Brevier für den alltäglichen Sexismus

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Ich habe manchmal Déjà-Vus. Und zwar leide ich an dem Empfinden, dass immer, wenn das Thema „Sexismus“ oder „Menschenrechte für Frauen“ aufkommt, derselbe Mist hochgekocht wird wie in der letzten Diskussion und in der vorletzten und in der vorvorletzten … Zum Beispiel vor ein paar Tagen. Es begann damit, dass zwei Frauen sich darüber unterhielten, was sie auf Facebook für belästigende Anfragen von Männern bekommen; es ging dazu über, dass Männer sich einmischten; mündete in einer wilden Diskussion darüber, ob es patriarchale Verhältnisse denn überhaupt gibt und ob die Unterdrückung von Frauen real sei; und endete nach mehreren frauenfeindlichen Sprüchen der Männer dann darin, dass der Person, die darauf beharrt hatte, dass es Probleme mit der Wahrung der Menschenrechte für Frauen gäbe (jaja, das war ich), „Opfer­statusgeilheit“ vorgeworfen wurde – während die restlichen Frauen nicht müde wurden zu beteuern, wie sehr sie Männer doch mögen.

Derartige Diskussionen wiederholen sich täglich überall. Und damit nicht aus Versehen mal eine Diskussion darin mündet, dass sich wirklich was ändert, habe ich für unsere lieben BesserwisserInnen einen kleinen Guide geschrieben: Wie so ein Gespräch zu führen ist, damit alles so bleibt, wie es ist.

1. Nichts unwidersprochen lassen!
Kommt das Thema Sexismus auf, ganz wichtig: Lass nichts stehen! Vergiss nicht, dass du weit gehen kannst. Als Sexist wirst du erst wahrgenommen, wenn du knallhart sagst: „Nein, Frauen sollten keine Menschenrechte haben!“ Alles, was unterhalb dieser Linie liegt, ist debattierbar. Steter Tropfen höhlt den Stein! Egal welches Thema gerade besprochen wird: Widersprich! Verschleierung? „Tradition, hier sollte es nicht stattfinden, aber wenn wir nach Dubai fahren, schon!“

Abtreibung? „Wieso muss denn das Gesetz abgeschafft werden, es wird doch eh nicht strafrechtlich verfolgt! Und ­außerdem geht es nicht nur um dich ­dabei, sondern noch um ein anderes ­Lebewesen!“

Kinderehen? „Andere Länder, andere Sitten! Es gibt auch frühreife Mädchen!“

Häusliche Gewalt? „Es gibt aber auch Frauen, die ihre Männer schlagen!“

Vergewaltigung? „Aber die ganzen Falschaussagen!!!“

Prostitution? „Es gibt aber auch Frauen, die machen das freiwillig! Und wenn wir das abschaffen, wird es so viele Vergewaltigungen geben … Willst du das?“

Frauenquote in Unternehmen? Versichere, dass du für die Emanzipation der Frau bist! Vergiss aber nicht, als Halbsatz dranzuhängen: „… aber wenn dann in irgendeinem Amt am Ende auch nur so eine Vollpussy sitzt, die den Job auch nicht besser macht als ein Mann, ist auch nichts gekonnt!“

Sexueller Missbrauch von Mädchen? „Was heißt schon jede 4., es ist ja nicht jeder Missbrauch gleich schlimm!!!“

Sexuelle Belästigung: „Es gibt aber auch Frauen, die denken sich sowas aus!“

Vergewaltigung in der Ehe: „Es gibt auch Frauen, die Männer vergewaltigen!“

Es ist nicht wichtig, ob deine Einwürfe faktisch richtig sind oder nicht. Es ist nicht mal wichtig, ob sie Sinn haben oder nicht. Wichtig ist, dass gegengehalten wird! Auch wenn du noch nie etwas gegen Sexismus unternommen hast, muss dich das nicht daran hindern, zweifelnd eine Augenbraue zu heben und zu fragen: „One Billion Rising? Jaja, Gewalt gegen Frauen, ganz schlimm. Und wieso sollte Tanzen da jetzt was helfen? Und übrigens gibt es nicht nur Gewalt gegen FRAUEN!“ Bring dein Gegenüber in die Defensive, indem sie sich für jeden einzelnen Satz rechtfertigen muss! Tatbestände sind anzweifelbar.

