Was es heißt, Frau in Israel zu sein

CSD-Partymeile in Tel Aviv. Foto: UPI Photo/imago
Artikel teilen

Der Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv ist vielleicht der einzige Ort, an dem sich Israels so unterschiedliche Frauen auf engstem Raum versammeln: Hier stehen Musliminnen mit Kopftuch in einer Schlange mit Tel Aviverinnen in Hotpants, hier ziehen fromme Jüdinnen in langen Kleidern ihre Koffer vorbei an jungen arabischen Frauen im Minirock. Sie kommen aus arabischen Dörfern in Galiläa, aus der Partymetropole Tel Aviv, aus der umkämpften Heiligen Stadt Jerusalem, aus einem Beduinendorf in der Negevwüste oder einem Kibbutz im grünen Norden des Landes. Sie alle leben auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie Hessen, und kommen doch aus verschiedenen Welten. Manche von ihnen sprechen sogar verschiedene Sprachen: Die Musliminnen plaudern auf Arabisch, die Tel Aviverinnen unterhalten sich auf Hebräisch, und die besonders Strengen unter den Ultraorthodoxen sprechen in leisem Jiddisch auf ihre Kinder ein.

All das ist Israel. Das Land, an dem sich an vielen Orten der Welt die Geister scheiden, ist auch im Inneren gespalten. Wie es den Frauen geht, wie ihr Alltag aussieht, welche Kämpfe sie führen, welche Träume sie haben und wie leicht sie sie erfüllen können, hängt wesentlich davon ab, wo sie leben.

ERSTE STATION: TEL AVIV
Nimmt man vom Flughafen aus den Zug, erreicht man in einer Viertelstunde Tel Aviv. Die Küstenstadt trägt ihren Ruf als Partymetropole zu Recht und mit Stolz: Abend für Abend füllen
sich die Bars mit jungen, gut aussehenden Menschen, selbst wochentags bilden sich Schlangen auf den Bürgersteigen. Es lässt sich gut leben in Tel Aviv, dem Herzen der Start-up-Nation, für Frauen ebenso wie Männer; das ist der Eindruck, der sich aufdrängt bei einem Rundgang durch die Stadt.

Doch die Frauen und Männer der säkularen oberen Mittelschicht, die in Tel Aviv zu Hause ist, leben nicht zwangsläufig gleich gut. Zwar sind drei von vier israelischen Frauen berufstätig, mehr als in den meisten anderen OECD-Ländern; unter nicht-orthodoxen jüdischen Frauen, zu denen die meisten Tel Aviverinnen zählen, sind es sogar 84 Prozent. Doch Israels Pay-Gap liegt mit 27,5 Prozent höher als in den meisten anderen wohlhabenden Ländern, sogar höher als in Deutschland (18 Prozent). Das liegt auch daran, dass Frauen ausgerechnet im boomenden High-Tech-Sektor, der die besten Gehälter zahlt, stark unterrepräsentiert sind. Und Berufseinsteigerinnen müssen sich gegenüber den bereits dank Armee bestehenden Männernetzwerken behaupten. Denn obwohl auch Frauen in Israel dienstverpflichtet sind, ist die Armee ein Männerbund geblieben.

Und dann ist da die Religion. Das für Frauen so zentrale geltende Familienrecht wird von den religiösen Autoritäten bestimmt. So kennt Israel beispielsweise keine zivilen Eheschließungen. Für jüdische Paare ist das Oberrabbinat zuständig, für Christen die Kirche, für MuslimInnen die Scharia-Gerichte. Für jüdische Frauen bedeutet das beispielsweise: Gewährt der Ehemann ihr keinen Scheidebrief, ein sogenanntes Get, kann sie sich nicht scheiden lassen.

Naomi Chazan ist eine der bekanntesten feministischen Aktivistinnen des Landes. Sie saß einige Jahre für die linksliberale Meretz-Partei im israelischen Parlament, heute forscht sie am Van Leer Institute, einem Think Tank in Jerusalem. Trotz der Hindernisse habe sich die ökonomische, gesellschaftliche und politische Lage israelischer Frauen in den letzten Jahrzehnten stetig verbessert, sagt die 74-Jährige. Doch die Machtpositionen im Land – ob in Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder Wissenschaft – sind bis heute vorwiegend von Männern besetzt.

ZWEITE STATION: JERUSALEM
Eine knappe Stunde braucht der Zug von Tel Aviv in die Heilige Stadt. „Nimm deinen Pass mit auf die Reise“, sagen manche Israelis im Scherz. Jerusalem ist ein anderes Land, meinen sie damit. Die Atmosphäre in der geteilten Stadt ist schwerer, angespannter, religiöser.

