Alice Schwarzer schreibt

Der neue Mann an der Macht

Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte. Foto: AP
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Punkt 21 Uhr trat der frisch gewählte Präsident vor die Kameras: Emmanuel Macron, 39. Er ist der jüngste Präsident, den die Grande Nation je hatte und der erste Parteilose. Seine Rede war ungewöhnlich. Frei von jeglicher Phrasendrescherei, nachdenklich und differenziert. Er wirkte selbst ernsthaft erschüttert über seinen Sieg. 2 von 3 Franzosen haben für ihn gestimmt und in Paris sogar 9 von 10 - und gegen die Radikalen von Rechts. Allerdings: Jede und jeder Dritte hat nicht oder ungültig gewählt, nicht zuletzt dem Rat der radikalen Linken folgend ("ni l'un ni l'autre"  - Weder der eine, noch der andere).

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Die Macron-WählerInnen haben sich gegen den Hass entschieden und für einen Versuch der Versöhnung. Gegen die Hetze einer Marine Le Pen, die zuletzt auch völlig enthemmt auf Deutschenfeindlichkeit und Merkel-Hetze gesetzt hatte. Der Mehrheit fällt ein Stein vom Herzen. Macron ist jetzt ihre ganze Hoffnung. Das wird nicht einfach für ihn sein. Er wird die zerstrittene Linke und das zerfallene bürgerliche Lager so stark wie möglich in sein Kabinett einbinden müssen, um wirklich Front zu machen gegen den Front National. Und er wird handeln müssen. In Frankreich stehen unbeliebte Reformen an: darunter die Abschaffung der 35-Stunden-Woche und der Rente mit 60. Aber auch Filz, Korruption und Eliten-Arroganz wird der Parteiunabhängige bekämpfen müssen.  

Doch eines ist schon jetzt klar: die deutsch-französische Freundschaft hat der junge Nordfranzose gerettet.

Er hat Frankreich vor Marine Le Pen bewahrt und die EU gerettet. Dabei hat er erst ein halbes Jahr vor der Wahl seine Kandidatur erklärt. Und das Programm des Sozialliberalen ist noch recht vage, auch wenn er den „totalen Wandel“ verspricht. Er ist der erste parteilose Präsident Frankreichs, müsste also gegebenenfalls gegen eine Mehrheit im Parlament regieren. Doch eines, was eine Schwäche hätte sein können, gilt schon jetzt als seine Stärke: Brigitte, die Ehefrau des 39-jährigen Kandidaten, ist 24 Jahre älter als er. Das hat es in Frankreich noch nie gegeben.

Von den Jungen wird er auf Veranstaltungen bejubelt wie ein Popstar

Aber statt sich zu verstecken, ging das Paar Hand in Hand nach vorne. Seine Ehefrau sei „unverhandelbar“, erklärte Emmanuel Macron. Verständlich, schließlich hat er sich diese Frau hart genug erkämpft, gegen alle Widerstände.

Er war 16 und Schüler an der Jesuiten­schule von Amiens, einer Kleinstadt in Nordfrankreich, als er sich in Madame Auzière verliebte. Die Französisch- und Lateinlehrerin leitete die Theater-AG und Emmanuel spielte unter ihrer Regie eine Vogelscheuche, wie jetzt eine pünktlich zum 8. März erschienene Doppelbiografie verrät.

Die Gefühle des Jugendlichen für seine Lehrerin blieben nicht unerwidert. Doch die Hindernisse waren groß. Schließlich ist Brigitte eine Tochter aus gutem Hause, war verheiratet und Mutter dreier Kinder. Um einen Skandal zu vermeiden, ging Emmanuel nach Paris und machte dort das Abitur.

Als er 18 war, wurden die beiden offen ein Paar – und Brigittes Familie stand Kopf. „Man erklärte uns, dass wir gegen die guten Sitten und die herrschende Ordnung verstoßen“, erinnert sich Macron. „Wir sollten verzichten.“

Die beiden taten das Gegenteil. Brigitte ließ sich scheiden, doch erst vor zehn Jahren heiratete sie Emmanuel. Inzwischen sind ihre Kinder erwachsen, sie ist siebenfache Großmutter.

Doch bevor hier weiter von dem ungewöhnlichen Paar, das ganz Frankreich bewegt, die Rede sein soll, ein paar Informationen über den nächsten Präsidenten Frankreichs. Beide Eltern waren Mediziner, seine Großmutter, eine Lehrerin, hat ihn nach eigenen Aussagen stark geprägt. Der Junge aus der Provinz schaffte es auf die angesagte Pariser Elite-Hochschule ENA, aus der sich bis heute die überwältigende Mehrheit der Spitzenpolitiker und Wirtschaftsführer rekrutiert. Aber das ist auch genau das Milieu, von dem die Mehrheit der Franzosen die Nase voll hat und das Marine Le Pen als „elitär“ und „gestrig“ anprangert.

Emanuel Macron war Berater der 2007 gescheiterten sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal und danach zwei Jahre lang Investmentbanker bei Rothschild. Er folgte sodann dem Angebot von Präsident Hollande und wurde für zwei Jahre Wirtschaftsminister der Parti socialiste. Im  April 2016 stieg Macron aus der glücklosen und heillos zerstrittenen Hollande-Partei aus - vermutlich bereits mit Blick auf seine Präsidentschaftskandidatur.

Aber mit nichts in der Hand und keiner Partei im Rücken, nur „Bibi“, wie er Brigitte nennt. Dank seiner 1953 geborenen Lebensgefährtin dürfte der 39-Jährige sich die so euphorischen und politisierten Jahre des Aufbruchs von Frankreich, die späten 60er und die 70er Jahre, hautnah angeeignet haben. Der 39-Jährige verkörpert also eine Erfahrungsspanne, die breiter ist als sein Leben.

