Leiko Ikemura: Floating Spheres
Leiko Ikemura als „Zeichnerin“, „Malerin“ oder „Bildhauerin“ zu bezeichnen, kann niemals in Gänze dem Schaffen der japanischen Künstlerin in Deutschland gerecht werden. Ihre Arbeiten auf Papier, ihre Gemälde, Plastiken, Fotografien, Videos und nicht zuletzt ihre schriftlichen Äußerungen in Form von Gedichten und Haikus müssen gesamtheitlich – als Sinfonie – begriffen werden.
In ihre Bildwelten einzutauchen, kommt einem Traumwandel gleich. Hier begegnet man beseelten Gebirgen, Hybridwesen und immer wieder rätselhaften Mädchenfiguren – ein wiederkehrendes Bildrepertoire, das sich bereits früh entwickelt hat. Seitdem kommen diese Motive immer wieder modulartig vor, werden weitergeführt und variiert.
Seit den Achtzigerjahren hat Leiko Ikemura, geboren in Tsu, einer Stadt der Insel Mie in Japan, ein unverwechselbares Œuvre hervorgebracht. Sie studiert anfangs Literatur in Japan und Spanien. Von 1973 bis 1978 absolviert sie ein Kunststudium in Sevilla. Nach Abschluss des Studiums lebt sie zunächst in der Schweiz und zieht 1984 nach Deutschland, wo sie bis heute arbeitet.
Nach einer frühen Phase der radikalen Bildsprache, in der sie immer wieder in die Nähe der Neuen Wilden gerückt wurde, hat sich die Künstlerin sukzessive eines zarteren, poetischeren Ausdrucks genähert. In Ikemuras Werken verschmelzen die Traditionslinien asiatischer und europäischer Kunstgeschichte miteinander. Klassische europäische Sujets wie Landschaft und Porträt treffen auf japanische Bildtradition in Form von Andeutungen, Unvollständigkeit und Asymmetrie. Die vielen Hybridwesen und Kreatürliches verweisen auf die japanische Märchen- und Sagenwelt und lassen Unsichtbares sichtbar werden.
Die Ausstellung „Floating Spheres“, die „schwebenden Sphären“, stehen für vieles, was das Werk und die Biografie der Künstlerin berührt: Sie stehen für die Sphären Asien und Europa ebenso wie für die unterschiedlichen Medien, die sich in ihrem Schaffen gegenseitig befruchten. Floating Spheres, das sind auch die Motivkreise und künstlerischen Ideen, die sich über Jahrzehnte in Variationen immer wieder unbewusst an die Oberfläche drücken.
Seit Mitte der 1990er Jahre sind Mädchenfiguren in einer unerschöpflichen Variationsvielfalt stete Begleiterinnen der Künstlerin und manifestieren sich parallel als Plastik und als Malerei. Es sind komplexe, mehrdeutige Figuren, die sowohl die Zerbrechlichkeit als auch die Stärke des weiblichen Wesens verkörpern. Ikemuras Mädchen zeichnen sich durch ein feinsinniges Gleichgewicht von Schönheit und Traurigkeit aus.
„Ich bin immer noch nicht damit einverstanden, wie zum Beispiel das Christentum Sexualität tabuisiert und wie es Schuldgefühle einflößt“, sagt sie. „Das habe ich oft gedacht, besonders seit meinem Aufenthalt in Europa. Im Mono-theismus glauben die Menschen an einen alles beherrschenden, väterlichen Gott. Ich denke, dass dies bis heute die Grundlage für eine patriarchalische Gesellschaft ist. Demgegenüber ist die Welt der japanischen Götter pantheistisch (…) Im Shintoismus spielen Frauen eine bedeutende Rolle.“ Gerade die Mädchen stellen im Œuvre der Künstlerin oft ein „Dazwischen“ dar, zwischen Mädchen und Frau, zwischen Unschuld und sexualisierter Weiblichkeit, zwischen Diesseits und Jenseits.
LISA FELICITAS MATTHEIS
Die Ausstellung „Floating Spheres“ in der Kunsthalle Emden
bis zum 11. Mai. Der bilderreiche Katalog erscheint im Hirmer Verlag (39.90 €).
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