Ist sexuelle Belästigung das Thema? Sei subversiv und wirf ein, dass wir alle doch gar nicht wissen, was das eigentlich ist und wo da die Grenzen sind, also gibt es das vermutlich gar nicht. Zahlen allgemein sind immer anzweifelbar. Du findest das alles auch ganz, ganz schlimm, leider haben wir keine Zahlen, vermutlich gibt es sexuelle Belästigung also gar nicht. Kommt jemand mit einer Statistik, frage, woher die stammt! Sage dann, dass du keiner Statistik traust, die du nicht selber gefälscht hast. Zahlen sagen GAR NICHTS! Kommt dir jemand mit persönlichem Erleben, bekunde dein Bedauern, versichere, dass dies die erste Person ist, die du kennst und die sowas erlebt hat, und sage dann, dass dieser Einzelfall jetzt aber nicht auf die Gesamtsituation übertragen werden sollte.

Sind die Beteiligten der Diskussion dann immer noch der Meinung, es gäbe Missstände in Sachen Menschenrechte für Frauen, versichere, durchaus lernen und begreifen zu wollen und bitte darum, es Dir BESSER zu erklären. Das steht dir zu, niemand kann verlangen, dass du dich in Internet und Bibliotheken selber informierst. Wenn sie besser behandelt werden wollen, müssen sie dir begreiflich machen, was das Problem ist, und wenn du das Problem nicht verstehst, existiert es nicht. Versichere deine guten Absichten. Lass dir alles erklären, nicke wohlwollend, lege aber erneut nach jedem von der Gegenseite gesprochenen Satz ein Störfeuer ein. Mach das so lange, bis alle DiskussionsteilnehmerInnen mürbe sind.

2. Bring die KritikerInnen in die Defensive!
Nachdem du nun also erfolgreich bezweifelt hast, dass es überhaupt ein Problem gibt, wird es Zeit, den Spieß umzudrehen. Mache zunächst klar, dass „Falschaussagen“ ein großes Problem sind und dass Sexismusvorwürfe Karrieren zerstören können (Wie man an Donald Trump jetzt nicht gerade sehen kann, aber sonst wirklich IMMER)! Schaue erschüttert und ernst in die Runde und erläutere die Gefährlichkeit dessen, auszusprechen, was ist: Es könnte immer auch die falschen Männer treffen.

Zieh das Problem runter auf die Ebene von „Missverständnissen“. Frage dann, ob der empörte Ton mancher Feministinnen wirklich der Sache dienlich ist. Welcher Mann will schon mit Frauen reden, die so rumkeifen? Wer will hier eigentlich was von wem? Also, ein bisschen netter bitte! Vergiss nicht, es „dominant“ und „herrisch“ zu nennen, wenn Frauen auf die Wahrung ihrer (Selbstbestimmungs)Rechte pochen. Bedauere auch all die „ungeschickten“ Männer, die zu Tätern gestempelt werden, bloß weil sie nicht wissen, wie sie Frauen denn sonst ansprechen, sonst ins Bett kriegen, sonst vögeln dürfen (wenn nicht via Belästigung, dummer Anmache, Nötigung). Wenn nicht so, dann eben gar nicht. Aber das kann doch auch keiner wollen, oder?

Frag am besten nach, ob irgendjemand hier wirklich ein von jeglichen erotischen Untertönen bereinigtes Umfeld haben möchte. Wo Flirten verboten ist. Wo der Mann nicht mehr „den ersten Schritt machen“ darf. Wo es im Bett nur noch Blümchensex gibt! Wo der Staatsanwalt mit im Ehebett liegt. Sagt irgendjemand, dass es darum nicht geht, wirf das Wort „prüde“ ihr oder ihm an den Kopf.

3. Mach klar, wer hier das wahre Opfer ist!
Jetzt bist du fast übern Berg! Komm auf die falschen Vergewaltigungsanschuldigungen zurück und sage: „Aber Frauen sind auch manchmal schlimm!“ Formuliere, dass Frauen „auch mal Scheiße bauen!“ Blicke deinem Gegenüber tief in die Augen und sage in einem Ton, als offenbartest du tiefste Geheimnisse, Sachen wie: „Frauen sind nicht die besseren Menschen!“ Nicke zu dieser deiner Aussage wissend.

