Leben in zwei Welten.
Ellen Presser, Kind Überlebender, lernte, sich zu integrieren – doch gehörte nie wirklich dazu.
Sind Sie jüdischer Herkunft?“ (Nein, ich bin Jüdin.) – „Kann man als Jüdin in Deutschland leben?“ (Siehste doch.) – „Schon mal mit Antisemitismus konfrontiert worden?“ (Blöde Frage.) – „Lebt Ihre Familie in Israel?“ (Die meiner Mutter.) – „Woher können Sie so gut Deutsch?“ (Bin doch hier geboren.) Wenn’s dann noch heißt: „Wie halten Sie es hier aus?“, bleibt als Replik nur: „Wie halten Sie es denn aus?“
Die Frage, wer ich bin und woher ich komme, kreist nicht wie ein Sputnik unentwegt in meinem Kopf. Sehr früh kapierte ich aber, daß es ein bitteres Überleben vor meinem eigenen kleinen Leben gab. Geboren mitten hinein in das sich wirtschaftswunderlich gebärdende Deutschland gehöre ich zur sogenannten zweiten Generation, wie man die Kinder von Juden, die die Schoah überstanden haben, nennt. Das Überleben der Eltern bildet häufig den Ausgangspunkt für die Beschreibung des eigenen Werdegangs. Gängige Frage unter uns: „Und wie haben Deine Eltern überlebt?“
Meine Eltern, polnische Juden, waren sich 1946 in einem Lager für Displaced Persons (DPs) im nordhessischen Eschwege begegnet. Meiner Mutter – aus einer Großfamilie mit 118 Angehörigen – waren nur die beiden jüngsten Brüder geblieben, mein Vater hatte überhaupt keine Verwandten wiedergefunden. Die beiden waren wild entschlossen, Deutschland so schnell als möglich zu verlassen. Doch wie bei so vielen auswanderungswilligen DPs scheiterte die Ausreise an den strengen Einwanderungsbestimmungen, die mein Vater nicht mehr erfüllte. Wo konnte man schon einen polnisch-jüdischen Juristen mit Lungenschaden brauchen?
Das Leben meiner Eltern in Deutschland spielte sich in zwei deutlich von-einander abgegrenzten Sphären ab. Draußen pflegten sie höflich-distanzierten Umgang mit der nichtjüdischen Umwelt. Zuhause sprachen sie Jiddisch und immer, wenn es um Dinge ging, vor denen sie meinten, meinen Bruder und mich verschonen zu müssen, Polnisch. Trotzdem dachten sie nicht daran, auch nur einen Fuß wieder in jenes Land zu setzen, in dem sie alles verloren hatten, was ihnen lieb gewesen war. Von den Polen fühlten sie sich grausam verraten, die Deutschen fürchteten sie. Uniformierten und anderen Autoritäten aller Art, ob Pförtner, Politiker oder Pädagogen, mißtrauten sie. Ihre Freunde waren fast ausschließlich polnische Juden, Ersatz der verlorenen Familie. Oft feierte man den Schabbat-Beginn freitags abends und jüdische Feste in größerer Runde.
In den Erzählungen, die ich da mitbekam, war von anderen Helden die Rede als vom Dornröschen und gestiefelten Kater. Da war Mischa, der beim russischen Militär überlebt hatte, und Vater erzählte von seinem Schulfreund Emek, der wie Hans-im-Glück nach und nach alles verlor und ausgerechnet im KZ Plaszow (ein Ort, der seit „Schindlers Liste“ bestens bekannt ist) die Frau fürs Leben fand.
Ein Teller dampfend heißer Nudelsuppe, auch bekannt als „jüdisches Penicillin“, konnte meine Mutter im Bruchteil einer Sekunde zurückbeamen in eine Nacht, in der ihre Mutter für den versteckten Mann und die ihr noch verbliebenen Kinder Nahrungsmittel und warme Kleidung zu organisieren versuchte. Mein Vorname leitet sich von eben dieser Großmutter Helena ab, die im Frühjahr 1943 erschossen wurde. Faszinierend und gruselig fand ich diese Geschichten.
