Kirche: Unglaublich, aber wahr!

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Alles beginnt an Karnevalssonntag 2007. Eine Kneipe in Köln. Die Höhner singen, Elke Rogosky beobachtet, wie ein Mann allein auf der Tanzfläche steht. Er sieht nicht glücklich aus, denkt sie und verliebt sich in ihn. „Dass ich die Initiative ergriffen und mich getraut habe, das passiert eben auch nur im Karneval“. Elke Rogosky lacht.

Peter Otten ist die Liebe ihres Lebens, das weiß sie schnell. Was sie für diese Liebe tun wird, weiß sie damals noch nicht. Elke Rogosky wird sich in den folgenden Jahren verstecken. Sie wird Begegnungen mit den Nachbarn vermeiden. Sie wird ihren Namen nicht mit aufs Klingelschild der gemeinsamen Wohnung schreiben. Denn ihre Beziehung darf es in den Augen des Arbeitgebers ­ihres Lebensgefährten, der katholischen Kirche, nicht geben.

Elke Rogosky hat sich als geschiedene Frau in Peter Otten, einen Pastoralreferenten des Erzbistums Köln, verliebt und mit ihm eine Beziehung angefangen. Damit begehen sie in den Augen der katholischen Kirche eine schwere Sünde: „Unzucht“. Mehr noch: Peter Otten ist ein Ehebrecher, denn er bricht Elke Rogoskys erste Ehe, die – staatlich längst geschieden – vor Gottes Augen immer noch besteht. Jeder Katholik, der dies tut, bleibt von den Sakramenten, wie der Kommunion im Gottesdienst, in der Regel ausgeschlossen. Wer, wie Peter Otten, gar noch für die Kirche arbeitet, kann entlassen werden.

Das sind die Existenzsorgen von über 700.000 katholischen KirchenmitarbeiterInnen in Deutschland. Die beiden christlichen Kirchen sind der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes nach dem Staat. Im sozialen Bereich beherrschen sie den Markt, auf dem Land haben sie sogar oft das Monopol. Das betrifft vor allem: Kinderbetreuung, Krankenpflege, Weiterbildung, tausende Schulen, die Caritas. In all diesen Einrichtungen gilt bis heute das besondere, kirchliche Arbeitsrecht.

Diese deutsche Regelung ist ein weltweites Unikat, und so bestimmt die katholische Kirche auch das Privatleben der eigenen Mitarbeiter, ihr „außerdienstliches Verhalten“. Dazu gehört: Selbst wer, wie Peter Otten, nur eine geschiedene Partnerin hat, und eine Anstellung als Arzt oder als Lehrer oder eben als Referent, riskiert seine Kündigung. Dass es aus diesem Unglück einen Ausweg gibt, wissen die wenigsten: ein Prozess – vor einem katholischen Kirchengericht. Elke Rogosky beschließt, diesen Weg zu gehen.

Es ist ein geschlossenes, paralleles Justizsystem, über das kaum etwas bekannt ist: Die katholische Kirche hat, wie alle Religionsgemeinschaften in Deutschland, das im Grundgesetz verankerte Recht, ihre eigenen Angelegenheiten, ihre Organisation und Verwaltung, selbst zu regeln. Dabei wird ihr ein sehr hoher Autonomiebereich zugestanden bishin zu eigenen Gesetzen, wie das besondere Arbeitsrecht und auch eigene Gerichtshöfe.

22 katholische Kirchengerichte, so genannte Offizialate, gibt es in Deutschland, die sich fast ausschließlich mit dem Eherecht befassen, das die evangelische Kirche nicht kennt. 2015 führten sie gut 1.200 „Ehenichtigkeitsverfahren“ in drei Instanzen. Weltweit sind es alljährlich rund 72.000 Prozesse, im Jahr 2013 wurden auf diesem Weg 47.000 geschiedene Ehen rückwirkend für ungültig erklärt.

Da die katholische Kirche die weltliche Scheidung nicht anerkennt, müssen die Ex-PartnerInnen in einem kirchlichen Gerichtsverfahren beweisen, dass ihre Ehe nie den Ansprüchen der Kirche genügt hat und deshalb auch niemals gültig war. Der Kniff: Statt die Ehe zu trennen, hat sie schlicht nie existiert. Wird die erste Ehe vor einem Kirchengericht für „nichtig“ erklärt, ist der Weg frei für eine zweite, ­legale Beziehung. Elke Rogosky könnte Peter Otten dann auch kirchlich heiraten, sein Job wäre gesichert.

Sicher gibt es Katholiken, die die Verfahren aus rein religiösen, rein moralischen Gründen führen, die im Gewissen frei sein möchten für eine zweite Ehe. Fälle wie der von Elke Rogosky und Peter Otten aber zeigen, dass es in Deutschland ein weiteres, drängendes Motiv gibt, das aufwändige Verfahren anzugehen: die Auflagen des kirchlichen Arbeitsrechts.

