Kriegswaffe Vergewaltigung
Bis die Nachrichten über das Leiden der Frauen im Krieg kommen, muss man normalerweiase eine Weile warten. Obwohl das Bild einer weinenden Mutter, die ein Kind im Arm hält, ein Symbol für alle Leiden des Krieges ist, ob in Afghanistan, Syrien oder Bosnien, steht die Berichterstattung über Frauen nie im Vordergrund. Das ist auch im Ukraine-Krieg so. Erst nach einer Woche tauchten Frauen als besondere Kategorie in den Nachrichten auf, zunächst als Soldatinnen. Mehreren Quellen zufolge sind zwischen 15 und 20 Prozent der ukrainischen Armee weiblich, einer der höchsten Prozentsätze Europas. Derzeit kämpfen 36.000 Frauen Seite an Seite mit den Männern im Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Mit der vollständigen Mobilisierung des Militärs hat die Präsenz von Frauen im ukrainischen Militär sogar noch weiter zugenommen, auch an den Fronten.
Wenig später folgten Nachrichten über Frauen als Opfer einer ganz besonderen Art von Kriegsgewalt. Sexuelle Gewalt war den Frauen allerdings auch vor dem Krieg nicht erspart geblieben. Eine OSZE-Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass drei von vier Ukrainerinnen angaben, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben, jede dritte Frau berichtete von Sexualgewalt. Im Krieg steigt die Gewalt gegen Frauen noch mehr an.
OSZE-Studie: Schon 2019 berichtete jede dritte Ukrainerin über sexuelle Gewalt
Bislang sind die Zahlen, die an die Öffentlichkeit gelangen, noch relativ gering. So wurden in Kershon nach Zeugenaussagen elf Frauen vergewaltigt, von denen nur fünf die Taten überlebten. Das wurde auch von einem örtlichen Gynäkologen bestätigt. Das bedeutet nicht, dass es sich bei dieser Gewalt um Einzelfälle und Zufälle handelt, sondern nur, dass die Öffentlichkeit noch keine Daten hat, dass Zeugenaussagen über Vergewaltigungen noch nicht öffentlich geworden sind. Zahlreiche lokale und internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen sind jedoch bereits dabei, solche Daten zu sammeln. Darüber hinaus hat die ukrainische Parlamentsabgeordnete Maria Mezentseva laut einem Zeitungsbericht Alarm geschlagen, dass russische Soldaten während der Invasion Frauen vergewaltigt hätten. Sie sagte, die Ukraine werde zu diesen Verbrechen „nicht schweigen“.
Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung, doch im Krieg kann sie auch noch etwas anderes sein, sogar Schlimmeres. Erstens, weil es sich in der Regel um ein Massenphänomen handelt. Zweitens, weil es sich in vielen Kriegen um gezielte, geplante Aktionen des Feindes handelt. Daher wird sexuelle Gewalt zu einem Mittel der Kriegsführung. Sie wird als „Kriegswaffe“ eingesetzt.
Erst seit dem Krieg in Bosnien gelten Frauen nicht mehr als Kollateralschaden
Es ist heute bekannt, dass Vergewaltigungen Teil jedes Krieges waren und sind und Frauen als Kollateralopfer betrachtet wurden. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien haben diese Sichtweise jedoch verändert, insbesondere der Krieg in Bosnien und Herzegowina 1991 – 1995. Es ist sehr schwer abzuschätzen, wie viele Frauen in diesem Krieg vergewaltigt wurden, aber die gängige Schätzung liegt zwischen 10.000 und 50.000.
Der Unterschied zu früher bestand jedoch darin, dass viele Flüchtlingsfrauen, sobald sie in Sicherheit waren, bereit waren, über die Schrecken zu sprechen, die sie erlebt hatten. Das war sehr ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass normalerweise nur eines von zehn Opfern unter normalen Umständen spricht. Ihre zahlreichen Zeugenaussagen waren ausschlaggebend dafür, dass der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) eine Reihe von Prozessen, insgesamt 72, wegen sexueller Gewalt und Vergewaltigung einleitete und 32 Männer verurteilte. Der ICTY erklärte „systematische Vergewaltigung“ und „sexuelle Versklavung“ während des Krieges zu einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das nach dem Kriegsverbrechen des „Völkermordes“ an zweiter Stelle steht. Im sogenannten „Foca“-Fall wurden 2001 zum ersten Mal drei Männer vor einem nationalen oder internationalen Gericht wegen Vergewaltigung als Kriegswaffe verurteilt.
