Der Kleiderkreisel & der Kapitalismus

Clownin Gardi Hutter. Foto: Adriano Heitmann
Artikel teilen

Mich verfolgt ein Mantel. Seine Wolle ist blaugraugetupft und das Futter aus türkisgrüner Seide, auf der Blumen ranken. Immer, wenn ich nicht mehr an ihn denke, taucht er auf einer Internetseite auf, die ich gerade besuche. Er blinkt dann in den kleinen Werbeflächen zwischen Artikelabsätzen. Manchmal bekomme ich auch eine E-mail, in der mir mitgeteilt wird, dass der Preis für den Mantel schon wieder um zwei Euro heruntergesetzt wurde. Das Heruntersetzen übernimmt nicht etwa der Laden, der den Mantel verkauft, sondern seine derzeitige Besitzerin. Die wohnt in Italien, so viel ist der Second-Hand-Plattform zu entnehmen, auf der mir der Mantel zum ersten Mal ins Auge sprang, und sie macht die ganze Arbeit beim Verkauf des Kleidungsstücks. Sie hat zehn Fotos aufgenommen, hübsch ausgeleuchtete Detailaufnahmen von Nähten und Säumen, hat eine liebevolle Beschreibung des Kleidungsstücks dazugestellt und beteuert, Fragen schnell zu beantworten. Den Preis des Mantels hat sie mittlerweile um die Hälfte herabgesetzt – dabei lag ihr Anfangspreis schon weit unter dem, den das italienische Label in seinen Läden für das schöne Stück einmal verlangte. Mir ist das immer noch zu teuer. Und eigentlich brauche ich gar keinen neuen Mantel, doch daran muss ich mich bei jedem Aufploppen der blaugrauen Wollschönheit erneut erinnern.

Die Italienerin und dieser Mantel sind Teil von etwas, das im Zuge der großen Nachhaltigkeitswelle gern als „Kreislaufwirtschaft“ bezeichnet wird. Statt Sachen, die man nicht mehr braucht, wegzuwerfen, sollen sie recycelt werden, weitergegeben, eben einen Kreislauf bilden, der nicht immer wieder mit der Produktion und dem Verbrauch von neuen Rohstoffen beginnen soll. Designer integrieren das seit einigen Jahren werbewirksam unter dem Schlagwort „Upcycling“ in ihre Kollektionen, egal ob es sich dabei um Möbel oder Klamotten handelt. Der Konsum soll ein gutes Gefühl vermitteln: Kaufen Sie ohne schlechtes Gewissen, denn hier wird die Umwelt entlastet. Wer meint, diesem Trend bislang noch nicht erlegen zu sein, möge an einem beliebigen Tag einmal zählen, wie oft einem mittlerweile das Wort „Nachhaltigkeit“ um die Ohren gehauen wird – und dann nochmal nachsehen, ob nicht doch längst das ein oder andere Produkt ganz unbewusst in Küche, Bad oder an den Arbeitsplatz gehüpft ist, dessen Kauf man vor sich selbst genau mit diesem „guten Gewissen“ gerechtfertigt hat.

Doch zurück zu den Klamotten, an denen sich der Trend gerade am besten zeigen lässt. Vestiaire Collective, eine Plattform für den Weiterverkauf von Designerstücken, verspricht: „Durch den bewussten Kauf von Second-Hand-Mode können Sie Ihre Umweltbelastung um bis zu 91 % reduzieren“. Neben diesem Versprechen stehen die neuesten Artikel der Seite zur Auswahl – die Frage, wie umweltfreundlich es am Ende ist, sich eine gebrauchte Handtasche aus New York nach Berlin fliegen zu lassen, bleibt sicherheitshalber unbeantwortet. Doch die Marketingstrategie funktioniert: Immer mehr Menschen kaufen Gebrauchtes. Aus den Tauschbörsen ist längst ein eigener Markt geworden. Die litauische Plattform Vinted etwa, die unlängst die deutsche Onlinetauschbörse Kleiderkreisel geschluckt hat, zählt 37 Millionen Nutzer in mehr als zwölf europäischen Ländern, die sorgten 2019 für 1,3 Milliarden Euro Umsatz. Und beim Onlinehändler Momox, der nicht nur Bücher und DVDs, sondern auch Klamotten ankauft, ist der Umsatz seit der Gründung 2009 von zehn auf 312 Millionen Euro gestiegen. Momox nimmt die angebotenen Stücke zum Festpreis entgegen, ausgezahlt wird nur, was die Qualitätsprüfung übersteht. Für einen Wollblazer von Marc O’Polo, dessen Ladenpreis im dreistelligen Bereich lag, bekommt man derzeit 5,37 Euro angeboten. Im Shop von Momox Fashion finden sich solche Blazer dann für rund 25 Euro wieder. Die Gewinnspanne des Onlinehändlers für den Weiterverkauf ist enorm. Pünktlich zur Pandemie sprangen auch die etablierten Onlinehändler auf den Trend auf: Zalando integrierte Second-Hand- Mode in sein Angebot und steigerte den Umsatz im ersten Quartal 2021 um 47 Prozent (im Vergleich zum Vorjahr) auf 2,2 Milliarden Euro.

