Unsichtbare Arbeiterinnen

Marlen und ihre Mutter Rosemarie.
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Als ich mit der Idee schwanger ging, ein Buch über die Arbeiterfrage der Gegenwart zu schreiben, wühlte ich mich durch Statistiken und Studien. Doch plötzlich tauchten sie auf, die Bilder meiner Mutter, die ihr Leben lang gearbeitet hatte. In ihrem Arbeitsleben war sie vieles gewesen: Fleischerin, Sachbearbeiterin, Schließerin in einem Gefängnis, auch Putzfrau. Kurzum: eine Arbeiterin. Doch ich hatte sie nie als solche wahrgenommen. Und zwar aus demselben Grund, warum die allermeisten von uns keinen Gedanken an die Arbeiterinnenschaft verschwenden – die Arbeiterinnen sind doppelt unsichtbar: In unserer Gesellschaft der „Mitte“ scheint die Arbeiterklasse ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Und wenn wir sie doch einmal thematisieren, dann beherrschen Bilder vom männlichen Malocher die Arbeitererinnerungskultur. Dabei genügt eine kurze Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterschaft, um zu verstehen: Sie war immer auch weiblich. Ausgerechnet für mich als Frau, die in der DDR geboren wurde, war Frauenarbeit, die gerade nicht die Arbeit im Haushalt meinte, so selbstverständlich, dass sie gleichsam unsichtbar geworden war.

Auf Facebook las ich einmal den Kommentar einer jungen Frau zu einem Text über das Vereinbarkeitsproblem. Wir seien doch immerhin die erste Generation von Frauen, die versuche, Kind und Karriere zu vereinen, hatte sie geschrieben, da sei es nur logisch, dass es hier und da hake. Zunächst musste ich lachen; dann wurde ich wütend. Denn die Vorstellung, Frauen hätten nie zuvor gearbeitet und zugleich Kinder erzogen, ist lachhaft. Sie zeugt von Geschichtsvergessenheit, der Entkoppelung von der Lebensrealität der allermeisten Frauen. Natürlich arbeiteten nicht nur die Frauen in der DDR, die sich sehr selbstverständlich als Werktätige betrachteten. Natürlich arbeiteten auch Frauen in der BRD, die Kriegswitwen und Alleinerziehenden, die Arbeitsmigrantinnen, all jene Frauen, die nicht mit dem Leiter einer örtlichen Sparkasse oder einem gutverdienenden Facharbeiter verheiratet waren. Natürlich arbeiteten Frauen in den Fabriken des 19. Jahrhunderts, man beschäftigte sie sogar sehr gerne, schließlich war ihre Arbeitskraft billig. Natürlich arbeiten, global betrachtet, die allermeisten Frauen täglich körperlich, während sie Kinder austragen und betreuen.

Gleichwohl machen diese Frauen, üblicherweise, keine Karrieren. Man könnte nun sagen, dass sich das Zitat auf eine bestimmte Form der Berufslaufbahn kapriziert. Eine, innerhalb derer ein Aufstieg zu vollziehen ist, die der Aufsteigerin harte Arbeit und noch härtere Selbstaufopferung abverlangt. Aber auch meine Mutter hatte Zwölf-Stunden-Tage, wenn sie nach ihrer Schicht als Schließerin ihre zweite Schicht als Putzfrau antrat und im Anschluss ihre dritte Schicht im Haushalt.

Die Hausfrauenehe ist ein historisch-sozialer Sonderfall, der in den Industrienationen nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde. Die bürgerliche Hausfrau des 19. Jahrhunderts war – jedenfalls was den Anteil an der Bevölkerung anbelangt – ebenso ein Sonder- und Ausnahmefall, das Produkt einer bestimmten Klassenlage. Hier zeigt sich, warum die feministische Debatte niemals von der Klassenfrage gelöst werden sollte, und warum umgekehrt keine Debatte über Klasse ohne einen feministischen – und im weiteren Sinne – identitätspolitischen Standpunkt auskommen kann.

