Lale Akgün über Erdogan

SPD-Politikerin Lale Akgün bei der Demo gegen Erdogan in Köln.
Artikel teilen

Recep Tayyip Erdogan, der türkische Ministerpräsident, war in Köln und hat eine Rede gehalten. Unter normalen Umständen wäre dies vielleicht eine Randnotiz in den Tageszeitungen am Montag gewesen. So ist es aber nicht. Und weil es nicht so ist, schlug der angekündigte Besuch Erdogans hohe Wellen.

Anzeige

Seine Gegner und Gegnerinnen wollten ihn nicht hier haben. Zu denen zähle ich auch. Der Grund ist einfach: Am 10. August 2014 wird in der Türkei der nächste Staatspräsident gewählt, zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei direkt vom Volk. Auch wenn er sich noch ein wenig ziert, gibt es sichere Indizien dafür, dass Recep Tayyip Erdogan der Präsidentschaftskandidat der AKP in der Türkei werden wird.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei dürfen auch türkische Staatsbürger im Ausland mitwählen. Und um diese Stimmen zu bekommen, will Erdogan eine Großoffensive starten, die in Köln ihren Anfang nimmt. Hier hat seine Lobby, die UETD, Union der europäischen Türken in Deutschland, ihr europäisches Zentrum, hier sitzen die Institutionen, die ihn ideell und logistisch unterstützen.

Heute ist die Türkei undemokratischer denn je. Erdogan hat sich mit seinem Verhalten, zusammen mit seiner Familie und seinen engsten Vertrauten, verheerende Blößen gegeben. Jeden Tag kommen neue Vorwürfe: Korruption, Eingriffe in die Rechtsprechung und in die Rechtssetzung, Kontrolle der Exekutive. Die für jede Demokratie unabdingbare Gewaltenteilung gibt es nicht mehr in der Türkei.

Der Politikwissenschaftler Ümit Özdag sagt, „dass es in der Türkei keinen Rechtsstaat mehr gibt und der Geist eines Überwachungsstaates entstanden ist“. Nach Feststellung der NGO „Freedom“ steht die Türkei in Fragen der Pressefreiheit auf Platz 134 der Weltrangliste, und das Weltwirtschaftsforum sieht die Türkei in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz auf Platz 85.

Deswegen war die Frage, die nicht nur mich beschäftigt hat: Warum gibt Deutschland einem türkischen Politiker, der für derart unverantwortliches politisches Handeln steht, die Möglichkeit, in unserem Land für seine Politik Wahlkampf zu machen? 

Sicher – es war klar, dass Deutschland Erdogan nicht an der Einreise hätte hindern können, ohne die diplomatischen Beziehungen zu gefährden. Und ebenso war klar, dass Erdogan es sich nicht nehmen lassen würde, nach Deutschland zu kommen, obwohl mehr oder weniger alle sich gegen seinen Besuch ausgesprochen hatten.

Mehr Liberalität für die türkische Gesellschaft!

Erdogan wollte die große Inszenierung. Er wollte, dass ganz Europa mitbekommt, wie die Massen hinter ihm stehen. In der rechtsrheinischen Lanxess Arena in Köln waren dann 18.000 Besucher, organisiert von der UETD. Wir GegnerInnen waren im linksrheinischen Teil Kölns, wir starteten unsere Demonstration vom Ebertplatz aus.

Die beiden gegnerischen Gruppen waren nicht nur durch den Rhein getrennt; es trennten sie Welten. Schon äußerlich.