Nicht erst, seit die Pandemie uns in die eigenen vier Wände gedrängt hat, ist das große Aufräumen und Weggeben allgegenwärtig. Jeder Deutsche kaufe etwa 69 neue Kleidungsstücke pro Jahr, trage diese aber nur halb so lang wie vor 15 Jahren, heißt es in einem Greenpeace-Report zu Fast Fashion. Und: rund 1,3 Millionen Tonnen Kleidung entsorgen die Deutschen pro Jahr, fast drei Viertel landen bei Textilverwertern. Diese Kreislaufwirtschaft hat natürlich auch ihren kapitalistischen Haken: Sie macht die Verkäuferinnen zu kostenlosen Arbeitskräften. Die Italienerin etwa, der der eingangserwähnte Mantel gehört, muss alle paar Tage Fragen von potenziellen Käuferinnen zu dem Kleidungsstück beantworten: Wie sind die Maße der Ärmel? Wie genau ist das Material des Futters zusammengesetzt? Aus welchem Jahr stammt das Stück? Sie ist dafür verantwortlich, den Mantel möglichst freundlich anzupreisen, um eine Käuferin zu finden. Und sie kann ihn am Ende direkt an diese verschicken, wofür sie sowohl das Besorgen der Verpackung, als auch den Weg zur Post auf sich nehmen muss. All das, damit die Plattform vom Weiterverkaufspreis noch einmal Prozente einstreicht. Die Italienerin zahlt am Ende also gleich mehrfach drauf – mit ihrer Freizeit und vom eigentlichen Gewinn.

Doch das ist nicht der einzige Haken an diesem Kreislauf. Den versuchen die Unternehmen nämlich ganz wörtlich weiterzudrehen. Denn ein Kreislauf kann nur entstehen, wenn auch die Nachfrage nach den gebrauchten Produkten weiter angekurbelt wird. So verfolgt der Mantel die potenzielle Käuferin also nicht nur durch geschickt gesetzte Cookies über Wochen im Internet. Auch die Verkäuferinnen sollen weiter konsumieren. Wer seine Kleidungsstücke erfolgreich losgeworden ist, den lockt sofort der nächste Konsum: Momox stellt in Aussicht, statt des vereinbarten Preises für den Ankauf noch ein paar Prozent draufzulegen, wenn man einen Einkaufsgutschein für die Plattform wählt. Die Fast-Fashion-Kette H&M hatte jahrelang eine eigene Klamottenannahme in ausgesuchten Filialen, auch hier stellte man Einkaufsgutscheine aus, getreu dem Motto: Schön, dass du etwas für die Umwelt tun wolltest, aber jetzt hast du doch wieder Platz im Schrank. Belohne dich mit einem neuen Stück für deine gute Tat.

Die Kreislaufwirtschaft wird schnell zum Konsum-Teufelskreis, wenn man nicht mit großer Willensstärke ausgestattet ist – sonst flüstert einem das E-Mail-Programm selbst beim Schreiben eines Textes per Push-Mitteilung ein: Schau mal, der schöne Mantel ist schon wieder reduziert, kauf ihn, eh eine Andere ihn dir wegschnappt.

MARIA WIESNER

WEITERLESEN: Maria Wiesner: „Alles in Ordnung? Warum wir vor lauter Aufräumen unser Leben verpassen“ (HarperCollins)

Ausgabe bestellen
Anzeige
'

Anzeige

 
Zur Startseite