„Meine Vernehmung dauerte mehrere Stunden“, erinnert sich Elke Rogosky an den Beginn ihres Prozesses, zu dem sie sich nach Jahren der Heimlichtuerei 2012 entschieden hat, um ihre Beziehung zu Peter Otten und seinen Job zu retten. Dreieinhalb Jahre wird das Verfahren dauern. Die Prozesse sind aufwändig: Vernehmungsrichter befragen ZeugInnen unter Eid, prüfen Beweise. Briefe, Tagebucheinträge. Bände von Akten werden gefüllt. In manchen Fällen kommen Psychologen und Psychiater hinzu, die die einstigen Ehepartner begutachten. Kirchenrichter fällen schließlich die Urteile.

„Ich war 1989, als ich heiratete, beruflich sehr ehrgeizig“, erläutert Elke Rogosky die Klagegründe, die sie vor dem Kirchengericht angegeben hat, um ihre erste Ehe für nichtig erklären zu lassen. „Meinem Ex-Mann und mir war klar, dass wir verhüten und erstmal keine Kinder wollen. Und ja, das reicht ja.“ „Kinderausschluss“, Peter Otten wirft den Fachbegriff ein. Kann Elke Rogosky beweisen, dass sie diese Einstellung zum Zeitpunkt ihrer Heirat hatte, kann ihre erste Ehe vor dem Kirchengericht für nie existent erklärt werden. Denn jemand, der sich keine Kinder wünscht, kann nicht gültig heiraten.

Außer Elke Rogosky und ihrem Ex-Mann werden zwischen 2012 und 2015 fünf Zeugen vor dem Kölner Kirchengericht vernommen: ihr Bruder, ihre Kollegin, ihre Freundin zu den Details von Elke Rogoskys Leben – sowie eine weitere Kollegin und ein befreundeter Pfarrer nur zu ihrer Glaubwürdigkeit. Alle werden getrennt voneinander befragt. Die Richter, die am Ende entscheiden, tun dies aufgrund der Aktenlage, Elke Rogosky wird sie nie zu Gesicht bekommen.

Anders als im staatlichen Recht ist der kirchliche Prozess nicht zugänglich für den Betroffenen oder gar die Öffentlichkeit. Hier gibt es keine mündliche Verhandlung, in der sich ein Gericht ein Urteil bildet, in dem es Zeugen oder Sachverständige hört. Das Eheverfahren wird, in Anlehnung an das antike römische Streitverfahren, schriftlich geführt.

Sie habe sich „total ohnmächtig“ gefühlt, erzählt Elke Rogosky. In jedem weltlichen Prozess kenne man die Abläufe, sehe alle Beteiligten von Angesicht zu Angesicht. Hier nicht. „Man hat das Verfahren angestoßen und jetzt muss man auch damit leben, egal was kommt.“

Hat sie konsequent verhütet? Wusste ihr Mann das? War er damit einverstanden? Diese Fragen werden Elke Rogosky von der kirchlichen Vernehmungsrichterin gestellt. Womit verhütet wurde, wurde ihr Ex-Mann befragt. Er ist sich unsicher, über zwanzig Jahre ist das alles schon her. Und Elke Rogoskys Bruder, kann er etwas über den Bezug seiner Schwester zu Kindern im Allgemeinen sagen? Wie geht sie mit seinen Kindern um? Alle Zeugen ­sagen übereinstimmend aus, dass sie sich sicher sind, dass Elke Rogosky erst einmal keine eigenen Kinder wollte.

Auch zu ihrer Glaubwürdigkeit werden sie befragt: Ist Elke Rogosky eine aufrichtige und vertrauenswürdige Person? Ja, ganz sicher, sagt die Kollegin. Das heißt, so fragen die Vernehmungsrichter nach, Elke Rogosky würde nie wegen eines persönlichen Vorteils Unwahres aussagen? Zur Sicherheit erstellt der Pfarrer ihrer Heimatgemeinde, den Elke Rogosky nie zuvor gesehen hatte, nach einem zweistündigen Gespräch mit ihr noch ein zusätzliches Glaubwürdigkeitszeugnis. All dies lässt sich in den Unterlagen nachlesen, zu denen sich das Bistum Köln auf Nachfrage nicht äußern will, Datenschutz.

Als Elke Rogoskys erste Ehe Mitte 2015 für nichtig erklärt wird, hat die Beziehung zu Peter Otten das Verfahren nur knapp überlebt. Otten seufzt. „Mit Abstand betrachtet, fragen Sie sich natürlich schon: Wohin treibt Sie diese Institution? Für die Sie nicht nur arbeiten, um die Kohle auf dem Konto zu haben, sondern für die ich nun auch schon lange Jahre gerne arbeite! Ich bin auch stolz auf meine Arbeit. Und dann an einen Punkt zu kommen, wo Sie merken, mit diesem Problem bin ich total alleine. Es interessiert niemanden, wie es mir geht, es interessiert niemanden, wie es Elke geht, denn die gibt es ja nicht … Das war schlimm.“

Peter Otten schaut zu Elke Rogosky: „Das tut alles furchtbar weh. Wir lieben uns ja, wir wollen auch zusammenbleiben. Dass es dann aber so schwierig werden kann aufgrund der Umstände, das glaubt man erstmal nicht.“ Elke Rogosky sagt: „Man fühlt sich als Schuldige, als Angeklagte“.

