bei bauchfrei weniger um die Teens wie die Altersgruppe von Nadine im Alter ihrer Eltern hieß sondern um die Tweens. Das sind die gerade von der Wirtschaft neu entdeckten 10- bis 15-Jährigen, die rein körperlich heute bis zu fünf Jahren früher in die Pubertät kommen als ihre Mütter und deren Göttinnen Britney Spears, Christina Aguilera oder Shakira sind bzw. waren. Denn bei den schnelllebigen Youngsters ist Britney laut der Zeitschrift Teen schon längst wieder sowas von vorbei (nur deren Eltern halten die noch für in).
Silikon-Busen. Umerziehung aus Brüssel schwante der Welt. Freie Bürger, freie Brüste, räsonnierte die Süddeutsche Zeitung. Zwang zum Unisex befürchtete der Spiegel. Versicherung für Männer teurer kartete Bild nach. Nur die FAZ blieb sachlich und gab der angegeiferten europäischen Sozialkommissarin Anna Diamantopoulou das Wort. Die sprach von einer wahren Hysterie und erinnerte daran, dass die EU-Richtlinien gegen Rassismus im Zivilrecht längst eine Selbstverständlichkeit seien und es jetzt nur darum gehe, mit den Richtlinien auch gegen Sexismus gleichzuziehen, wie auf dem EU-Gipfel in Nizza 2000 beschlossen.
In der Tat geht es hier um die letzte Bastion rechtlicher Benachteiligung von Frauen in Europa: vom Sozialen, der Bildung, dem Versicherungs- und Steuerwesen bis zu den Medien. Doch soll die geplante Richtlinie schon verhindert werden, obwohl sie noch gar nicht auf dem Tisch liegt. Vor allem Deutschland und Großbritannien laufen Sturm dagegen, allen voran Versicherungs-Lobbyisten und Journalisten. Und die scheinen im Schröder- und Blair-Country die Politik so erfolgreich unter Druck gesetzt bzw. offene Türen eingerannt zu haben, dass die Brüsseler Kommissarin die für Juli geplante Veröffentlichung der Richtlinien verschreckt auf Herbst verschob.
Den letzten Stoß versetzte dem von langer Hand geplanten Vorhaben ein Brief vom 22. Juli, der ausgerechnet aus dem Hause der deutschen Frauenministerin Renate Schmidt kam. Ihr Staatssekretär Peter Ruhenstroth-Bauer meldete bei der sehr geehrten Frau Kommissarin die vordringlichsten Bedenken der Bundesregierung gegen die Richtlinien und eine angeblich drohende weitere Verrechtlichung an. Dieser Brief ist ein Armutszeugnis für ein Frauenministerium und vom Stil her eine Ohrfeige, kommentierte eine hohe EU-Beamtin, die nicht genannt werden möchte. Mehr noch: Es ist eine Beerdigung dritter Klasse des Anti-Diskriminierungsgesetzes der EU.
Die kompetenten Politikerinnen und Beamtinnen in Brüssel stehen längst an der Wand. Denn aus Medien, Politik und Wirtschaft schlägt ihnen nur Häme und Protest entgegen aber die Frauen, für die sie sich einsetzen, schweigen. Oder aber ihre Stimmen verhallen ungehört.
Dass der Protest des Deutschen Frauenrat, dem Dachverband von rund sechs Millionen organisierter Frauen, und der der Europäischen Frauenlobby mit ihren europaweit 3.000 Mitgliederorganisationen den Medien kaum eine Zeile wert ist, liegt nicht nur an der leider traditionell wenig cleveren Öffentlichkeitsarbeit dieser Frauenverbände. Es ist auch und vor allem eine Machtfrage. Und so lange selbst die Frauen, die passive Mitglieder dieser Frauenverbände sind, in ihren Funktionen als Abgeordnete oder Ministerinnen schweigen oder gar der Sache der Frauen in den Rücken fallen, so lange haben Männer(interessen) das Wort.
Als 1949 Politikerinnen wie Elisabeth Selbert (SPD) und Helene Weber (CDU) parteiübergreifend und in letzter Minute den Schlüsselsatz ins deutsche Grundgesetz drückten: Frauen und Männer sind gleichberechtigt da taten sie das gegen alle Männer im Parlament, inklusive der in den eigenen Parteien, aber mit Millionen Frauen im Rücken, die Bonn mit Waschkörben von Briefen und Protesten bombardierten. Eine solche Mobilisierung der Basis wäre heute eigentlich gar nicht mehr nötig, schließlich sitzen dank des jahrzehntelangen Drucks eben dieser Basis inzwischen ein Drittel Frauen in Parlament und Kabinett. Würden die über alle politischen und nationalen Interessen hinweg die griechische EU-Kommissarin Diamantopoulou und ihr deutsches Kabinettsmitglied für Antidiskriminierung, Barbara Helfferich, bei ihrem Bemühen unterstützen, könnten die Männerlobbyisten noch so laut brüllen sie hätten keine Chance.
