Mit Leidenschaft
Ich stehe mit der Nobelpreisträgerin in ihrem Labor. Es ist früher Abend. Um uns herum sind drei, vier junge Männer tief über ihre Mikroskope gebeugt. Kaum einer sieht hoch. Die Nobelpreisträgerin geht zu einem von ihnen und schaut ihm über die Schulter. Als wir den Raum verlassen, sagt sie: „Er ist Pole und hat hier in Tübingen ein Stipendium. Unter meinen aktuellen Stipendiaten ist er der beste. Er hat eine wahre Leidenschaft fürs Forschen.“
Der Forscherin geht es dabei nicht anders
als der Schau-
spielerin
Stunden später, bei ihr zuhause – wo sie exzellent für mich gekocht hat – sagt die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard nach dem dritten Glas Wein zu mir: „Weißt du, das Problem mit den Frauen ist: Sie entwickeln selten eine wahre Leidenschaft fürs Forschen. Selbst die Begabtesten – wenn sie verliebt sind, schauen sie nur, dass sie raus kommen aus dem Labor und hin zu ihrem Lover. Aber um wirklich etwas zu erreichen in der Forschung, musst du dafür brennen. Du musst die Uhrzeit vergessen und – wenn es gerade spannend wird – auch mal die Nacht durchmachen.“
Nüsslein-Volhard hat viele Nächte durchgemacht. Bis hin zum Nobelpreis. Und als sie jüngst von zwei Wissenschafts-Redakteurinnen vom Spiegel interviewt wurde, stellten die der Bewunderten die Frage: „Sind Vorbilder nicht wichtig? Speziell für Frauen?“, da antwortete die Nobelpreisträgerin: „Wer will schon so leben wie ich? Ich habe keine Kinder, keinen Ehemann. Warum sollte ich ein Vorbild sein?“ Das war ironisch gemeint (Sie ist vermutlich ermattet von den ewigen Fragen nach dem Verzicht auf Ehemann und Kinder). Doch die Journalistinnen erkannten die Ironie nicht und antworteten, gut gemeint: „Weil Sie eine der besten Wissenschaftlerinnen der Welt sind!“.
Es geht der 1942 geborenen Forscherin Nüsslein-Volhard jedoch nicht viel anders als zum Beispiel der 1938 geborenen Schauspielerin Romy Schneider. Obwohl doch beide, auf den ersten Blick, unterschiedlicher kaum sein könnten, werden beide, unabhängig von ihren beruflichen Leistungen, gemessen am Privaten.
Romy Schneider kippte lebens-
lang von einem Extrem ins andere.
Auch Romy habe ich gekannt und lange nach ihrem so frühen Tod eine Biografie über sie geschrieben. Dazu habe ich mich tief über ihr Leben gebeugt. Beim Schreiben war ich so gepackt davon, dass ich manchmal morgens schon um sechs Uhr aufstand und vor lauter Eifer, weiterzuschreiben, sogar vergaß, Kaffee zu trinken. Doch so manches Mal hätte ich sie schütteln mögen! Hätte gerne zu ihr gesagt: Romy, trau dich! Trau dir! Vertrau deiner ungewöhnlichen Begabung und großen Ausstrahlung. Entschuldige dich nicht immer im Privatleben für deine Karriere und deinen Ruhm – indem du dich zur kleinen Frau machst, die auch zu dem mittelmäßigsten Mann noch bewundernd hochschaut.
Romy ist mit 43 Jahren letztendlich an dieser Zerrissenheit gestorben: Sie hat ihre Leidenschaft für den Beruf und ihre Leidenschaft für die Liebe – genauer: für das Geliebtwerdenwollen – nicht zusammen bekommen. Sie ist lebenslang von einem Extrem in das andere gekippt: mal ganz Schauspielerin, mal ganz Geliebte – aber niemals beides zugleich.
Dieser Konflikt ist nicht angeboren, er ist gemacht. In unserer Kultur wird Frauen keine Leidenschaft für die Sache zugestanden, sondern ausschließlich eine Leidenschaft für die Liebe. In der Literatur und bei Psychoratgebern füllen Publikationen über die ach so weibliche Leidenschaft ganze Bücher wände – gefolgt von dem Desaster, wenn die Frau sich auch oder gar nur eine Leidenschaft für die Sache zugesteht.
Eine der wenigen Frauen, die es gewagt hat, beides nicht nur zu leben, sondern auch öffentlich zu fordern, war Simone de Beauvoir. Die Philosophin und Schriftstellerin hat ein gewaltiges Werk – und ein gewaltiges Liebesleben. In den Monaten, in denen sie ihr berühmtestes Werk, „Das andere Geschlecht“, schrieb, hatte sie gleichzeitig eine passionierte Love Affair mit Nelson Algren, neben ihrem durchaus ebenfalls fordernden Lebensgefährten Jean-Paul Sartre.
Simone de Beauvoir wollte beides: Verstand und Gefühl. Es gelang ihr.
Gegen Ende ihres Lebens sagte Beauvoir zu mir in einem Interview sehr bestimmt: „Mein Werk ist mein Leben!“ Sie wollte nie getrennt werden in Kopf und Körper. Sie wollte beides: Verstand und Gefühl! Und das ist ihr gelungen, wie kaum einer zweiten.
Was allerdings die posthume Rezeption zu leugnen versucht. Die Arme sei kinderlos gewesen und in der Liebe gescheitert, heißt es heutzutage gerne; sie sei Sartre hörig gewesen, aber der habe sie ja betrogen etc. etc. Und diese so falschen Töne kommen leider vorwiegend aus Frauenmund.
Ausgerechnet.
Warum? Warum reagieren auch und gerade Frauen auf andere Frauen so, die im Beruf und in der Liebe erfolgreich sind? Weil sie selber nicht beides geschafft haben? Weil darum nicht sein darf, was nicht sein kann? Und weil dann eben keine es schaffen darf!
1982, vor genau 33 Jahren, habe ich eine Textsammlung von mir herausgegeben. Mein Verleger, damals noch Ledig-Rowohlt, fragte mich, welchen Titel ich denn gerne hätte. Ich antwortete: Mit Leidenschaft.
Alice Schwarzer
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NDR: "Nachdenken über Leidenschaft"