Die Informationen über Vergewaltigungsopfer in der Ukraine wurden recht schnell öffentlich, vor allem, wenn man sie mit den Vergewaltigungen von Frauen vergleicht, die 1945 von der siegreichen Sowjetarmee in Deutschland begangen wurden. Manche Historiker bezeichnen diese Vergewaltigungen als „das größte Phänomen von Massenvergewaltigungen in der Geschichte“. Es wird geschätzt, dass mindestens 1,4 Millionen, vielleicht sogar 2 Millionen Frauen vergewaltigt wurden.
Ein wichtiger Unterschied zu heute besteht darin, dass diese Vergewaltigungen erst Jahrzehnte nach ihren Ereignissen bekannt wurden. Ein halbes Jahrhundert lang herrschte Schweigen. Die vergewaltigten Frauen schwiegen, die Historiker und Zeitzeugen schwiegen, die Institutionen schwiegen. Jetzt ist zumindest das Schweigen vorbei – die Nachrichten über die Vergewaltigungen in der Ukraine kamen sofort.
Derzeit ist die Zahl der vergewaltigten Frauen vermutlich vergleichsweise gering, weil die russische Offensive eher aus Luftangriffen und schweren Artillerieangriffen besteht. Aber die wahre Zahl wird erst nach dem Krieg mit einiger Sicherheit ermittelt werden können. Die relativ neue Definition von Vergewaltigungen als Kriegswaffe und Kriegsverbrechen wird die Täter nicht aufhalten, aber es ist nicht ohne Bedeutung für den Ruf des russischen Militärs.
Es ist wichtig, die Zeugnisse solcher Kriegsverbrechen genau zu dokumentieren
Es ist auch darum wichtig, sich dieser Art der Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung bewusst zu sein und die Zeugnisse solcher Kriegsverbrechen so genau wie möglich zu dokumentieren. Ukrainische Frauen sind keine Kollateralopfer in diesem Krieg, Massenvergewaltigungen sind keine Nebenfolge und auch kein Zufall in diesem Krieg. Im Gegenteil: Schon der Krieg in Bosnien und Herzegowina hat gezeigt, dass Vergewaltigungen ein wirksames Mittel zur ethnischen Säuberung der unerwünschten Bevölkerung in einem bestimmten Gebiet sind. Im Rahmen einer patriarchalischen Moral kann die Schande einer ethnischen Gruppe – will heißen: Männer, die dabei versagt haben, ihre Frauen zu verteidigen – die Menschen ins Exil zwingen.
Aber selbst wenn sie weit weg vom Kriegsgebiet und den russischen Soldaten sind, erwarten die Frauen als Flüchtlinge besondere Schwierigkeiten. Ihre Zahl wächst täglich und hatte Ende März die Zahl von vier Millionen Menschen erreicht. Auch wenn sie sich bereits an der polnischen, ungarischen oder rumänischen Grenze befinden, also in Reichweite der Rettung, sind ukrainische Frauen und Mädchen, vor allem wenn sie allein reisen, einem hohen Risiko von Vergewaltigung, sexueller Sklaverei, Pornografie Zwangsprostitution und anderen Formen sexueller Gewalt durch Menschen ausgesetzt, die zunächst nicht als ihre Feinde angesehen werden. Schon zu Kriegsbeginn wurde von vielen Fällen des Missbrauchs berichtet. Die gute Nachricht ist, dass es viel mehr Menschen gibt, die bereit sind, den geflüchteten Frauen zu helfen als ihnen zu schaden.
Das eigentliche Problem ist die Zeit. Je länger sich dieser Krieg hinzieht, desto weniger werden sie in den Medien präsent sein. Und je weniger die Frauen in den Medien präsent sind, desto weniger Hilfe wird ihnen zuteil werden.
Um das zu vermeiden, müssen alle Medien offen für ihre Zeugenberichte sein und sowohl zivile Gruppen als auch offizielle Organisationen müssen so viele Belege wie möglich sammeln. Die feindliche Armee glaubt nicht, dass die Strafe sie erreichen wird – aber ihre Opfer müssen das glauben, um zu überleben.
SLAVENKA DRAKULIC