Schon die Lautstärke des Gebrülls deutet allerdings darauf, dass es hier um die Bedrohung knallharter Privilegien geht. In der Tat, es geht um viel Geld; Geld, das Frauen zahlen und Männer kassieren. Und es geht um das Herrenrecht, Frauen zu degradieren.
Was damit gemeint ist? Stellen wir uns einmal vor, schwarze Männer würden in den eingeschlägigen Gazetten als Boy von Seite 1 abgebildet, halbnackt, potent und mit Riesenpenissen der Protest wäre allgemein. Zu Recht. Denn hier handelte es sich um nackten Rassismus. Und der ist verboten. Der nackte Sexismus aber ist erlaubt. Und das nicht nur, wenn die Haut zu Markte getragen wird. Was zum Beispiel wäre, wenn Türken höhere Renten- oder Versicherungsbeiträge zahlen müssten als Deutsche, aber weniger Geld bekämen?
" Beispiel Rente: Frauen zahlen (nicht nur in Deutschland) höhere Rentenbeiträge als Männer und erhalten zum Dank dafür im Schnitt zwölf Prozent weniger Rente im Alter. Oder: Wenn ein Mann und eine Frau ab 35 bei einer Versicherung mit dem Ziele einzahlen, ab 65 Jahre 1.000 e Altersrente im Monat zu erhalten, zahlt sie im Monat 426 e und er 375 e - das sind in 30 Jahren für die Frau 18.190 e mehr. Begründung: Frauen werden im statistischen Durchschnitt vier Jahre älter.
" Beispiel Krankenkassen: Eine 30-jährige Frau zahlt heute rund 100 e mehr als ein gleichaltriger Mann. Begründung: Das Geburtsrisiko als wären Männer nicht Mitverursacher. " Beispiel freie Wirtschaft: Banken geben Frauen weniger Kredite und nehmen ihnen höhere Zinsen ab. Autohändler gewähren Männern höhere Rabatte. Auf dem Wohnungsmarkt haben es alleinerziehende Frauen besonders schwer. Beim Friseur kostet der Herrenschnitt oft nur die Hälfte vom Damenschnitt; eine Frau, die einen Herrenschnitt will, muss aber trotzdem das Doppelte zahlen. Etc.
" Beispiel Steuerrecht: Vater Staat schenkt mit dem so genannten Steuersplitting (dem Versteuern des Familieneinkommens auf der Basis von zwei Hälften) den Ehemännern von Hausfrauen bzw. Teilzeitarbeitenden jährlich 23 Milliarden _. Expertinnen aller politischer Provinienzen fordern seit über 30 Jahren die Abschaffung dieses Splittings! Denn vom Splitting profitieren keine Familien mit Kindern, sondern gut verdienende Männer mit nicht berufstätigen Frauen und es ist zu allem Überfluss auch noch ein Hindernis für die Rückkehr von Müttern in den Beruf (denn es gibt dem Gatten das Argument: Wenn du zu Hause bleibst, haben wir mehr Geld).
Kurzum, es geht in dem EU-Entwurf ganz einfach um die Abschaffung des Kriteriums Geschlecht als Geschäftsprinzip. Und um die Einführung der Kategorie Menschenwürde als ethisches Prinzip auch für Frauen.
Bisher beschränkte sich das EU-Gleichstellungs-Recht lediglich auf den Arbeitsmarkt und schon da tun sich Länder wie Deutschland reichlich schwer mit der nationalen Umsetzung. Aber Geschlechtergleichheit ist nun wirklich kein neues Thema der EU, kommentiert Dagmar Schiek, Professorin für Europäisches Wirtschaftsrecht, spöttisch. Sie findet: Der Sozialkommissarin ist ein wohlausgewogener Entwurf gelungen. Wo also ist das Problem?