Monatelang hat sie sich überlegt, ob sie über diesen Prozess sprechen soll. Alle Beteiligten des Verfahrens werden vor dem Kirchengericht zur Geheimhaltung verpflichtet, doch Elke Rogosky möchte trotzdem davon erzählen: „Weil das Unrecht ist! Sowas darf es in meinen Augen nicht geben“.

Die katholische Kirche sieht das anders. Ihr Gerichtspersonal arbeitet parallel oder in kirchlicher Definition „auf Augenhöhe“ mit der staatlichen Justiz. Die Kirche hat sich verpflichtet, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze zu agieren und sich auf innerkirchliche Angelegenheiten zu beschränken.

Das gilt übrigens auch für die zweite spezielle Aufgabe, die die katholischen Kirchengerichte haben: Die Richter führen Strafprozesse gegen Missbrauchstäter aus den eigenen Reihen. Über 30 Verfahren waren es allein seit 2010, dem Jahr, in dem der Missbrauchsskandal in Deutschland öffentlich wurde. Zuvor hatte die ­katholische Kirche dieses Instrument so gut wie gar nicht genutzt. Lange hatte man auch hierzulande auf das Modell „Verschweigen und Versetzen“ gesetzt. Das änderte sich nach dem Skandal. Auf einmal wenden sich auch die deutschen Kleriker den Möglichkeiten der eigenen kirchlichen Strafgerichtsbarkeit zu. Dabei nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, Straftaten unabhängig von der Staatsgewalt intern zu verfolgen.

Das Problem: Hier geht es auch um Vergehen, die nicht verjährt und auch nach staatlichem Recht zwingend zu verfolgen sind.

Zwar hat die katholische Kirche sich in den bereits 2010 neu gefassten „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch“ selbst verpflichtet, eng mit den staatlichen Behörden zu kooperieren und aktuelle Missbrauchsfälle an die Staatsanwaltschaften zu melden: „Sobald tatsäch­liche Anhaltspunkte für den Verdacht ­eines sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen vorliegen, leitet ein Vertreter des Dienstgebers die Informationen an die staatliche Strafverfolgungsbehörde (…) weiter.“ Allerdings sind diese Leitlinien rein rechtlich nicht mehr als Handlungsempfehlungen. Hinzu kommt, dass es in Deutschland bislang keine Anzeigepflicht bei sexuellem Missbrauch gibt. Sie wird auch von Opferverbänden abgelehnt, weil die Betroffenen dadurch eventuell Vernehmungen und Strafprozessen ausgesetzt werden könnten, zu denen sie psychisch (noch) nicht in der Lage sind. Diese Position ist nachvollziehbar, schützt allerdings auch die Täter. Und so gibt es bis heute Missbrauchsfälle, in denen die Behörden von den kirchlichen Autoritäten nur unzureichend oder erst sehr spät eingeschaltet werden. Täter entgehen so im schlimmsten Fall einer Bestrafung durch die staatliche Justiz.

Außerdem unterliegen die kirchlichen Strafverfahren bis heute dem so genannten „Päpstlichen Geheimnis“, einer strikten, kircheninternen Geheimhaltungspflicht, deren Verletzung unter Strafe steht. Ob eine Staatsanwaltschaft erfolgreich wäre, wenn sie versuchte, auf die ­Herausgabe einschlägiger Akten zu drängen oder kirchliches Gerichtspersonal zu vernehmen, ist fraglich. Die Frage, wie das Nebeneinander der beiden Strafrechtssysteme funktioniert und ob es überhaupt mit moderner Rechtsstaatlichkeit vereinbar ist, wurde bislang kaum gestellt. Und auch über die „Ehenichtigkeitsverfahren“ wird bislang nur wenig diskutiert, schlicht weil bisher nichts über sie nach außen dringt. Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden. Doch statt mit dieser Realität umzugehen, setzt die katholische Kirche weiterhin auf kircheninterne Prozesse. Papst Franziskus hat Ende 2015 verfügt: Die Eheverfahren sollen vereinfacht werden, damit sie öfter in Anspruch genommen werden. Seitdem vermelden die deutschen Bistümer teils drastische Zuwächse an Ehenichtigkeitsverfahren. Ob die Kläger allerdings freiwillig oder aus Sorge um ihre berufliche Existenz in die Offizialate strömen, dazu macht die katholische Kirche offiziell keine Angaben.

Eva Müller

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