Bei den Anhängern Erdogans herrscht ein einheitliches Bild: überwiegend Männer, alle gleich gekleidet im dunklen Anzug. Die Frauen, bis auf wenige Ausnahmen, mit Kopftuch und langen Mänteln. Bei den Gegendemonstranten ein kunterbuntes Bild: Frauen und Männer zu gleichen Anteilen, alevitische Vereine, sozialistische und kurdische Gruppierungen, GewerkschafterInnen, KemalistInnen, AnhängerInnen des Fußballfanclubs Besiktas, Carsi-Einzelgruppen und Individuen, doch alle mit einem gemeinsamen Nenner: Demokratie. Sie sind wütend über das, was in der Türkei passiert! Sie wollen Gesicht zeigen gegen Diskriminierung und für Demokratie und Rechtstaatlichkeit! Sie wollen mehr Liberalität für die türkische Gesellschaft!

Diese Menschen sind dankbar, das wir in Köln gegen Erdogan demonstrieren können, ohne Wasserwerfern und Tränengas ausgesetzt zu sein. Und trotz des Bergwerkunglücks in der Westtürkei ist die Hoffnung zu spüren, dass wir der Ohnmacht der Demokraten in der Türkei hier in Deutschland einen Kontrapunkt setzen können.

Am Sonntagmorgen höre ich mir die Rede Erdogans im Original an. Die UETD hat die Veranstaltung bereits auf YouTube hochgeladen. Es ist schon denkwürdig: In der Türkei wettert Erdogan gegen YouTube und setzt Sanktionen dagegen durch, aber wenn es dazu genutzt wird, den großen Usta, sprich: Meister, bzw. den großen Leader, sprich: Führer, ins rechte Bild zu setzen, ist YouTube willkommen.

Erdogans Rede in Köln ist nach bewährtem Prinzip aufgebaut: Seine Anhänger sind Opfer, die klaglos alles erlitten und erduldet haben. Dann haben sie sich erhoben und ihn gewählt, und er hat sie gerettet. Sie sind das Volk, die 77 Millionen, die ihn lieben. Dieses Volk, zu dem nach Erdogans Vorstellungen auch die Türken in Deutschland zählen, hat eine Religion, eine Sprache, eine Kultur. Dazu gehört unabdingbar das Kopftuch und deren Rettung durch Erdogan.

Die anderen sind "Monumente der Arroganz"

Der Rest der Welt ist ausgeschlossen. Die anderen, das sind die „Monumente der Arroganz“. Übrigens meint er damit nicht nur die Türken, sondern er redet auch von den „Monumenten der Arroganz“ im Ausland. Die schauen auf das Volk herab, sie wollen nur ihren Vorteil und sie wollen den Fortschritt der Türkei stoppen durch Lügen, Verleumdungen und Intrigen.

Es folgt die Drohung: Sie alle werden dafür bezahlen, am Tag der großen Abrechnung.

Wenn Erdogan am 10. August zum türkischen Staatspräsidenten gewählt wird, zum exekutiven mit weiterreichenden Kompetenzen – dann Gnade den GegnerInnen Erdogans, aber vor allem Gnade der Türkei.

Artikel teilen

Die Parteien müssten sich trauen!

Necla Kelek, Zana Ramadani und Lale Akgün debattieren. - Foto: Bettina Flitner
Artikel teilen

Ist die Integration gescheitert?
Necla Kelek Ja und Nein. Deutschland hat einerseits ganz große Erfolge zu verzeichnen: Wir haben fast 16 Millionen Migranten in Deutschland und die Mehrheit von denen gehen hier ihren Weg. Aber es gibt eben auch eine Gruppe, die mit den Werten der Freiheit nicht klarkommt und versucht, ihre traditionellen Vorstellungen in einer abgeschotteten Gesellschaft zu leben. Und das ist nur bei Muslimen der Fall. Bei den Spaniern, Portugiesen oder Griechen, die ja in der gleichen Zeit und aus den gleichen Gründen nach Deutschland gekommen sind, ist keine Parallelwelt entstanden.

Anzeige

Wie hoch schätzt du den Anteil dieser Integrationsunwilligen?
Kelek Ich würde sagen: die Hälfte. Das ist in Deutschland genauso wie in den muslimischen Ländern: Die Muslime sind in zwei große Gruppen geteilt. Die eine Hälfte hat sich schon immer europäisch und säkular gesehen. Und die andere Hälfte will hier auf dem Ticket der Religionsfreiheit ihre Traditionen leben.