Für den 10. September hat nun der Frauenrechtsausschuss der EU eine Anhörung der schon im Vorfeld so vernichtend kritisierten EU-Richtlinie in Brüssel anberaumt. Sollte sich bis dahin nicht die überzeugte Minderheit der Männer und die betroffene Mehrheit der Frauen offensiv artikulieren, verschwindet die über zwei Jahre erarbeitete EU-Richtlinie wohl wieder in der Schublade. Das wäre schon für die Bürgerinnen der heutigen EU-Länder eine sehr ernste Sache dramatisch aber wäre es für die Bürgerinnen der zehn neuen EU-Länder, die ab Mai 2004 dazustoßen werden. Denn gerade sie hoffen, via EU-Recht ihr weitgehend herrschendes nationales Unrecht in die Knie zwingen zu können.
Sollte der Anti-Emanzipations-Coup unter der Führung von Deutschland und Großbritannien gelingen, wäre wohl gleichzeitig die allerletzte Hoffnung perdu, dass die Gleichberechtigung der Frauen auch in der neu geschriebenen EU-Verfassung angemessen verankert wird, so wie einst im deutschen Grundgesetz. Im ersten Anlauf war die Gleichberechtigung der Europäerinnen von den Europäern schlicht ganz vergessen worden. Sodann erhob sich Protest und der EU-Konvent (17 Frauen und 88 Männer!) fügte immerhin das abstrakte Wörtchen Gleichheit im Entwurf ein was die Europa-Abgeordneten Lissy Gröner (SPD) und Hiltrud Breyer (Grüne) schon als großen Erfolg werteten.
Doch das sieht zum Beispiel die Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes, Margret Diwell, oder der Gewerkschaftsbund ganz anders. Nicht nur sie vermissen die konkrete Verankerung des Gleichheitsgrundsatzes dergestalt, dass die EU-Verfassung ein effektives Instrument zur konkreten Durchsetzung der Gleichberechtigung in allen Bereichen und allen Ländern wird.
Und auch die CDU-Frauenvorsitzende Maria Böhmer erklärte schon im April dieses Jahres: Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist ein zentrales Grundrecht und muss mit einem Artikel in die geplante Europäische Verfassung aufgenommen werden. Dass eine öffentliche Debatte darüber nicht stattfindet, versteht Böhmer nicht: Stattdessen werde heftig über die Verankerung des Sports im EU-Recht diskutiert. Wen wunderts. Die Jungs sind wieder zu Hause.
Der EU-Konvent hat die Verfassung bereits verabschiedet. Die fehlenden Gleichberechtigungs-Passagen könnten jetzt nur noch last minute Anfang Oktober auf der Regierungskonferenz zur Umsetzung des Entwurfs eingebracht werden. In dieser Konferenz wird für Deutschland Außenminister Fischer das Wort haben. Ob die deutschen Politikerinnen wohl Manns genug sind, sich parteiübergreifend zusammenzutun? Wie bei der Einführung des Gesetzes gegen Vergewaltigung in der Ehe 1997. Oder wie die deutschen Städte, die sich, unabhängig von Parteizugehörigkeit, jetzt gemeinsam gegen den Bund und für ihre Rechte einsetzten?
Gefordert wären da, allen voran, die SPD-Ministerinnen für Frauen und für Justiz sowie die Grünen. Die luden im Juli zum so genannten Fachgespräch Frauen nach vorn mit Rückenwind aus Europa aber nicht etwa die verantwortlichen Macher, sondern andere Frauen. Ein Fachgespräch plus Rückenwind könnte auch dem grünen Außenminister nicht schaden und dem Kanzler aller Deutschen schon gar nicht.
EMMA September/Oktober 2003
Proteste an:
Romano Prodi, Präsident der EU-Kommission, romano.prodi@cec.eu.int , Fax: 0032 22950138/39/40, Rue de la Loi 200, B-1049 Brüssel
und
Gerhard Schröder,
internetpost@bundeskanzler.de , Fax: 0049-18884002357,
Willy-Brandt-Str. 1, 10557 Berlin
e Kaufkraft dieser Tweens beläuft sich auf geschätzte 300 Milliarden Dollar im Jahr. Und Marktforscher fanden heraus, dass sie auch beim Kauf von Autos oder Handys mitreden, weil ihre Eltern cool sein wollen wie sie. Das heißt: Die lieben Kleinen sind längst ins Visier von Wirtschaft und Werbung geraten und einem entsprechenden Trommelfeuer ausgesetzt.