Deklariere Frauen zu Tätern, denn darüber spricht NIE jemand: Frauen, die ihre Männer prügeln! Frauen, die Männer vergewaltigen! Prostituierte, die armen verliebten Männern das Geld aus der Tasche ziehen! Frauen, die Kinder missbrauchen! Frauen, die die Kinder nach der Scheidung behalten dürfen und die Männer finanziell „aussaugen“! Frauen, die die „Ressource Sex“ in der Ehe streng rationieren, damit die Männer gefügig bleiben!

Lass ein Tränchen rollen und gib schluchzend zu, dass auch DU mal Opfer häuslicher Gewalt warst, weil deine Ex dir vor zehn Jahren mal eine geklatscht hat. Sag, dass AUCH DU unterdrückt wirst, zum Beispiel von deiner Chefin, die dir zu sagen hat, wo es lang geht. Zieh die Nase hoch, schau verstört in die Ecke und sage: „Aber DAS interessiert euch natürlich nicht!“ Zeig, wer hier das wahre Opfer ist: DU! Zeig, wer hier die wahren Täter sind: FRAUEN!

4. Und das ist der wahre Täter!
Nachdem die Diskussion jetzt also auf dem Niveau angekommen ist, dass alle finden, dass häusliche Gewalt IMMER schlimm ist, EGAL von welcher Seite sie kommt, und dass es für Männer wirklich VERUNSICHERND sein muss, wenn sie nicht mehr wissen, was sie noch DÜRFEN, ohne mit einem Bein schon im Knast zu stehen („Wenn ich am Ende eines Dates die Frau dann küsse, ist das dann vielleicht auch schon sexuelle Belästigung?!“), ist es an der Zeit aufzuzeigen, wer die wahren Täter sind.

Und das geht so: Wagt es irgendjemand in der Runde, doch noch zu konstatieren, dass es massenhaft Gewalt von Männern gegen Frauen gibt, sage: „Wehrt euch doch, dann hört das auch auf!“ Und lasse damit anklingen, dass die Frauen selbst das doch irgendwie schon wollen. Denn wenn sie wirklich wollten, dass dieser Missstand aufhört, würden sie sich ja wehren und dann wäre Schluss damit. Dass dieser Missstand noch immer existiert, lässt ja nur einen einzigen Schluss zu: Sie wollen es so! Formuliere Sätze wie: „Aber wenn er sie schlägt, warum ist sie denn dann noch bei ihm? Warum zeigt sie ihn denn nicht an?“ Und frage, wo denn die Revolution der Frauen bleibt, wenn die Sache wirklich so schlimm ist wie behauptet.

Aber mach nicht den Fehler, Opfern nur eine Teilverantwortung zuzuweisen. Sage auf jeden Fall auch Sätze wie: „Aber wenn sie ihren Vergewaltiger nicht angezeigt hat, muss sie halt damit leben, dass er weiter rumrennt und weitermacht, dann ist sie dran schuld!“ Oder: „Verschleierte Frauen suggerieren ihren Männern ja überhaupt erst, dass es reine und unreine Frauen gibt, und dass die unreinen belästigt werden dürfen! Die verschleierten Frauen sind daran schuld, wenn ihr auf der Straße und im Schwimmbad angegrabscht werdet!“

Jetzt hast du es fast geschafft. Mach als letzten Punkt klar, dass nur Opfer ist, wer auch Opfer sein will. Erzähle dazu eine kleine Anekdote. Zum Beispiel die von der einen Kollegin, die dauernd sexistisch angemacht wird und die sich den Respekt ihrer Kollegen verdient hat, indem sie laut über deren derbe Witze lacht, aber diese auch mal zurechtweist, wenn sie ihr zu sehr auf den Busen starren. Damit ist klar: Man muss kein Opfer sein! Man kann sich auch wehren! Dann hört das auf. Hört das nicht auf, dann nur, weil man Opfer sein WILL. Und eigentlich sind Frauen ja auch gar keine Opfer, sondern für all diese Dinge selbst verantwortlich.

5. Jetzt werde persönlich!
Es ist sehr wichtig, dass du jetzt auf die, die dir immer noch widersprechen, eingehst und sie persönlich angreifst. Am besten geht das, indem du ihre Sicht problematisierst. Bezeichne ihre Analyse der bestehenden Verhältnisse als Hass. Wenn sie ansprechen, dass Männer Gewalt gegen Frauen ausüben, wirf ihnen vor, sie sähen „alle Männer als Feinde“. Bedaure dies als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die ja nun gar nicht dein Ding ist.

