Kleiner Unterschied - große Folgen
Seither ist viel passiert. Die Frauen sind unabhängiger und selbstbewusster geworden im Leben – und damit auch in der Sexualität. Die Sexualwissenschaft spricht von einer zunehmend „kommunikativen“ Sexualität zwischen den Geschlechtern, also einer befriedigenderen Lust für beide. Doch in jüngster Zeit schlagen Sexualwissenschaftlerinnen wie Margret Hauch vom Hamburger Institut Alarm. Sie stellte fest, dass Frauen aller Generationen zunehmend unzufriedener sind mit dem Sex als Männer. Jede Dritte tut sich gar schwer, überhaupt sexuell erregt zu sein. Hat sich – ganz wie bei der „sexuellen Revolution“ der 68er – ein neuer Druck aufgebaut? Ist Lust auch für die Frauen von heute oft keine neue Freiheit, sondern ein neuer Zwang?
Die Ursachen sind vielfältig. Da ist die einschüchternde, mediale Sexualisierung aller Lebensbereiche sowie die epidemische Pornografisierung der Sexualität. Und da sind die neuen Machos aus den alten Machokulturen, die als Platzhirsche unsere „neuen Männer“ an die Wand drücken. Was die Qualität der Lust zwischen Frauen und Männern nicht gerade hebt. Denn eines ist auch für die Sexualforschung unstrittig: Je ungleicher die Beziehungen, umso schlechter der Sex.
Im „Kleinen Unterschied“ ging ich von dieser Gleichheitsthese aus. Auch meine zweite zentrale These im „Kleinen Unterschied“, die Kritik an der einseitigen „Monosexualität“, scheint sich auf den ersten Blick erfüllt zu haben. Denn hätte mir damals jemand prophezeit, dass es nur dreißig Jahre später die „Homoehe“ geben würde, ich hätte es nicht geglaubt. Doch hat diese Entwicklung wirklich das Gebot der Monosexualität erschüttert? Nicht zwingend. Eher im Gegenteil: Sie hat sie verfestigt. Denn heute sind die Menschen zwar nicht mehr zwangsheterosexuell, aber sie sind entweder heterosexuell oder homosexuell. Und es heißt wieder, die „sexuelle Orientierung“ sei angeblich angeboren, zumindest aber irreversibel geprägt. Dabei sprach schon Sigmund Freud von einer „polymorphen“, vielfältigen Sexualität des Menschen, und von seinem Zeitgenossen Ferenczi kommt der Begriff von der kulturell geprägten „Zwangsheterosexualität“.
Sicher, die sexuelle Präferenz mag häufig früh geprägt sein und die jeweilige Neigung eine tiefe Vorliebe – unerschütterlich jedoch ist sie nicht. Das haben nicht zuletzt die vielen heterosexuell lebenden Frauen in den 1970er Jahren gezeigt, die sich im Zuge der „neuen Zärtlichkeit“ plötzlich reihenweise in Frauen verliebten. Nur, weil das Tabu gefallen war.
Genau das empfanden Männer verständlicherweise als Bedrohung. Schließlich hat das Liebesmonopol von Männern über Frauen für das starke Geschlecht sehr nützliche Folgen: Im Namen der Liebe neigen Frauen zur Selbstaufgabe, Gratisarbeit und Relativierung ihrer eigenen Existenz. Darauf baut die ganze männlich-weibliche Arbeitsteilung auf. Die sexuelle Präferenz scheint also eher eine soziale Frage als eine erotische. Und sie kann sich ändern innerhalb eines Lebens.
Eine Frau also eine „bekennende Lesbe“ zu nennen, wie es die Süddeutsche Zeitung mit der jüngst verstorbenen Frauenpolitikerin Johanna Dohnal tat – die Mutter von zwei Kindern ist, geschieden und zuletzt mit einer Frau lebte – das ist entschieden zu kurz gegriffen.
Bemerkenswert ist, dass auch die Sexualpraktiken wieder schmalspuriger geworden sind. Das belegen Studien: Sex zwischen Frauen und Männern gleich Koitus. Das weibliche Sexualorgan ist bekanntermaßen nicht die empfindungslose Vagina, sondern die Klitoris. Dass Frauen trotzdem Lust empfinden beim Koitus, hat sowohl psychische Gründe (die Vereinigung), als auch physische: Beim Eindringen in die Vagina können die Schwellkörper der Klitoris aktiviert werden. Die Frauen selber wissen das nur zu gut. So fand die Berliner Charité bei einer Befragung von 575 Frauen heraus, dass jede zweite Frau ihren ersten Orgasmus beim Masturbieren erlebt hat. 25 Prozent hatten ihren ersten Höhepunkt beim Koitus und 15 Prozent bei anderen Sexualpraktiken mit Männern.
Die amerikanische Sexualforscherin Mary Anne Sherfey hatte mit dem Buch „Die Potenz der Frau“ Anfang der 1970er Jahre das wichtigste Aufklärungsbuch über den weiblichen Körper geschrieben und war sozusagen die „Entdeckerin“ der Klitoris. Die australische Urologin Helen O’Connell forschte in den 1990er Jahren weiter und fand heraus: Die weiblichen Schwellkörper sind mindestens doppelt so groß wie bisher bekannt. Die Klitoris ist nur die Spitze des Eisberges. Innerhalb des Körpers reichen die Schwellkörper bis zu neun Zentimeter tief. Gesamt sind sie umfangreicher als die männlichen Schwellkörper.
Soweit die Anatomie. Doch das wichtigste Sexualorgan ist und bleibt der Kopf. Und der scheint bei Frauen noch präsenter zu sein als bei Männern. So empfinden interessanterweise körperlich erregte Frauen keine Lust, solange sie nicht auch begehren. Gar nicht so einfach, das mit der Lust und den Frauen.
Weiterlesen
Alice Schwarzer: Der kleine Unterschied und seine großen Folgen (Fischer Verlag) - Im EMMA-Shop bestellen