Zum Kummer mancher Mutter. So klagt Cassandra im EMMAonline-Forum: Als Mutter zweier Kinder habe ich in erster Linie das Problem mit dem Einkauf. Für meine 11-jährige Tochter wird es fast kriminell. Es werden nur noch Klamotten angeboten, die in meinen Augen für 16- bis 17-Jährige, die in die Disko wollen, angemessen sind. Für mich sieht das nach einem Diktat der Modeindustrie aus, um lauter Lolitas zu schaffen.
Könnte was dran sein. Und die Sexualisierung der Tween-Mode schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie bringt den früh-pubertierenden Tweens den Konsum und liefert den spät-geilen Oldies das Objekt. Das findet auch die Leiterin des Referats Gleichstellung im LehrerInnenverband VBE, Gitta Franke-Zöllmer: Bei dem Angebot haben Jugendliche kaum die Chance, Alternativen zu wählen. Da ist zu fragen, wer für diese bloßstellende Kleidung verantwortlich ist und mit welcher Zielsetzung sie entworfen wurde.
Solche Gedanken haben sich die meisten Verantwortlichen leider anscheinend noch nicht gemacht. So ist die Sprecherin des Berliner SPD-Schulsenators nur belustigt über die Initiative von Sehnde. Auch das rotgrüne NRW-Schulministerium hält Kleidung an der Schule für Privatsache (vom Minirock bis zum Schleier). Und der zuständige niedersächsische CDU-Kultusminister Bernd Busemann ist Helga Akkermann zwar dankbar, das Thema Kleidung in sinnvoller Weise angesprochen zu haben, mochte jedoch keine Vorschriften machen in Sachen Anstand und Sitte. Allerdings: Das Tragen von Springerstiefeln dem Symbol junger Rechter hat Hannover schon vor Jahren verboten.
Nur in Hamburg-Sinstorf hat Schulleiter Klaus Demian schon vor drei Jahren einfach einheitliche Pullover und T-Shirts für die SchülerInnen der fünften bis siebten Klasse eingeführt, also für die 11- bis 14-Jährigen. Und beste Erfahrungen damit gemacht. Die SchülerInnen sind bei der Sache. Denn knappe Kleidung lenkt ab. Und in der in Köln sehr begehrten St. Georges Schule waren Schuluniformen nach englischem Vorbild schon immer selbstverständlich. Dadurch ist jeder gleich in der Schule, erklärt Direktorin Felicity Nyman. Manche wollen ihre Uniform sogar am Wochenende anziehen.
Und während in Sehnde und im ganzen Land erregt diskutiert wurde, machte die Klasse 7.3 der Gesamtschule in Langenhagen in aller Stille ein cooles Experiment.
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 7.3 der Integrierten Gesamtschule Langenhagen beschlossen, die Sache einfach mal selbst auszuprobieren. Melanie Weigert, 13: Wir haben gedacht, dann können wir ja gleich Schuluniformen tragen. Vom Gespött über den Konfirmandenlook ließ sich die 7.3 nicht beirren. Fünf Tage lang kamen alle 27 SchülerInnen in weißen Oberteilen und schwarzen Hosen oder Röcken zum Unterricht. Sie nahmen, was sich im Kleiderschrank befand.
Und, wie fühlten sie sich? Pascal Scheer, 12: Da gibt es den Markenstreit nicht mehr. Jenny Krämer, 13: Die Sachen sind viel schicker. Fabio Wender, 14: Schuluniformen sind total cool! Und auch Klassenlehrerin Irmlinde Kuhlmann wars zufrieden, denn die SchülerInnen waren viel ruhiger und haben sich schon ganz anders benommen. Warum sie nach einer Woche ihr Experiment stoppten? fragte die Hannoversche Allgemeine Zeitung die 7.3. Weil sie auf Dauer dann doch nicht die Exoten in Langenhagen sein wollten aber wenn die ganze Schule mitzöge ...
Schuluniform oder individuelle, angemessene oder sexy Kleidung die Debatte ist eröffnet und wird nicht nur Schulleiterin Ackermann noch länger beschäftigen. Die war zwar von den Reaktionen überrascht und auch manchmal genervt, bereut es aber nicht, denn sie hat reichlich Post bekommen, von München bis Kiel und meist mit dem Tenor: Weiter so. Und für sie ist ganz klar: Hier geht es um eine grundsätzliche Wertediskussion und die Frage: Wo sehen wir als Schule Grenzen? Und wie steht es mit der Verantwortung der Eltern? Denn: Erziehung heißt nicht wegsehen, sondern hinsehen!
EMMA September/Oktober 2003
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