Lasst die Mädchen nicht im Stich!
Im Sommer war zu lesen, Familienministerin Giffey könne sich „notfalls Schülerinnen in Burkinis vorstellen“. Wichtig sei hier „der Bildungsauftrag“. Wo ist hier also ein Notfall?! Müssen die Schülerinnen durch tiefe Gewässer zur Schule schwimmen? Drohen sie in den Pfützen der Großstädte zu ertrinken? Nein, es geht darum, dass „möglichst viele Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen“.
Nein, Frau Ministerin, so läuft es falsch! So werden die kleinen und großen Mädchen im Stich gelassen. Denn: Wer, wenn nicht wir, soll denn für ihre kleinen Freiheiten kämpfen? Sie selber dürfen doch nicht den Mund aufmachen. Oder glauben Sie etwa wirklich, dass Emine, Fatma, Ayshe mit ihren vier Jahren aus „freiem Willen“ das Kopftuch tragen?
In meinem türkischen Elternhaus drohte mir nicht der Burkini, aber das strikte Verbot, an gemeinsamen Ausflügen unserer Klasse mit Übernachtung teilzunehmen. Dieses Schicksal haben übrigens auch die „Burkini-Mädchen“. Wir debattieren hier nicht „nur“ über ein Kleidungsstück, mit dem es eine „pragmatische“ Lösung gäbe. Ich bin sicher, dass diese Mädchen auch von gemeinsamen Erlebnissen aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen werden. Nicht von den deutschen Mitbürgern – wie gerne von den islamischen Verbänden unterstellt wird – nein, es sind die eigenen türkischen und arabischen Familien, die ihre Töchter ausgrenzen!
Nie werde ich vergessen, wie tief die Scham in mir saß, wenn es wie jedes Jahr auf die Fahrt ins Landschulheim zuging. Beim ersten Mal war es ein Schock für mich, unverständlich, warum ich als einziges Kind in meinem 5. Schuljahr nicht mitfahren durfte. Es gab in meiner Familie keine Diskussion darüber. Ich wurde beauftragt, dem Klassenlehrer zu übermitteln, dass mein Vater „strikt dagegen“ sei.
Mein Klassenlehrer, ein sehr netter, offener Alt-68er, nahm den Kampf um meine Teilnahme auf sich. Mehrfach sprach er mit meinen Eltern – wobei meine Mutter auf seiner Seite stand. Doch gegen meinen Vater hatten beide einen schweren Stand. In der Schule wussten alle bescheid. Plötzlich fühlte ich mich fremd. Ich war die Außenseiterin. Nach intensiven Verhandlungen ließ sich mein Vater zähneknirschend überreden, überzeugt war er jedoch nicht. Zu Hause ließ er mich seine Wut spüren. Die Wut darüber, dass ich ihn in diese Situation gebracht hatte.
Zwei Jahre später wechselte ich, umzugsbedingt, auf eine neue Schule in Leverkusen. Dort waren meine Schwester und ich die einzigen türkischen Kinder. Natürlich stand jetzt wieder die Landschulheimfahrt an. Natürlich verweigerte mein Vater seine Erlaubnis zur Teilnahme. Meine Klassenlehrerin, eine wunderbar einfühlsame Frau, besuchte meine Eltern mehrfach. Doch diesmal blieb mein Vater stur. Jeden Morgen wurde ich von meinen Mitschülerinnen gefragt, ob ich denn nun mitkäme. Ich wurde schweigsam und verwundbar.
Zu Hause durfte ich das Thema nicht mehr ansprechen. Ich weinte mich abends in den Schlaf, sehnte mich so sehr nach Normalität, danach, teilhaben zu dürfen an den schönen, lustigen Dingen, die meine Mitschüler miteinander erlebten und von denen sie wochenlang erzählten.