Viele der Frauen, die sich hier in der chronisch überfüllten Straßenbahn oder den engen Gassen des Marktes drängen, tragen lange Röcke, hochgeschlossene Blusen und verstecken ihr Haar unter bunten Tüchern. Sie gehören zur sehr präsenten orthodoxen Minderheit des Landes. Die teilt sich in zwei Strömungen auf: Die sogenannten „Nationalreligiösen“ bekennen sich zum israelischen Staat, ihre Männer dienen in der Armee, ihre Frauen leisten oft eine Art Sozialdienst ab.

Die Ultraorthodoxen dagegen, die zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen, haben ein ambivalentes Verhältnis zum Staat und schotten sich von der Mehrheitsgesellschaft ab. Viele ultraorthodoxe Männer widmen ihr ganzes Leben dem Religionsstudium, ihre Frauen sind für Broterwerb, Haushalt und Kinder zuständig – und die sind oft zahlreich: Sieben Kinder bringt eine ultraorthodoxe Israelin im Schnitt zur Welt. Die Orthodoxen praktizieren strenge Geschlechtertrennung. Besonders radikale Gruppierungen halten sogar die Abbildungen von Frauen für unzüchtig und reißen Werbeplakate von den Wänden, die Frauen zeigen. Die beiden ultraorthodoxen Parteien im israelischen Parlament lassen keine weiblichen Abgeordneten in ihren Reihen zu.

Unter der frommen Oberfläche jedoch regt sich Widerstand gegen die strengen Normen. „Man kann die Ultraorthodoxen nicht als einen einzigen Block beschreiben“, sagt der Soziologe Gilad Malach vom Israel Democracy Institute. „In den letzten 15 Jahren hat es einige Veränderungen gegeben.“ So strebten immer mehr ultraorthodoxe Mädchen und Frauen nach einer säkularen Bildung und einer Karriere. In den letzten Jahren ist die Beschäftigungsrate ultraorthodoxer Frauen steil angestiegen und liegt heute fast auf dem Niveau nichtorthodoxer Jüdinnen.

DRITTE STATION: RAMLE
Eine Gruppe von Frauen sticht aus der Statistik heraus: die arabischen Bürgerinnen bzw. die „Palästinenserinnen mit israelischer Staatsbürgerschaft“, wie manche von ihnen sich nennen. Nur 40 Prozent von ihnen sind berufstätig, die patriarchalen Traditionen machen es den Palästinenserinnen schwer.

Vivian Rabiah, 54, beschreibt sich selbst als Palästinenserin, Atheistin und Feministin. Sie klagt sowohl den israelischen Staat an, den sie für „rassistisch“ hält, als auch ihre eigene Gemeinschaft. Sie selbst engagierte sich viele Jahre in der kommunistisch-arabischen Chadash-Partei, die heute im Verbund mit zwei weiteren arabischen Parteien im israelischen Parlament vertreten ist. „In der Partei gab es immer viel Gerede über den Status der Frau“, erzählt sie, „aber das waren bloß Parolen“.

Vivian Rabiah lebt in Ramle, einer arabisch-jüdischen Kleinstadt im Zentrum des Landes, zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Im Open House, einer Begegnungsstätte für Juden und Araber, leitet sie einen Gesprächskreis für jüdische und arabische Frauen sowie ein kulturelles Projekt: Dessen Mitglieder interviewen ältere jüdische wie arabische Frauen und dokumentieren ihre Erinnerungen an die Zeit der israelischen Staatsgründung 1948 und die Nakba, die „Katastrophe“: die Flucht und Vertreibung hunderttausender Palästinenser während des israelischen Unabhängigkeitskrieges. „Sonst wird Geschichte immer von Männern erzählt“, sagt Rabiah. „Wir wollen Frauen sprechen lassen.“

Das Open House, in dem vor Israels Staatsgründung eine arabische Familie lebte, ein sandfarbenes Gebäude mit hohen Decken und schwarzrot bestickten Sitzpolstern auf dem Boden, die Rabiah bei einem palästinensischen Hersteller bestellt hat, ist einer jener Räume, in denen sich sehr unterschiedliche Frauen treffen: jüdische, christliche und muslimische Frauen, Atheistinnen und Religiöse. Die Kleinstadt Ramle wiederum, die dörflich wirkt mit ihren engen, staubigen Gassen und auch ein wenig vernachlässigt, liegt nur 15 Kilometer vom internationalen Ben-Gurion-Flughafen entfernt, Israels Tor zu Welt.

Vielleicht ist es das, was das Land und seine Frauen mehr auszeichnet als alles andere: Die schärfsten Gegensätze liegen oft ganz nah beieinander.

MAREIKE ENGHUSEN

Ausgabe bestellen
Anzeige
'

Anzeige

 
Zur Startseite