Lesben in der Kirche: Wir sind viele!
Herta Leistner traut ihren Ohren nicht. Ob sie „die Akademie etwa in einen Tempel lesbischer Liebe verwandeln“ wolle, fragt einer der Herren, die da vor ihr sitzen. Ein anderer will wissen, ob sie „diese Art Tagungen“ nur organisiere, „um Freundinnen für sich zu finden“. Mit „Freundinnen“ meint er Geliebte. Das Gremium, vor dem Leistner diese hochnotpeinlichen Fragen beantworten soll, ist das Kuratorium der renommierten Evangelischen Akademie Bad Boll. De facto hat es sich aber gerade in eine Art Inquisitions-Tribunal verwandelt – und die Hexenjagd auf die Studienleiterin eröffnet.
Wir schreiben das Jahr 1987. Vor einigen Wochen ist ein Buch erschienen, das in evangelischen Kirchenkreisen eingeschlagen ist wie eine Bombe. Es trägt den Titel: „Hättest du gedacht, dass wir so viele sind?“ Untertitel: „Lesbische Frauen in der Kirche“. Nicht nur den Mitgliedern pietistischer Gemeinden im Schwabenland treibt das die Schames- bzw. Zornesröte ins Gesicht.
Es ist eine Sensation – und eine Revolution: Zum ersten Mal brechen Frauen, die Frauen lieben, in der evangelischen Kirche ihr Schweigen. Pfarrerinnen, Diakoninnen, Theologinnen berichten anonym über ihr Schattendasein in einer Kirche, in der sie als „Sünderinnen“ gelten und die ihnen deshalb nicht nur mit dem Fegefeuer, sondern auch mit Entlassung droht. In der evangelischen Kirche galt bis vor gut drei Jahrzehnten noch, was in der katholischen heute immer noch Gesetz ist: Wer gleichgeschlechtlich liebt, möge „mit Rücksicht auf das biblische Gesamtzeugnis“ enthaltsam und allein leben.
„Wer diesen Verzicht nicht meint auf sich nehmen zu können, dem ist eine Tätigkeit im kirchlichen Dienst in der Regel zu versagen.“ Das hatte der „Sonderausschuss für Fragen der Lebensführung kirchlicher Mitarbeiter“ der Hannoverschen Landeskirche 1983 konstatiert – und einen offen homosexuellen Pfarrer tatsächlich aus dem Dienst entfernt.
Insofern war Herta Leistner, seit 1974 Studienleiterin an der Akademie Bad Boll und eine der drei Herausgeberinnen des Buches, nicht wirklich überrascht, als sie vor das Kuratorium zitiert wurde. „Uns war klar: Wenn das Buch rauskommt, weiß die ganze Kirche, was in Bad Boll passiert – und dann wird der Sturm losbrechen.“
In Bad Boll, der 1945 gegründeten evangelischen Akademie bei Göppingen, passierte dies: Herta Leistner, Tierarzt-Tochter aus dem Schwarzwald, die ihrer bibeltreuen Mutter an deren Grab geschworen hatte, Gemeindehelferin zu werden, hatte früh festgestellt, dass „was mit mir nicht stimmt“. Sehr verknappt erzählt, kam dann die Frauenbewegung. Und im Jahr 1978 ein Aufenthalt in Philadelphia, der für die Sozialpädagogin zu einer Art Crashkurs in feministischer Theologie wurde. In der „Werkstatt feministische Theologie“ und den anderen Frauenkursen, die sie jetzt an der Akademie anbietet, stellt Studienleiterin Leistner fest, dass das Thema schwelt, über das auch sie sich noch nicht zu sprechen traut. Aber sie spürt: Es ist an der Zeit.
