Der Zahn des Wolfes hat Blut geleckt
Seit heute früh herrscht in der Türkei Ausnahmezustand. Man wird überall in Istanbul angehalten. Junge Soldaten “kontrollieren” einen: fragen nach dem Ausweis, durchsuchen Taschen. Die Zeitungen und Internet-Seiten sind voll mit Infos über den Ausnahmezustand. Ich war zehn Jahre alt beim letzten Militär-Putsch 1980. In einer jungen Gesellschaft wie der Türkei erinnert man sich eher an die näheren, einigermaßen liberalen Zeiten.
Nach der Freitagnacht, als über uns F-16-Jets flogen und Dschihad-Rufe aus den Moscheen erschallten, sahen wir im Fernsehen Fotos von zu Tode geprügelten Menschen. Es war traumatisch. Meine Putzfrau, eine Kurdin aus Diyarbakir, die seit den 80ern in Istanbul lebt, erzählte heute Morgen, dass ihre Tochter seit Freitagabend nicht mehr redet. Sie sitzt da und sagt kein Wort.
Es sind wieder Menschen auf der Straße - die Lebensfreude ist verschwunden
In den ersten Tagen danach waren die Straßen Istanbuls verwüstet und leer. Seit gestern sieht man wieder Menschen auf den Straßen, aber die Lebensfreude ist verschwunden. Öffentliche Verkehrsmittel waren bis Mittwoch-Mitternacht umsonst, damit die Menschen wieder ausgehen. Vorgestern bin ich mit dem Bus gefahren. Aber der Bus war fast leer, das ist bei uns ganz ungewöhnlich.
Ich war am Taksim-Platz, an dem sich seit Samstagabend die Gegner des Putsches und Anhänger von Erdogan treffen. Ich wollte nach Dolmabahçe zu meinem Lieblings-Teegarten direkt am Meer. Am Ende des Taksim, wo es Richtung Dolmabahçe geht, ist eine Minibus-Haltestelle. Da steht fast immer eine Schlange auf dem weiten Bürgersteig. Vorgestern gab’s keine. Ich hörte aber laute Stimmen, als ich mich der Haltestelle näherte. Ich traute mich nicht weiterzugehen.
Ein junger Mann in Shorts und mit Rucksack wurde von dem dicken Minibus-Fahrer beschimpft. Der junge Mann sagte nichts, guckte einfach nur. Der Fahrer wurde immer lauter und plötzlich schlug er dem anderen mitten ins Gesicht! Der Junge stand ganz baff da. Das alles geschah vor meinen Augen, innerhalb weniger Sekunden. Die böse Erinnerung an die Fotos vom Freitagabend von zu Tode geprügelten Menschen waren wieder da. Horror.
Hat ein Wolf einmal Blut geleckt, ist er nicht mehr aufzuhalten
In der nächsten Minute stieg ein anderer, auch ganz dicker Fahrer aus seinem Minibus, schreiend und schimpfend. Ohne zu zögern, haute auch er dem Jungen eins auf die Nase. Der Junge stand immer noch da wie eine Marionette. Der zweite Fahrer fragte erst jetzt den anderen, was los sei. Dieser antwortete: „Er hat mich beschimpft.“ Der zweite geriet darauf völlig außer sich. „Weißt du, wer wir sind? Weißt du, wer an dem Abend auf der Straße war? Wir waren es! Wir!“
Der Junge hat die ganze Zeit über nicht mal seinen Mund aufgemacht. Er stand wahrscheinlich unter Schock. Aber der Dicke schrie immer lauter. Es waren auch andere Fahrer am Platz, aber nicht einer hat irgendetwas getan, um die Lage zu deeskalieren. Der Dicke schrie: „Warte hier! Ich zeig’s dir!“ Er ging zur Tür seines Minibusses und holte einen Schlagring raus. Er trug ihn in seiner rechten Faust. Ich habe es gesehen, der Junge nicht. Der Arme stand völlig verwirrt da. Der Fahrer kam mit schnellen Schritten zu ihm.
Was nun? Was? Da fing ich an zu schreien: „Lauf, mein Sohn!“ Mit leeren Augen hat er eine Sekunde lang auf mich geguckt. Ich schrie wieder: „Lauf!“ Erst dann kam er zu sich und lief schnell weg.
Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: „kurdun dişine kan değdi.“ Wortwörtlich übersetzt heißt es: “Der Zahn des Wolfes hat Blut berührt.” Anders gesagt: Wenn ein Wolf Blut geleckt hat, ist er nicht mehr aufzuhalten. Wenn das stimmt, wird unser Land für kleine Schafe hoch gefährlich.
Mehr Waffen für alle - doch gegen wen sollen diese Waffen gerichtet werden?
Auch die Frauenorganisationen haben Angst. Regierungssprecher Numan Kurtulmus sagte, dass es wegen des Putsches nun erleichtert wird, dass jedermann einen Waffenschein bekommt. Nach Angaben dieser Frauenorganisationen werden jeden Tag vier Frauen von ihren Ehemännern oder Verwandten umgebracht. Von daher stellt sich die Frage: Gegen wen sollen diese Waffen gerichtet werden?
Die Türkei ist heute eine Gesellschaft der Angst und des Traumas geworden. Wer kann, verlässt das Land. Ein schwuler Freund von mir hat in Kanada Asyl beantragt. Eine Freundin, alleinerziehende Mutter, flieht nach London mit ihrem Sohn. Und ich? Ich bekomme jeden Tag ein bis zwei Heiratsanträge von Bekannten, die wissen, dass ich den deutschen Pass habe.
Esmahan Aykol - Die Schriftstellerin lebt in Istanbul. Zuletzt veröffentlichte sie: “Istanbul Tango” (Diogenes). Zuletzt von ihr auf www.emma.de: Türkinnen fliehen ins Exil