Liebe Genossinnen, Genossen.

Helke Sander am 13.9.1968 auf der Delegiertenkonferenz in Frankfurt.
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Liebe Genossinnen, Genossen.

Ich spreche für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen. Wir stellen fest, dass der SDS innerhalb seiner Organisation ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse ist. Nämlich dadurch, dass man einen bestimmten Bereich des Lebens vom gesellschaftlichen abtrennt, ihn tabuisiert, indem man ihm den Namen Privatleben gibt. Darin unterscheidet sich der SDS in nichts von den Gewerkschaften und den bestehenden Parteien.

Diese Tabuisierung hat zur Folge, dass das spezifische Ausbeutungsverhältnis, unter dem die Frauen stehen, verdrängt wird, wodurch gewährleistet wird, dass die Männer ihre alte, durch das Patriarchat gewonnene Identität noch nicht aufgeben müssen. Man gewährt zwar den Frauen Redefreiheit, untersucht aber nicht die Ursachen, warum sie sich so schlecht bewähren, warum sie passiv sind.

Die Trennung zwischen Privatleben und gesellschaftlichem Leben wirft die Frau immer zurück in den individuell auszutragenden Konflikt ihrer Isolation. Sie wird immer noch für das Privat­leben, für die Familie erzogen, die ihrerseits von Produktionsbedingungen abhängig ist, die wir bekämpfen.

Die Rollenerziehung, das anerzogene Minderwertigkeitsgefühl, der Widerspruch zwischen ihren eigenen Erwartungen und den Ansprüchen der Gesellschaft erzeugen das ständige schlechte Gewissen, den an sie gestellten Forderungen nicht gerecht zu werden, bzw. zwischen Alternativen wählen zu müssen, die in jedem Fall einen Verzicht auf vitale Bedürfnisse bedeuten. (…)

Die Hilflosigkeit und Arroganz, mit der wir hier auftreten müssen macht keinen besonderen Spaß. Hilflos sind wir deshalb, weil wir von progressiven Männern eigentlich erwarten, dass sie die Brisanz unseres Konfliktes einsehen. Die Arroganz kommt daher, dass wir sehen, welche Bretter ihr vor den Köpfen habt, weil ihr nicht seht, dass sich ohne euer dazutun plötzlich Leute organisieren, an die ihr überhaupt nie gedacht habt und zwar in einer Zahl, die ihr für den Anbruch der Morgenröte halten würdet, wenn es sich um Arbeiter handeln würde.

Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich. Ihr seid voll von Hemmungen, die ihr als Aggressionen gegen die Genossen auslassen müsst, die etwas Dummes sagen oder etwas, was ihr schon wisst.

Warum sagt ihr nicht endlich, dass ihr kaputt seid vom letzten Jahr, dass ihr nicht wisst, wie ihr den Stress länger ertragen könnt, euch in politischen Aktionen körperlich und geistig verausgaben, ohne damit einen Lustgewinn zu verbinden. Warum diskutiert ihr nicht, bevor ihr neue Kampagnen plant darüber, wie man sie überhaupt ausführen soll? Warum kauft ihr euch denn alle den Reich? Warum sprecht ihr denn hier vom Klassenkampf und zu Hause von Orgasmusschwierigkeiten? Ist das kein Thema für den SDS?

Diese Verdrängungen wollen wir nicht mehr mitmachen. Wir konzentrierten unsere Arbeit auf die Frauen mit Kindern, weil sie am schlechtesten dran sind. Frauen mit Kindern können über sich erst wieder nachdenken, wenn die Kinder sie nicht dauernd an die Versagungen der Gesellschaft erinnern. Die politischen Frauen haben ein Interesse daran, ihre Kinder eben nicht mehr nach dem Leistungsprinzip zu erziehen. (…)

Wir wollen versuchen, schon innerhalb der bestehenden Gesellschaft Modelle einer utopischen Gesellschaft zu entwickeln. In dieser Gegengesellschaft müssen aber unsere eigenen Bedürfnisse endlich einen Platz finden. Wir haben einen so ungeheuren Zustrom, dass wir ihn kaum organisatorisch verkraften können. Unser Ziel ist zunächst, die Frauen zu politisieren, die schon ein bestimmtes Problembewusstsein haben. Dies ist am Besten möglich innerhalb der Universitäten. (…)

Genossen, wenn ihr zu dieser Diskussion, die inhaltlich geführt werden muss, nicht bereit seid, dann müssen wir allerdings feststellen, dass der SDS nichts weiter ist als ein aufgeblasener konterrevolutionärer Hefeteig. Die Genossinnen werden dann die Konsequenzen zu ziehen wissen.
 

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