Debatten über Anerkennungsverfahren, Entschädigungen und Renten dagegen fand ich überflüssig, ganz wie mein Vater. Er wollte nichts davon wissen, weil für ihn nichts wiedergutgemacht werden konnte. Hitzige politische Debatten standen an der Tagesordnung. Rund um die Uhr dudelte bei uns das Radio. Wir Kinder durften zuhause so ziemlich alles. Aber zur vollen Stunde während der Nachrichten mußte Ruhe herrschen. Man wollte immer auf dem laufenden bleiben, um den Moment des Aufbruchs nicht noch einmal zu verpassen.
Immer gerne wird die Metapher von den „gepackten Koffern“ bemüht. Bei uns zuhause waren es sogar zwei Riesenüberseekoffer, die professionelle Träger kaum hätten heben können. Bis obenhin vollgepackt mit einer für eine Flucht so nützlichen Grundausstattung wie der Tischwäsche für Pessach, batteriebetriebenem Kofferradio mit Weltempfänger, Fotoalben, einem Paar nagelneuer Schuhe für jedes Familienmitglied, einigen Klassikern der polnischen Literatur und ausgewählten Ausgaben des „Spiegel“.
Aus heutiger Sicht mag das alles komisch anmuten, doch mir war dieser permanente innere Ausnahmezustand ganz geläufig. Mit einem Gefühl, das großes Unbehagen weit übertrifft, denke ich an die Zeitwende 1959/1960. Erst viel später reimte ich mir zusammen, daß systematische Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland bei meinen Eltern blankes Entsetzen ausgelöst hatten. Doch auch ohne daß ich es als Kind hätte einordnen können, war mir klar, daß das Ende des Dritten Reiches nicht das Ende der Unsicherheit bedeutete. Was auch immer in den 60er und 70er Jahren passierte, sei es die Ermordung John F. Kennedys, die erste Mondlandung, der Abschluß der Ost-Verträge, ich sah alles durch die Brille meines Vaters: Was ist gut für die Menschheit, was ist schlecht für die Juden?
Klar, daß die nichtjüdische Umwelt nur einen ganz einseitigen Anteil in diesem Weltbild hatte. Wie hätte ich auch dazugehören sollen? In der Volksschule gab es außer mir, der Jüdin, die das Morgengebet nicht mitsprach und während des Religionsunterrichts allein auf dem Schulhof herumstrich, nur noch zwei Einzelgängerinnen: ein dunkelhäutiges Mädchen (offensichtlich Kind eines US-Soldaten) und eine Behinderte. Wir hatten, obgleich alle drei Außenseiterinnen, nichts miteinander im Sinn.
Die beiden anderen hatten wenigstens Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Ich nicht einmal enge Freun-dinnen, weil nichtjüdische Mitschülerinnen und spätere Studienkolleginnen kaum nach Hause eingeladen wurden. Scheinbar unschuldige Fragen („Wie alt ist der Vater Deiner Freundin?“) verrieten ihre bange Erwartung, unvermittelt mit der Tochter eines Obersturmbannführers in Berührung zu kommen. Sorgfältig darauf bedacht, ihnen auch harmlosere Aufregungen zu ersparen, verzichtete ich auf Autofahrten per Anhalter, Skilaufen und Disco-Besuche. Hatten meine Eltern etwa dafür überlebt, daß ich mit einem aufgeschlagenen Knie oder einem aufgekratzten Knaben heimgekommen wäre?
Wie viele jüdische Mädchen damals in München kam ich später in eine Klosterschule, wo großer Wert gelegt wurde auf Religionsunterricht, also auch für die jüdische Konfession. Dort konnte ich endlich Freundschaftsringe tauschen. Allerdings fand ich eines Tages heraus, daß meine kreuzbrave katholische Freundin drauf hinarbeitete, das „Heidenkind zur wahren Religion“ zu bekehren...