Lale, du hast in einem früheren Gespräch darauf hingewiesen, dass es diese Probleme in den 60er Jahren so gar nicht gab.
Lale Akgün Das Problem ist nicht die Religionsfreiheit. Das Problem ist der politische Islam, der sich Anfang der 1980er- Jahre etabliert hat. Die Etappen sind bekannt: Die Machtergreifung von Khomeini, der Militärputsch in der Türkei, der Einmarsch der Russen in Afghanistan. Und daraufhin die Unterstützung der Islamisten durch die USA, die den so genannten „Grünen Gürtel“ um die kommunistischen Länder gelegt haben. Das heißt, sie haben die Islamisten unterstützt, damit die wiederum die Sowjetunion unter Druck setzen. So ist es dann ja auch passiert. Dieser politische Islam hat sich mit der Gründung der aus der Türkei und den arabischen Ländern gelenkten Islamverbände auch in Deutschland niedergeschlagen und Fuß gefasst. In den 60er und 70er- Jahren war die Haltung der Leute noch eine ganz andere. Da haben höchstens mal die anatolischen Bäuerinnen ihr traditionelles Kopftuch getragen. Mitte der 80er kam ich dann in Köln zum ersten Mal an einer Demo vorbei, wo Frauen ein Schild hochhielten: „Mein Kopftuch ist meine Ehre!“ Wenn bestimmte Gruppen sich heute nicht auf unsere Gesellschaft einlassen, dann muss man ganz klar sagen: Das ist von bestimmten Kreisen, nämlich dem politischen Islam, genauso gewollt! Die wollen in den westlichen europäischen Ländern ein „Bollwerk“ errichten – und sie wollen das Kopftuch als Zeichen ihrer Macht und ihres Einflusses.

Zana, du bist die Tochter muslimischer Eltern aus Mazedonien und bei den Femen aktiv. Einer der drei großen Fights, die die Femen ausfechten, ist der gegen den religiösen ­Fundamentalismus.
Zana Ramadani Ich habe selber unter den „Werten“, die der Islamismus vermittelt, ­gelitten – und leide immer noch darunter. Seit einigen Tagen habe ich mal wieder gar keinen Kontakt zu meinen Eltern, weil ich mich als „schlechte Tochter“ erwiesen habe. Zuerst habe ich einen Deutschen geheiratet – und jetzt lasse ich mich auch noch wieder von ihm scheiden. Diese Haltung ist einfach drin: Dass wir Frauen weniger wert sind, dass wir kuschen müssen, dass wir uns „weiblich“ benehmen müssen, dass wir keine Sexualität haben dürfen. Das konnte ich schon als Kind nicht akzeptieren. Doch es wird leider auch in meinem Herkunftsland schlimmer: Dadurch, dass der Islamismus in Mazedonien immer aggressiver wird, geht die Entwicklung zurück. Wenn ich vor zehn Jahren bei meiner Familie zu Besuch war, habe ich keine Frau mit Ganzkörperverschleierung gesehen. Jetzt laufen da unheimlich viele Frauen komplett verschleiert rum. Die Männer werden zum Teil von den Moscheen dafür bezahlt, wenn ihre Frauen voll verschleiert rumlaufen.

Wenn man diese Verhältnisse kritisiert, so wie ihr das tut, handelt man sich sehr schnell den Vorwurf ein, man sei rassistisch oder islamophob.
Akgün Dieser Vorwurf läuft bei mir ins Leere. Wir – also mein Mann, der Religionslehrer ist, und ich – sind überzeugte Muslime und dazu aktiv in der muslimischen Gemeinde Rheinland. Wir sind eine völlig unabhängige Gemeinde mit überwiegend jungen Mitgliedern, die einen liberalen Islam leben. Aber ab und zu kommt der Vorwurf, ich sei eine Nestbeschmutzerin.

