Kopftuch - nicht vor dem 14. Jahr!

Lale Akgün
Artikel teilen

Könnte man dieses vermaledeite Kopftuch doch ein wenig lüften! Und in die Gedanken der Mädchen und Frauen hineinschauen, die ihre Haare darunter verhüllen! Was wäre das für ein Erkenntnisgewinn! Leider geht das nicht, und so wird auch in Zukunft die Debatte von jenen bestimmt werden, die wahlweise das Kopftuch entweder für ein Symbol der Frauenunterdrückung oder für Ausdruck religiöser Überzeugung halten. Dabei sind diese beiden Meinungen nur zwei Seiten eines Kopftuches: Man kann es drehen und wenden, wie man will, das Kopftuch zeigt immer wieder eine neue Seite und neue Motive, warum Frauen ihr schönes Haar nun unbedingt meinen verstecken zu müssen.

Anzeige

Sollen wir Schülerinnen an öffentlichen Schulen verbieten, das Kopftuch zu tragen? Auch wer darauf eine Antwort haben möchte, kommt nicht umhin, die ganze Bandbreite weiblicher Motive des Kopftuchtragens zu erkunden. Ja sicher, es ist nur ein Tuch, aber eines, das es in sich hat.

Vor meiner Zeit als Politikerin habe ich als Therapeutin intensiv mit Migrantinnen gearbeitet. Die größte Gruppe darunter waren Türkinnen, da von rund 3,3 Millionen Muslimen in Deutschland zirka 2,5 Millionen türkischstämmig sind. Dennoch zeigen sich die Migrantinnen und Migranten hierzulande immer vielfältiger, denn mittlerweile leben hier sehr viele Menschen aus Bosnien, dem Iran, Irak, Syrien und Russland. Oft war ich früher in meiner therapeutischen Tätigkeit für die Stadt Köln in den so genannten "Brennpunkten" unterwegs, unter anderem an dem regional sehr bekannten "Kölnberg", einer Hochhaussiedlung, wo heute noch über 4.000 Menschen aus rund 60 Nationen leben.

Dabei habe ich gelernt, dass unter dem vermeintlich verbindenden Kopftuch sehr viele verschiedene Lebensgeschichten stecken, die nicht viel miteinander gemein haben. Die so puritanisch daherkommenden Kopftuchfrauen sind dabei nicht "frommer" als andere: Ich habe in private und familiäre Abgründe schauen können, die mir ein Single-Großstadtpublikum in "hippen" Stadtteilen nicht verruchter hätte bieten können.

In erinnere mich beispielsweise lebhaft an eine gläubige Frau mit Kopftuch, die ihre Religiosität zu der Zeit, als sie und ihr Mann zu mir zur Beratung kamen, demonstrativ vor sich her trug. Mehrmals hatte sie ihren Mann betrogen, der sie zu allem Unglück dann auch noch in flagranti erwischt hatte. Der Ehemann erzählte mir, wie er den halbnackten Nebenbuhler aus der Wohnung geworfen hatte, derweil sich seine Frau der rituellen Waschung nach dem Geschlechtsverkehr, genannt "gusül abdesi", unterzogen und den Gebetsteppich ausgerollt hatte. Der Ehemann hatte seine Frau verständlicherweise zur Rede stellen wollen, sie aber hatte nur gebetet und nicht auf ihn reagiert.

Meine Aufgabe als Therapeutin war es, die beiden wieder zueinander zu bringen, was nicht recht gelingen wollte. Die Frau arbeitete nach der Scheidung weiter als Koranlehrerin und predigte ein moralisches Leben – als wäre nichts geschehen.

So manchen praktizierenden Katholiken und Protestanten ist diese Art fortgeschrittener Bigotterie wahrscheinlich gar nicht so fremd – Wein trinken und Wasser predigen. Natürlich steckt auch unterm Kopftuch ein gehöriges Maß Bigotterie. Ich erinnere mich gut an die jungen Frauen, die noch zuhause lebten und das Kopftuch anzogen, um sich ein wenig Freiheit von den Eltern zu verschaffen. Mit Kopftuch durften sie nämlich das Haus verlassen ... Es war den Eltern eine Art Gewährleistung, dass sich die Tochter moralisch verhält und auch die jungen Männer wissen, wo Schluss ist.