Ich lernte langsam, mich zu integrieren, ohne wirklich zugehörig zu sein. Während des Biologie-Studiums und beim ersten Job spielte mein Glaube keine Rolle mehr. Er kam einfach nicht zur Sprache. Politische Diskussionen fanden Ende der 70er Jahre an der Münchner Uni – wenn überhaupt – bei den Geisteswissenschaftlern statt. Mein (zaghafter) Versuch, eine Diplomarbeit über Anthropologie in der NS-Zeit zu schreiben, wurde abgeblockt mit dem Hinweis, sie dürfe nicht „historisch-deskriptiv“, sondern müsse „experimentell“ sein. Niemand interessierte sich für unter dem Deckmantel der Wissenschaft an Menschen verbrochene Experimente. Die Ära der persönlichen Betroffenheit war noch nicht angebrochen.
Erst 1979 setzte die Ausstrahlung der amerikanischen Familiensaga „Holocaust“ neue Maßstäbe. In der Arbeit diskutierte man die Geschehnisse: die sogenannte Reichskristallnacht, Eutha-nasie und Judenverfolgung waren plötzlich in aller Munde. Einer Kollegin wurde das alles zuviel. Warum man so etwas im Fernsehen zeigen müsse. Sie würde einen Juden schon drei Kilometer gegen den Wind erkennen. Daß ich mir so
etwas anhören mußte, ist natürlich nicht ihr, sondern nur mir selbst anzulasten. Ich hatte mein Jüdischsein nie erwähnt... Die größte Strafe aber bestand in etwas anderem. Nämlich der enttäuschten Hoffnung, als nicht geoutete Jüdin die Ablehnung antisemitischer Haltungen zu erleben. Doch keine machte den Mund auf. Das hatte ich nun davon.
Vorurteile gibt es natürlich auch auf jüdischer Seite, nach dem Motto, die „Gojim“ verstehen uns sowieso nicht. Aber ich ringe – wie ich glaube – inzwischen erfolgreich darum, mich vor Pauschalurteilen zu hüten. Einige meiner besten Freunde sind „Gojim“, was nichts anderes bedeutet als „Fremde“.
Am Ende eines Tucholsky-Abends in einer Münchner Kleinkunstbühne erlebte ich diese Fremdheit schmerzlich. Der Theaterleiter bat das Publikum um Unterschriften gegen eine drohende Subventionssperre. Zur Vermeidung der Warteschlange wollte ich erst mal meinen Mantel holen. „Erst Unterschrift, dann Garderobe“, schnarrte der Direktor, und drohend: „Da gibt es welche, die sich drücken!“ Mit hochrotem Kopf auf mich zeigend, brüllte er: „Ja, Sie! Sie meine ich.“ Kein antifaschistisches Bekenntnis, kein über Wochen einstudiertes Tucholsky-Programm hatte seine Kasernenhof-Mentalität mildern können. Wo würde man denn hinkommen, wenn da eine(r) aus dem Tagesbefehl ausbräche. Auch hier machte niemand den Mund auf.
Von Tucholsky stammt der Satz: „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“
Mein Vater brachte mich auf diesen Autor und gab auch für jede andere Lektüre die Empfehlung, mehr – nämlich zwischen den Zeilen – zu lesen. Von der Mutter stammte die Maxime: Orientiere dich nie an dem, was einer sagt, sondern daran, was er tut. So wird man auf Hellhörigkeit trainiert, ohne eigenes Zutun. Ein anderes wichtiges Gebot war zu lernen. Schule und Berufsausbildung waren bei uns nie Privileg oder zu schade, an ein Mädchen verschwendet zu werden. Was du im Kopf hast, kann dir niemand nehmen, hieß es. Du kannst es überall mitnehmen. Diese „Ajzes“ (Ratschläge) sind für mich Gesetzestafeln geworden.
Die Zeiten, in denen ich über mein Jüdischsein bewußt schwieg, sind vorbei. Ich halte nicht mehr unter der Tarnkappe des Verschweigens Ausschau nach verkappten Antisemiten. Sie sind sowieso da, und niemand kann sie bekehren. Aber für die anderen, für die will ich erkennbar sein.
Ellen Presser