Und wie gehst du damit um?
Akgün Darüber kann ich nur lachen. Was ist das für ein Verständnis von Loyalität, wenn man das, was man für richtig hält, nicht aussprechen darf?

Kelek Der Vorwurf, ich würde in Deutschland eine Islamophobie schüren, kommt daher, dass ich den Islam an sich kritisiere. Und damit haben sehr viele, auch liberale Muslime, große Probleme. Sie sagen, die Integrationsprobleme lägen an der ökonomischen Situation oder an der Bildungsferne der Menschen. Ich aber glaube, das hat mit den konservativen Strukturen des Islam zu tun. Denn der offizielle Islam erlaubt keine Zweifel, keine Fragen, keine Wissenschaftlichkeit. Mir wird immer gesagt: „Lassen Sie die Religion in Ruhe! Wenn Sie das nicht tun, kriegen Sie Ärger!“ Das kann bis zur Fatwa gehen.

Wie es gerade dem deutsch-ägyptischen Autor Hamed Abdel-Samad passiert ist.
Kelek Zu mir hat ein Milli-Görüs-Sprecher gesagt: „Wenn Sie nicht mehr an den Islam glauben, dann tun Sie das. Aber reden Sie nicht darüber!“ Und er gab mir zu verstehen, wenn ich nicht aufhöre, dass andernfalls auch gegen mich eine Fatwa ausgesprochen werden müsste.

Akgün Hat er das wirklich gesagt?

Kelek Wortwörtlich. Auf der Islam-Konferenz.

Ramadani Aus meinem Kulturkreis kommen halt Beschimpfungen wie Schlampe, Hure und so weiter.

Akgün und Kelek Das Übliche …

Ramadani Aber dank meiner Herkunft kann ich in Deutschland islamkritisch sein, ohne dass gleich die Nazikeule kommt – sei es von linken Gruppierungen oder Muslimen. Und weil ich diese Möglichkeit habe, sehe ich mich in der Pflicht, diese Kritik zu äußern.

Lale, was sagst du denn zu der Hoffnung deines Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, dass es bald eine Tagesschausprecherin mit Kopftuch gibt?
Akgün Ich hoffe, dass es stimmt, was er nachträglich dazu gesagt hat: Das sei nur ein Scherz gewesen. Wenn eine Frau privat meint, sie müsste das Kopftuch tragen, dann ist das ihre Entscheidung. Aber eine Tagesschausprecherin hat eine ganz andere Symbolkraft. Die Tagesschau muss neutral bleiben. Ganz wie die Schule.

Es wird ja immer gesagt, das Kopftuch sei ein religiöses Zeichen. Ist es nicht eher ein politisches Symbol?
Kelek Unbedingt! Weil die VerfechterInnen des Kopftuchs immer die Gesellschaft in Männer und Frauen teilen wollen. Sicher gibt es auch Frauen, die aus ganz persön­lichen Gründen das Kopftuch tragen wollen. Aber wir können das ja in Ägypten oder ­Tunesien beobachten: Die Frau signalisiert mit dem Kopftuch, dass sie nicht Teil der Öffentlichkeit ist. Sie ist jetzt solange da, um ihrer Religion an die Macht zu verhelfen. Sie hat nicht das Recht, die öffentlichen Parks und Plätze für sich zu nutzen. Der Mann beherrscht die Öffentlichkeit, er ist die Öffentlichkeit, die Frau ist seine Privatheit. Das war übrigens ein großes Verdienst von Atatürk: Dass er Plätze wie den Taksim-Platz zu Bürger-Plätzen gemacht hat, wo die Familien – also auch Frauen ohne Kopftuch und Kinder – auch abends spazieren gehen konnten. Das war vorher nicht üblich. Ich habe als Kind in Istanbul von dieser Öffnung sehr profitiert. Wir gingen nach dem Abendessen immer am Bosporus spazieren und einen Tee trinken. Damals hat außer älteren Damen niemand ein Kopftuch getragen.