In solchen Familien ist das Kopftuchtragen kein politisches oder religiöses Kampfmittel. Sie mögen das Tragen des Kopftuches als religiöse Notwendigkeit bezeichnen, im Kern aber ist es überliefertes Verhalten, dass "man eben so tut, weil es schon immer so war". Selten wird hinterfragt, ob das Kopftuchtragen wirklich eine Tradition hat oder sich erst in der zweiten Zuwanderergeneration entwickelt hat: als vermeintliches Schutzschild gegen die Freizügigkeiten unserer Gesellschaft.

Auch bei anderen, liebgewonnenen Klischees darf man nach dem Wahrheitsgehalt fragen, wie uns eine qualitative Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2006 aufzeigt: Der Druck, ein Kopftuch zu tragen, käme demnach gar nicht primär von den Vätern und Brüdern, wie man gemeinhin vermuten würde, sondern von den Müttern: Drei Viertel der Befragten gaben an, ihr Vater habe bei der Entscheidung für das Kopftuch keine Rolle gespielt, und die Brüder und Onkel seien noch unwichtiger gewesen. Immerhin 40 Prozent sagten, die Mutter habe eine mittlere bis große Rolle gespielt. Natürlich sind solche Aussagen mit Vorsicht zu genießen, sie decken sich aber in diesem Fall durchaus mit meinen Erfahrungen von Müttern, die ihren Töchtern keine größeren Freiheiten geben wollten, als sie selbst in diesem Alter genossen hatten.

Neuere Untersuchungen zeigen, dass sich ein großer Teil der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland immer noch nicht heimisch fühlt. Obwohl die überwiegende Mehrheit hier geboren wurde oder seit langem hier lebt, ist ihnen Deutschland fremd geblieben. Die Bande in die Türkei sind niemals abgerissen, was im Übrigen normal und nicht beklagenswert ist. Aber diese Bande erweist sich in vielen Fällen als Fesseln. In der Adenauer-Studie gaben 80 Prozent der Kopftuchträgerinnen an, sich hierzulande als Bürgerinnen zweiter Klasse zu fühlen. Mitnichten ist damit bewiesen, dass es sich dabei um eine reale Benachteiligung handelt. Aber das subjektive Empfinden, kein Teil der Gesellschaft zu sein, genügt schon.

In den bald sieben Jahren, seit ich als Politikerin im Deutschen Bundestag arbeite, haben mich immer wieder Klagen von Türkischstämmigen, Männern und Frauen, wegen Diskriminierung erreicht. Spätestens seit den Anschlägen des 11. Septembers und des allgegenwärtigen Themas rund um Islam und Menschenrechte, Terror und "Kampf der Kulturen", hat sich das Anti-Islam-Klima pauschal verdüstert. Für die Mehrheit der hier friedlich lebenden Muslime tut sich damit ein Riesenproblem auf, denn im Alltag bekommen sie Gegenwind aus der Gesellschaft zu spüren. Gerade unter den intellektuelleren muslimischen Frauen führt dies offensichtlich zu einer trotzigen Reaktion des "Jetzt erst recht!". Ich sehe das nicht nur am Kopftuch, sondern an vielen Baustellen des öffentlichen Diskurses: Bei den Moscheedebatten solidarisieren sich selbst völlig säkulare Muslime mit den Bauherren und -damen, obwohl sie noch nie nur einen Fuß in eine Moschee gesetzt haben und ansonsten diesen religiösen Vereinen eher skeptisch gegenüber stehen.

Das ist eine unheilvolle und spalterische Entwicklung: Ähnliche Solidarisierungseffekte ohne Not sehe ich beim Thema Zweisprachigkeit, das durch den CDU-Vorschlag, Deutsch als Sprache der Deutschen ins Grundgesetz zu schreiben, wieder einmal neue Nahrung bekommen hat. Wenn eine Schule einen bilingualen Zweig Deutsch/ Französisch oder Deutsch/Spanisch einrichtet, gibt es Lob von allen Seiten für den Charme dieser Weltsprachen. Wehe aber, ein deutsch-türkischer Bilingualzweig soll entstehen, dann bricht in Teilen der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung los. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, wenn sich gerade junge Migrantinnen und Migranten von solchen Abwehrreflexen gegen ihre Heimatsprache auf den Schlips oder den Saum getreten fühlen.