Auch eines der großen Zeitthemen, die Ungleichverteilung der Care- bzw. Fürsorge-Arbeit, muss einer klassenpolitischen Revision unterzogen werden. Denn obwohl, statistisch betrachtet, alle Frauen mehr Zeit in die Kinderbetreuung und Hausarbeit investieren als Männer, ergeben sich für die Frauen der Arbeiterklasse daraus andere Konsequenzen. Nehmen wir nur eine akademisch gebildete, gutverdienende Mittelschichtsfrau. Ich kenne viele Frauen, die Care-Arbeit in vielfältiger Form auslagern. Einmal wöchentlich erledigt eine Putzfrau grobe Hausarbeiten, eine Babysitterin übernimmt an Abenden die Betreuung. Was passiert dagegen in Arbeiterfamilien, bei Geringverdienern und kinderreichen Familien, in denen das Geld stets knapp ist? Exakt das, was in der Biografie meiner Mutter zu beobachten ist: Oft sind es die ältesten Töchter (natürlich nicht die ältesten Söhne!), die die Care-Arbeit übernehmen, die ganz selbstverständlich zur Entlastung der Mütter herangezogen werden – mit Konsequenzen für das eigene Leben. Je mehr Care-Arbeit geleistet wird, desto weniger Zeit bleibt für das Lernen, das Entwickeln von Talenten, das Ausüben von Hobbies, das Knüpfen sozialer Beziehungen. Die Care-Arbeit, die von Kindesbeinen an abverlangt wird, kommt einer Art Beschneidung der Entwicklungsmöglichkeiten vieler Mädchen der Arbeiterklasse gleich.

Die Welt meiner jugendlichen Mutter schrumpfte auf den mütterlichen Haushalt zusammen. Hier konnte sie die heute vieldiskutierten Care Chains, die Fürsorgeketten, aus nächster Nähe beobachten: Während meine Großmutter ihre bettlägerige Schwiegermutter pflegte, kümmerte sich ihre Tochter um die jüngsten Kinder. Ich sehe solche Muster noch heute. Mädchen, die sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, statt spielen zu können oder ihre Hausaufgaben zu machen. Man kann sich vorstellen, was das für die Bildungsbiografien dieser Mädchen bedeutet. Doch diese spezifische Form der Benachteiligung von Mädchen bleibt in Bildungsdebatten unreflektiert.

Meine Großmutter entschied sich dafür, ihre 15-jährige Tochter von der Schule zu nehmen. Ihr Ausbildungsgehalt erleichterte das prekäre Leben der Großfamilie. Was der Verzicht auf weitere Bildung für meine Mutter selbst bedeutete, konnte meine Großmutter nicht interessieren. Sie entpuppte sich in ihrer Entscheidung gegen die Bildungschancen meiner Mutter als Frau ihrer Klasse, auch als Frau ihrer Zeit.

Dieses Muster überwand meine Mutter, die die Ausbildungs- und Studienzeiten ihrer drei Kinder durch Extraschichten und Zweitjobs ermöglichte. Meine Mutter fiel nämlich durch ein sozialpolitisches Raster, ausgerechnet, weil sie die üblichen Genderrollen sprengte. Nach der Scheidung meiner Eltern verarmte meine Mutter rasch. Unterhalt musste mein Vater, der Geringverdiener war, nicht bezahlen. Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hatte meine Mutter nicht. Die Ausbildung meiner Schwester war teuer, auch mein Bruder, der studierte, musste unterstützt werden. Mit jedem Monat türmten sich mehr unbezahlte Rechnungen auf, sie schienen aus allen Ecken und Ritzen der Wohnung zu dringen. Irgendwann machte ich mich daran, die Rechnungen meiner Mutter zu öffnen. Ich konnte ihr kein Geld leihen, wohl aber meine Zeit und ein wenig Energie, mit ihren Gläubigern zu verhandeln. Wir boxten uns durch. Ich hatte damals wenig Ahnung von der Geschichte des Klassenkampfes. Doch unser tägliches Leben war Kampf genug.

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