Ramadani Ich kann das Kopftuch so lange nicht akzeptieren, wie Millionen Frauen auf der Welt unter der Verschleierung leiden. Sollte es diesen brutalen Kopftuchzwang eines Tages nicht mehr geben, bin ich auch bereit, eine Lehrerin mit Kopftuch zu akzeptieren. Aber davon sind wir doch Jahrhunderte entfernt! Im Übrigen leiden ja nicht nur Frauen unter dem Kopftuch, sondern auch Männer, die gar nicht wollen, dass sich ihre Frau verschleiert, die aber unter dem enormen Druck nicht wagen, dem etwas entgegenzusetzen.

Akgün Es gibt viele Gründe, ein Kopftuch zu tragen: Tradition, Geschichte und so weiter. Aber der Balkan ist ein sehr gutes Beispiel. Dass auch dort jetzt Burkas und Niqabs auftauchen, die es da vorher nicht gab, das zeigt doch, dass es da um eine ­politische Entwicklung geht.

Gibt es Parteien, die eine konstruktive Integrationspolitik haben?
Ramadani Ich habe das Gefühl, dass ich in unserem CDU-Kreisverband die Quoten-Migrantin bin. Aber jetzt werde ich denen zu unbequem, denn ich benenne ja die Probleme, die wir mit dem Islamismus haben. Das hatten sie sich so nicht vorgestellt. Einige der Herren hätten gern, dass ich die CDU wieder verlasse. Aber ich bin gemein und bleibe.

Kelek Ich beobachte, dass quasi alle Parteien einen Konsens haben, dass man nicht zu kritisch mit dieser Gruppe konservativer Muslime umgehen darf. Da gibt es ein regelrechtes Redeverbot. Die Grünen sprechen ja gar nicht von Integration, sondern von „Multikulturalität“. Das finde ich fatal, weil die hier lebenden Migranten die Integration aus eigener Kraft gar nicht schaffen. Mit dieser Haltung macht man sich zum Werkzeug des ­politischen Islam. Das gilt auch für die FDP mit ihrem Es-kann-jeder-machen-was-er-will-Liberalismus. Die SPD sehe ich auch sehr kritisch. Die spricht von „Partizipation“. Aber die Voraussetzungen für eine echte Teilhabe sind doch bei vielen noch gar nicht vorhanden. Die CDU spricht zwar von Integration, ist aber sehr zurückhaltend. Sie hat offenbar große Angst vor dem Vorwurf des Rassismus und lässt sich da von den anderen Parteien einschüchtern. Und die angeworbene Braut/Bräutigam muss bereits im Heimatland einen Deutschkurs besuchen und mindestens 300 Worte Deutsch beherrschen.

Akgün Was ich bei allen Parteien problematisch finde, ist, dass sie die Diskussion um die Integrationspolitik viel zu stark über die Differenz führen. Da geht es immer wieder vor allem um ethnische Unterschiede und unterschiedliche Religionen. Ich habe immer ­gesagt: Wir brauchen keine Islamkonferenz! Islam und Integration sind zwei Paar Schuhe. Wir müssen überlegen, wie wir Chancengleichheit schaffen können, und wie wir Rassismus und Diskriminierung abschaffen können. Es wird ja immer gefragt: Warum hat sich die zweite oder dritte Generation Migranten so viel schlechter integriert als die erste? Dabei stimmt das überhaupt nicht. Was ich erlebe, ist nicht der fehlende ­Integrationswille, sondern ein Gefühl des ­Zurückgewiesenwerdens. Phänomene wie Kanak Sprak, die massenhafte Auswanderung von jungen Türken und Aussiedlern in die Länder ihrer Eltern oder das neue Wort „colored“. Von Solingen und den NSU-Morden wollen wir erst gar nicht anfangen.