Zusammen mit der Religionslehrerin Ute Wild und der Pädagogin Monika Barz, die in der kirchlichen Erwachsenenbildung arbeitet, schickt sie zunächst einen „Brief an Frauen, die wir persönlich kannten“. Dann, Schritt zwei, schaltet das Trio 1983 eine Anzeige in EMMA, Courage und Publik-Forum. „Gibt es denn überhaupt lesbische Frauen in der Kirche? Wenn ja, so meldet euch!“
Es gab sie, die lesbischen Frauen in der Kirche. Im April 1985 trafen sie sich zum ersten Mal. Die Tagung in Bad Boll, an der gut 60 Frauen teilnehmen, heißt „Lebensformen von Frauen“, im Programm fällt das böse Wort „lesbisch“ nicht ein einziges Mal. Noch läuft das Ganze unter dem Radar der Kirche. Dann erscheint 1987 das Buch. Ein Befreiungsschlag.
„‚Hättest du gedacht, dass wir so viele sind‘ hat eine regelrechte Lesben-Bewegung in der evangelischen Kirche ausgelöst“, berichtet EMMA im Juni 1987 und kündigt an: „Lesbische Frauen laufen zu Höchstform auf und inszenieren ihr Coming out auf dem Kirchentag.“ In der Tat: Die Seminare heißen „Kann denn Liebe Sünde sein – biblische Aussagen und lesbische Existenz“ oder „Schwestern be-geist-ern sich – Versuch einer lesbischen Theologie“.
„Als ich das erste Mal in Bad Boll war, war das eine Offenbarung“, erinnert sich Jessica Diedrich. „So viele Gleichgesinnte!“ Die Hamburger Webdesignerin ist Bundessprecherin des Netzwerks „Lesben und Kirche“, kurz: LuK. „Lesben und Kirche“ ist eins von gleich mehreren Netzwerken, die sich damals gründeten. In „Maria und Martha“ taten sich diejenigen zusammen, die in kirchlichen Einrichtungen arbeiteten, von der Pfarrerin bis zur Erzieherin. Labrystheia war das Netzwerk der Studentinnen, die sich mit feministischer Theologie befassen wollten. „Lesben und Kirche“ bildete Städtegruppen, die sich 1996 zur „BundesLuK“ zusammentaten. Ziel: „Öffentlichkeitsarbeit machen, um so unsere Forderungen an Kirche und Gesellschaft deutlich zu machen“.
Die zwei zentralen Forderungen lauteten: 1. Eine Pfarrerin sollte mit ihrer Lebensgefährtin im Pfarrhaus wohnen dürfen. 2. Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare.
Mit ihrer LuK-Gruppe besuchten sie in der Nordelbischen Landeskirche Frauenkreise und Konfirmandengruppen, sprachen auf Synoden und schrieben Stellungnahmen. „Es war ein drei, vier Jahre langer Prozess mit vielen Verletzungen“, erinnert sich Jessica. Doch am Ende stand 2001 der Beschluss der Landeskirche: Frauen- und Männerpaare dürfen in einem Gottesdienst gesegnet werden. „Allerdings durfte es noch nicht aussehen wie eine normale Trauung.“ Bis zur „Trauung für alle“ sollte es noch bis 2019 dauern.
2021 ist Jessica Diedrich mit einer Pfarrerin verheiratet und lebt mit ihr im Pfarrhaus der Gemeinde Hamburg-Dulsberg. Inzwischen machen 13 von 20 evangelischen Landeskirchen keinen Unterschied mehr zwischen Segnung und Trauung, zwischen Homo- und Heterohochzeiten.
Auch Pionierin Herta Leistner lebt heute mit ihrer Ehefrau Kathrin, einer Pfarrerin, zusammen. Nicht im Pfarrhaus, denn die Klinik-Seelsorgerin hat keins, sondern auf einem Bauernhof in Thüringen. Eine kirchliche Trauung aber lehnte Herta Leistner ab. „Meine Kirche hat mir so viele Verletzungen zugefügt“, sagt sie, „von der wollte ich keinen Segen“. Das Bundesverdienstkreuz am Bande hat sie allerdings mit Stolz angenommen. „Diese Ehrung“, sagt die Schwäbin, „war für alle Fraue, die mit auf’m Wäg waret.“
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