Mach ihnen klar, dass, indem sie die Dinge benennen, sie in deinen Augen DASSELBE tun wie diese Männer: Nämlich hassen und sich auf eine Gruppe einschießen. Spricht jemand aus, was eine bestimmte Gruppe von Menschen – Männer! – tut, sag, dass es ganz schlimm sei, nach Geschlecht zu trennen und dann abzuwerten oder Vorurteile zu haben, und dass nicht alle Männer so sind. Stell fest, dass du das überhaupt furchtbar findest, denn wo hier alle nur „Männer“ und „Frauen“ sehen, siehst du nur „Menschen“. Du bist nicht so! Bekunde deine friedlichen Absichten. All dieser „Hass“ hier, der ist nichts für dich.

Privatisiere das Problem. Frag dein Gegenüber, ob es sich schonmal gefragt hat, warum immer nur ihm bzw. ihr so schlimme Dinge passieren.

Privatisiere die Realität. Sage Sätze wie: „Oh, das ist dein Kampf, den du da führst, nicht meiner. Ich mag nicht kämpfen, ich mag keinen Streit. Ich mag Frieden und löse alles mit Liebe!“

Privatisiere die Analyse. Sag: „Aber das ist doch völlig okay, wenn du das so siehst. Manche glauben an Jesus, manche glauben an Energiefelder und du glaubst halt daran, dass es ein Patriarchat gibt.“

Privatisiere das Anliegen. Formuliere Sätze wie: „Ja, aber du redest immer nur von Macht und Privilegien und Gewalt. Ich bin nicht so, mir ist Macht nicht wichtig. Und Privilegien auch nicht. Und Gewalt finde ich ganz schlimm. Ich hab halt andere Interessen als du.“

Stell dein Gegenüber als übersensibel und naiv hin: „Die Welt ist nunmal schlecht, du wirst noch viel mehr Grausames sehen!“ Frage, ob es sich in seiner „Opferhaltung“ nicht doch etwas zu wohl fühlt und nicht vielleicht gern Opfer ist?

Jetzt geht’s ans Eingemachte. Setze deine Stiche punktgenau mit Sätzen wie: „Aber wenn du alle Männer als Feinde siehst, kannst du dich ja gar nicht mehr verlieben. Wie schade!“ Oder: „Dann lässt du so viele nette Männer nicht an dich ran, da bist du ja gar nicht mehr offen.“ Und: „Schade, dass du so eine Angst vor Männern hast.“

Wenn dein Gegenüber sich jetzt schnaufend und kopfschüttelnd abwendet, hast du es geschafft und kannst dich als moralischer Sieger fühlen: DU bist gegen Hass! Gegen Streit! Dafür, dass alle Menschen Menschen sind und sein dürfen! Für Liebe, Frieden und Harmonie.

Fazit
Im Ernst jetzt: Diese Verhaltensweisen beobachte ich fast jedes Mal, wenn es um „Frauenthemen“ geht. Warum ist das so? Bei Männern spielen wohl die eigenen Täteranteile mit hinein: ins Bordell gegangen, Gewaltpornos geschaut, sexistische Witze gerissen, die eigene Freundin zum Sex genötigt … die Liste der Möglichkeiten ist lang und schmutzig. Aber was bringt Frauen dazu, zu Mindguards von Tätern zu werden und in einer Diskussion über Vergewaltigungen plötzlich immer und immer zu betonen, dass nicht alle so sind und dass SIE Männer mögen? Ist es die Angst davor, hinzuschauen? Ist es die Furcht davor zu sehen, dass die Gewalt, die sie bisher erlebt haben, eben nicht privat, sondern ein Massenphänomen ist? Nicht zufällig geschehen, nicht selbstverschuldet, sondern strukturell bedingt?

Das Eingestehen der Lage, wie sie eben ist, wäre der erste Schritt auf dem Weg zu seiner Abschaffung. Das macht Angst. Dann doch lieber weiter verdrängen. Vielleicht kommt man selbst ja nochmal davon. Und manchmal scheint es, als ob Missstände durch das Aussprechen erst wahr werden. Doch wo kein Problem gesehen wird, gibt es auch kein Bewusstsein.

Anneli Borchert

Wir drucken den leicht gekürzten Text mit freundlicher Genehmigung nach aus dem Blog www.kritischeperspektive.com

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