Die Jüdin, die nicht hassen wollte
Mireille Knoll tanzte gerne, sang gerne, ging gerne aus, auch wenn das Geld kaum reichte. Ihren 28-jährigen Mörder kannte sie seit dessen siebtem Lebensjahr. Immer hatte sie ein nettes Wort gehabt für den Nachbarjungen oder einen Bonbon, später ein Glas Wein. Der algerische Junge aus ihrem Wohnhaus in Paris wurde ein Kleinkrimineller, ja vergriff sich innerhalb ihrer Wohnung sogar einmal an einem kleinen Mädchen. Mireille wollte es nicht wahrhaben, hielt weiter zu ihm und seiner Familie.
Am 23. März 2018 erstach Yacine Mihoub die im Rollstuhl sitzende 85-Jährige in ihrer Wohnung, zusammen mit einem Komplizen: zwölf Stiche bis zum Messerschaft und eine durchgeschnittene Kehle. Anschließend legten sie Feuer in der Wohnung.
Die Söhne von Mireille Knoll, Allan und Daniel, konnten es lange nicht fassen, dass das Motiv der jungen Männer nackter Antisemitismus war. Aber es gab kein anderes. Jetzt schrieben sie ein Buch über ihre Mutter, „die Jüdin, die nicht hassen wollte“.
Grund zum Hass hätte die lebenslustige Mireille, die mit ihren Eltern in Kanada den Holocaust überlebt hatte, reichlich gehabt: Der Vater ihrer Kinder hatte den Todesmarsch von Auschwitz überlebt. Mehrere Familienmitglieder und FreundInnen wurden in KZs ermordet. Und dann der seit einigen Jahren wieder aufflammende Judenhass, dessen Quelle nicht nur in Frankreich, dem europäischen Land mit dem höchsten Anteil an Juden, vor allem verhetzte junge Muslime sind.
Der Mörder wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Mireilles Sohn Daniel, ein geborener Franzose, schreibt am Ende des Buches: „Mein Herz schlägt zumindest teilweise in Israel. Ich fühle mich dort sicherer.“ Das war vor dem 7. Oktober 2023.
Heute kann man in Frankreich sterben, weil man Jude ist. Der Mord an Mireille Knoll reiht sich in eine Serie von antisemitischen Gewaltverbrechen und Terrortaten ein, die unser Nachbarland seit fast zwei Jahrzehnten erschüttert. „Leben wi Got in Frankrajch“, die im Jiddischen seit langer Zeit gebräuchliche Redewendung über das Leben wie Gott in Frankreich trifft weniger denn je zu. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 schlägt den Juden der Hass immer häufiger entgegen. Frankreich verzeichnet einen neuen Höchststand antisemitischer Übergriffe. 2023 wurden 1.676 antisemitische Straftaten registriert, im Jahr 2022 waren es 436. Der Alltag in einem Land mit geschätzt sechs Millionen Muslimen ist für die etwa eine halbe Million Juden mehr denn je von Angst geprägt. Der Verdrängungsprozess der Juden aus hauptsächlich von Einwanderern aus dem arabisch-islamischen Kulturraum bewohnten Vierteln der Hauptstadt ist gut dokumentiert. Im vergangenen Jahrzehnt sind in der Hauptstadtregion etwa 60.000 Juden umgezogen, weg aus den nördlichen und östlichen Vororten in die „sicheren“ westlichen Vororte oder hinein ins Zentrum. (Ein Auszug aus dem Nachwort von Michaela Wiegel.)
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Allan und Daniel Knoll: Unsere Mutter. Die Jüdin, die nicht hassen wollte. Ü: Isolde Schmitt (Zsolnay, 24 €).
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