Abgrenzung und Gruppenbildung ist vielfach die Folge. Da eignet sich das Kopftuch als identitätsstiftende Uniform. Doch seine Trägerinnen muss man unterscheiden von jenen, die das Kopftuch als politisches Symbol missbrauchen. Als zum Beispiel die deutsch-afghanische Lehrerin Fereshta Ludin acht Jahre lang vor Gericht kämpfte, um das Kopftuch auch im Schuldienst tragen zu dürfen, ging es ihr weder um ihre Identität noch um Religion. Nicht ihre individuelle Glaubensüberzeugung hatte sie im Sinn, sondern ein Stück Macht und Deutungshoheit im öffentlichen Raum, der Schule. Hinter ihr hatten sich zudem einige konservative bis orthodox-islamische Akteure gesammelt, die die Gunst der Stunde gekommen sahen, ihre Anschauung und Weltbilder in die Öffentlichkeit zu tragen: darunter auch so mancher muslimischer Verband, vor dem sich emanzipierte Frauen ohnehin besser hüten sollten. Das Kopftuch ist in solchen Fällen ein Menetekel für einen politischen Islam, der nicht in den Moscheen bleiben will, sondern einen Platz im staatlichen öffentlichen Raum beansprucht. Spätestens hier prallen der säkulare Staat und der Gottesstaat aufeinander.

Mit dem politischen Islam, der ein Gewächs der letzten drei Jahrzehnte ist, hat sich das ehemals bäuerliche Kopftuch zu einer verschärften Nonnentracht entwickelt. Dabei ist seinen Trägerinnen meist nicht klar, dass das Kopftuch sie zu etwas degradiert, was es eigentlich zu verhindern vorgibt: zu einem Sexualobjekt. Denn die Vorstellung, eine Frau reize durch ihre bloße Anwesenheit schon die Libido der Männer aufs Äußerste, entstammt einer patriarchalen Denkschmiede, die durch jahrelange Geschlechtertrennung pervertiert ist. Mit dem gleichen Argument könnte man Männern Scheuklappen verordnen – aber darauf ist noch keiner gekommen.

Bei Kindern nun sieht das nochmal anders aus. Sie grenzen sich nicht ab, sie tragen das Kopftuch nicht als identitätsstiftendes Kleidungsstück, sie wollen kein politisches Zeichen setzen, sie haben keine dezidierten religiösen Überzeugungen. Kinder wollen sich auch nicht in Grüppchen sammeln, und "Objekt" sexueller Begierde sollten sie schon gar nicht sein! Es gibt keinen Grund, dass Eltern ihre Mädchen zum Tragen des Kopftuches nötigen. All die Gründe, die erwachsene Frauen zum Kopftuchtragen animieren könnten, können frühestens in der Pubertät eine Rolle spielen: etwa die Frage nach der Identität, der Suche nach der Herkunft, Abgrenzung oder Trotz im Falle von gefühlter oder realer Ablehnung.

Deshalb plädiere ich dafür, die Grenze der Religionsmündigkeit im Alter von 14 Jahren auch als Grenze für das Tragen eines Kopftuches in der Schule festzusetzen. Wer das 14. Lebensjahr vollendet hat, darf über den Religionsunterricht entscheiden. Ab dann soll den Jugendlichen durchaus auch zugestanden werden, in die Debatte um das Kopftuch einzusteigen.

Natürlich ist diese Regelung unvollkommen, und ich höre schon die Fragen: Was ist mit den Vierzehnjährigen, die eben nicht frei entscheiden können? Was ist mit den Fünfzehnjährigen, die von zuhause Druck bekommen? Ja, da ist was dran. Mir ist klar, dass die Regelung der Religionsmündigkeit mit 14 nicht optimal ist, aber sie ist ja auch nicht zwingend das letzte Wort.

Artikel teilen
 
Zur Startseite