Am Tag der Abfahrt meiner Klasse sollte ich in die Parallelklasse zum Unterricht gehen. Plötzlich, früh am Morgen, weckte meine Mutter mich hektisch. Sie war völlig aufgelöst und hatte einen entschlossenen Gesichtsausdruck. „Pack deinen Koffer, ich fahre dich zur Schule“, sagte sie ohne weitere Erklärungen. Mein Vater war schon außer Haus. In Windeseile half sie mir, die richtigen Sachen einzupacken.
Als wir an der Schule ankamen, saßen meine Mitschüler schon in dem Bus, der abfahrbereit war. Alle, wirklich alle Kinder sahen mich aus den Busfenstern ungläubig mit riesigen Augen an, dann breitete sich ein Strahlen auf ihren Gesichtern aus. Meine Klassenlehrerin stieg aus, bedankte sich bei meiner Mutter. Meine Mutter umarmte mich kurz und schob mich zum Bus. Aus dem Fenster sah ich sie dort stehen, ich sah, dass sie weinte. Auch als 14-Jährige konnte ich spüren, was es sie gekostet haben musste, sich gegen den Willen meines Vaters zu erheben.
Diese Schamgefühle, anders zu sein, keine Erklärungen liefern zu können, wenn mich meine Freunde nach dem „Warum“ fragten, immer eine „Extrabehandlung“ zu bekommen, hat mich bis zum Schulende begleitet. Eine ständige Angst hat mich und meine Schwester verfolgt. Daneben die große Sehnsucht, einfach nur normal wie die anderen Kinder und Jugendlichen zu sein.
Ich bin meinen LehrerInnen unendlich dankbar, dass sie um uns gekämpft und sich nicht den Argumenten meines Vaters gebeugt haben. Nur dank ihrer konsequenten Haltung und Verteidigung ihrer westlichen Werte konnten sie auch meinen archaisch denkenden Vater letztendlich überzeugen. Dank dieser Unterstützung konnte ich mich zu dem Menschen entwickeln, der ich heute bin.
Darum muss in so einem Fall der Staat eingreifen, wenn Kinder aus der Unterdrückungsspirale ihrer Kultur alleine nicht herauskommen. Zudem sind sie umzingelt von selbsternannten Wächtern der islamischen Gesellschaft. Wie Aiman Mazyek, Vorsitzender des „Zentralrats der Muslime in Deutschland“, der bekannteste Wächter. Prompt war er auch zur Stelle, um Ministerin Giffey lautstark zu verteidigen.
Die Akzeptanz des Burkinis aus Ministerinnenmund ist ein unerwartetes Geschenk für einen, dessen Glauben auf der Scharia basiert. Jegliche Kritik an den Verhüllungs-Propagandisten weist der Deutsch-Syrer Mazyek zurück: „Mit solchen Pseudodebatten lenkt man nur ab von den wirklich wichtigen Problemen“, erklärte er neulich der Neuen Osnabrücker Zeitung. Für ihn, der die Scharia für vereinbar hält mit der Demokratie, ist die Burkini-Akzeptanz an einer nordrhein-westfälischen Schule ein „vernünftiger“ Kompromiss, „religiöse Gebote und Schulpflicht miteinander zu vereinbaren“.
Einem rückschrittlichen Muslim wie Mazyek kommen diese Kleidervorschriften gelegen. Erfüllen sie doch ihren Zweck: Frauen Scham zu implizieren und sie mit solchen absurden Geboten unter Kontrolle zu halten.
Und Sie, Frau Ministerin, unterstützen mit Ihrer pragmatischen Akzeptanz des Burkinis ebenso die Unterdrückung von Frauen, schlimmer noch – Sie lassen sie schon als kleine Mädchen im Stich. Dabei könnten Sie ihnen helfen, sich zu befreien. Sie könnten ihnen helfen, sich zu selbstbewussten Menschen zu entwickeln und damit verhindern, dass sie unter einer lebenslangen Last von Komplexen und Scham erdrückt werden, nur weil sie Frauen sind.
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