Kelek Mir scheint, dass die CDU am ehesten eine Art konstruktive Integration setzt, während die anderen Parteien sagen: Was ist denn schon deutsch? Was ist denn schon europäisch? Ich aber habe eine Vorstellung davon, was ein Europäer ist. Und ich erwarte von den Parteien, dass sie ihr Land und europäische Werte auch vertreten. Das müssen wir Bürgerinnen und Bürger von ihnen einfordern!

Akgün Die Parteien müssen alle aus der Defensive rauskommen!

Was sagst du denn dazu, Lale, dass Kanzlerkandidat Steinbrück Yasemin Karakaşoğlu in sein Kompetenzteam geholt hat – eine offensive Vertreterin des Kopftuchs und muslimischer Parallelwelten?
Akgün Kein Kommentar.

Hast du in Sachen Integrationspolitik eigentlich Verbündete in deiner Partei, Lale?
Akgün Natürlich gibt es in meiner Partei Menschen wie mich, die meinen, dass wir es langsam mal wagen sollten, kritische Worte gegen den politischen Islam und bestimmte Islam-Verbände zu sagen. Aber es gibt auch in der SPD, so wie auch in allen anderen Parteien, die Angst, als ausländerfeindlich oder islamophob dazustehen. Ich finde: Wenn man eine Partei ist, muss man auch Partei ergreifen. Die anderen, die Islamisten, zögern nicht. Die wissen genau, was sie wollen, und die marschieren schnurstracks auf ihr Ziel zu. Und gerade diese unentschlossene Haltung der Parteien hat in der Bevölkerung eine totale Unzufriedenheit mit der Integrationspolitik hervorgerufen. Zum Beispiel hätte das rassistische Buch von Sarrazin niemals so viel Zuspruch bekommen, wenn es nicht völlig übereifrig von vielen Politikern abgelehnt worden wäre. Man hätte über das Buch diskutieren müssen.

Das beobachten wir ja auch in anderen Ländern: Der Grund für den Zulauf vieler Menschen zu populistischen Rechten ist, dass ihr berechtigtes Unbehagen mit dem poli­tischen Islam und dessen Folgen von der ­Politik nicht ernst genommen wird.
Kelek Die SPD ist in dieser Sache total gespalten. Sarrazin kommt ja aus der SPD. Und Heinz Buschkowsky, der auch sehr kritisch ist, kommt auch aus der SPD. Es gibt schon eine Menge Einzelpersonen, die eine Veränderung wollen. Aber die Mehrheit – und auch die Mehrheit der türkischen Migranten in der SPD verhindern eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam.

Akgün Buschkowsky hat aus der Perspektive des Bürgermeisters eines Problembezirks wie Neukölln vieles richtig beschrieben. Und er setzt auf Bildung. Das finde ich gut. Aber seine Sicht ist manchmal zu sehr auf Neukölln verengt. Er sieht immer nur die Probleme und nicht, dass 20 Kilometer weiter völlig arrivierte Migranten leben.

Ramadani Wir haben in der CDU auch eine Menge Speichellecker, die die Probleme in der Integrationspolitik genau sehen, sich aber nicht trauen, das auszusprechen.

Kelek Ich finde, dass in den Parteien heute sehr viel über das Thema Islamismus und Integrationspolitik diskutiert wird. Es gibt doch keinen Tag, in dem in der Zeitung nicht was über Integrationspolitik steht. Da ist Deutschland viel weiter als zum Beispiel England oder Frankreich.

Wenn die Politik so gar nichts tut, um dem politischen Islam und seiner Agitation etwas entgegenzusetzen, lässt sie dann nicht auch die Mehrheit der hier lebenden Musliminnen und Muslime im Stich?
Kelek Genau so ist es! Ich fühle mich als ­liberale Muslimin im Stich gelassen.

Akgün Da gibt es einen Wahrnehmungsfehler. Man denkt, jeder Muslim müsste ein streng gläubiger Mensch aus dem ­Moscheeverein sein. Jemand hat mir mal gesagt: „Wenn ich Migranten begegnen will, muss ich doch in den Moscheeverein gehen. Woanders treffe ich die doch nicht!“ Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.

Einerseits wird also in den Parteien mehr über das Problem geredet. Andererseits ist der organisierte politische Islam weiterhin auf dem Vormarsch. Obwohl man ja im Ausland sieht, wohin das führt.
Akgün Das Problem ist: Die deutsche Geschichte hängt wie ein Damoklesschwert über der Politik. Es wagt ja kein Politiker zu sagen: „Leute, es wäre toll, wenn ihr euch alle als Deutsche fühlen würdet!“

Ist die deutsche Fremdenliebe nicht eine Spielart des Rassismus, also nur die andere Seite der Medaille Fremdenhass? Die anderen in ihrer Herkunft einschließen, so dass sie nie dazugehören, sondern immer „die Anderen“ bleiben?
Akgün Genau, das ist Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen. Wenn die Medien über Musliminnen berichten, haben die immer ein Kopftuch auf.

Dabei konnten wir der großen Studie des Innenministeriums entnehmen, dass 80 Prozent der hier lebenden Musliminnen noch nie ein Kopftuch getragen haben und selbst die Hälfte derer, die sich als „streng gläubig“ bezeichnen, ebenfalls nicht.
Kelek Eben. Das ist eine Minderheit! Aber über deren Rechte wird gesprochen: Warum darf die arme Frau nicht Lehrerin werden? Dass es eine Mehrheit der Muslime gibt, die das Kopftuch auch ablehnen, weil es ein bestimmtes Gesellschafts- und Geschlechterbild symbolisiert, davon ist nie die Rede. Hinzu kommt, dass es keine Selbstkritik bei den Muslimen gibt. Wer ausschert, wird nicht öffentlich gestützt. Da halten auch die Liberalen, die eigentlich gegen das Kopftuch sind, mit den Islamverbänden zusammen. Denen ist die gemeinsame Front gegen die Deutschen wichtiger als die Kritik in den ­eigenen Reihen.

Ramadani Das ist furchtbar. Deshalb höre ich auch nicht auf, den Islamismus laut und öffentlich zu kritisieren.

Akgün Die Politiker haben Angst, dass sie sich gegen die Mehrheit der Muslime stellen, wenn sie zum Beispiel das Kopftuch kritisieren. Diese Ängste muss man ernstnehmen. Deshalb muss man immer wieder aufklären und allen klarmachen, dass der politische Islam nicht die Mehrheit der Muslime in Deutschland repräsentiert. In Wahrheit sind es nur 10 bis 15 Prozent.

Necla, du versuchst, den liberalen Muslimen, die ja bis dato nicht organisiert sind, eine Stimme zu geben. Im Mai dieses Jahres habt ihr die „Kritische Islamkonferenz“ veranstaltet. Werdet ihr gehört?
Kelek Es war kein Zufall, dass diese Konferenz genau jetzt stattgefunden hat. Innerhalb der liberalen Türkischstämmigen rumort es schon lange. Zeitgleich gibt es in der Türkei diese Protest-Bewegung. Den Leuten reicht es einfach! Ich sehe das an meiner eigenen Familie. Als ich mit meinem Bruder und meiner Schwägerin im Urlaub war, haben sie mitten im Ramadan tagsüber am Strand gegessen und Alkohol getrunken. Da habe sogar ich gesagt: „Muss das denn sein?“ Und meine Schwägerin hat gelacht und geantwortet: „Leb du deinen Islam in Deutschland. Wir wollen hier endlich tun und lassen, was wir wollen. Wir wollen uns von der AKP unser Leben nicht mehr kaputtmachen lassen. Wir haben die Schnauze voll!“

Das Gespräch führten Alice Schwarzer und Chantal Louis

Weiterlesen
 
Zur Startseite