So mag sich auch das einzige Thema erklären, in dem Macron bisher herausgetreten ist aus dem Vagen und mutig Position bezogen hat. Bei einem Besuch in Algerien im März 2017 erklärte der Kandidat als erster französischer Spitzenpolitiker, die Kolonialisierung Algeriens durch Frankreich sei „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gewesen. Was die Algerier gefreut hat, die nach der Befreiung 1962 geflüchteten Algerier-Franzosen jedoch erbost. Sie protestierten und demonstrierten gegen den Verrat. Macron machte also einen halben Rückzieher. Er versuchte, seine Kritiker mit den Worten zu besänftigen: „Ich habe Sie verstanden“ (ein de-Gaulle-­Zitat) und fuhr fort: „Ich bedauere, Sie verletzt und Ihnen wehgetan zu haben.“

Seiner einzigen ernst zu nehmenden Gegnerin begegnet der Parteiunabhängige mit Schärfe: der weit über ihre Parteigrenzen hinaus populären und beliebten Marine Le Pen. Macron bezeichnete den Rechtspopulismus des Front National als „Lepra der Demokratie“ und wirft Le Pen einen „Verrat der Freiheit“ vor: „Sie behaupten, im Namen des Volkes zu sprechen, aber Sie sprechen nur für sich selbst.“ Le Pens zentrales Thema, die Kritik am Islamismus, hat er ­bisher gemieden.

Die Euphorie, die dem gut, wenn auch ein wenig zu glatt, aussehenden und für Politikerverhältnisse jungen Mann entgegenschlägt, ist durchaus mit der deutschen Schulz-Begeisterung zu vergleichen. Als Person wäre er eher dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau ähnlich.

Bei Macrons Veranstaltungen sind die Säle überfüllt, und er wird bejubelt wie ein Popstar. Vor allem junge Leute schwärmen für ihn. Und viele Frauen, egal welcher Generation, finden es sympathisch, dass für ihn der Altersunterschied zu seiner Frau nicht nur keine Rolle spielt, sondern dass er so stolz ist auf „Bibi“. Die hat in der Wahlkampagne zwar keine offizielle Funktion, weicht jedoch nicht von seiner Seite und gilt als graue Eminenz.

Umgekehrt wäre der Altersunterschied kein Thema (Melania Trump zum Beispiel ist ebenfalls 24 Jahre jünger als ihr Mann). So herum allerdings hat es das nicht nur auf dem roten Teppich des Elysée noch nie gegeben. Relativ neu ist für Frankreich auch, dass eine First Lady im Rampenlicht steht.

Die Frauen mögen, dass der Altersunterschied zu "Bibi" für ihn keine Rolle spielt

Die Ehefrauen von de Gaulle und ­Mitterrand waren relativ diskret – und die Diskreteste war bei Mitterrand seine Dauergeliebte, mit der er auch ein Kind hatte. Die Medien wussten Bescheid, schrieben jedoch erst nach seinem Tod darüber. Die Miete und den Lebensunterhalt für seine Zweitfrau bezahlte der Sozialist Mitterrand übrigens aus der Staatskasse. Das wäre heute, nicht zuletzt unter dem Druck von Marine Le Pen und ihrem Vorwurf der durchgängigen Korruption der politischen Klasse, nicht mehr möglich.

Es war Nicolas Sarkozy, der der Öffentlichkeit neben seiner Ray-Ban-Sonnenbrille und seiner Rolex-Uhr auch seine Ehefrau vorführte. Triumphierend, denn die attraktive Sängerin Carla Bruni war vor ihm ein Schwarm in der Linken- und Intellektuellen-Szene gewesen. Einmal die Türe geöffnet, geriet auch die 17 Jahre jüngere Geliebte von Hollande in die Klatschspalten, eine Schauspielerin: Der Präsident war morgens vor ihrer Türe beim Croissant-­Holen abgeblitzt worden.

Haltlose Gerüchte, er sei in Wahrheit homosexuell, wies Macron souverän zurück und spottete, das hätte seine Frau merken müssen, schließlich verbringe er „Tag und Nacht mit Bibi“. Auch politisch präsentiert der Sozialliberale sich als über allem stehend. „Ich will die Blockaden überwinden“, sagt er und „Frankreich die Angst nehmen“.

Aktualisierte Fassung vom 8. Mai 2017.

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Wer ist Marine Le Pen?

Sie könnte die nächste Präsidentin Frankreichs werden - wäre da nicht Macron. Foto: Jean-Paul Pelissier/Reuters
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In den feinen Pariser Salons Hoche in der Nähe des Triumphbogens gab es Standing Ovations von den Fans. Marine Le Pen rief selbstbewusst unter Kronleuchtern dazu auf, „Frankreich wieder in Ordnung zu bringen.“ Mit einem hatte die Chefin des Front National wohl nicht gerechnet: mit einer Störung ihrer Ordnung. Doch plötzlich rannte eine Femen-Aktivistin mit nacktem Oberkörper und der Aufschrift „Marine fiktive Feministin“ durch den Raum. Die in der Tat sehr emanzipiert Auftretende lächelte nur kühl. Die Feme wurde von Ordnungshütern abgeführt.

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Von „Kaiserin Merkel“ will sie sich nichts vorschreiben lassen

Die 48-jährige Juristin ist eine moderne, selbstbestimmte Frau, ihre drei Kinder hat sie allein großgezogen und war immer gleichzeitig berufstätig. Doch zu ihrer Parteiideologie passt das Bild einer Frauenrechtlerin nicht, deshalb tauchen Frauenrechte auch nicht im Programm des Front National auf. Stattdessen geht es darum, die Geburtenrate in Frankreich zu erhöhen.

Dennoch bewundern viele Frauen die starke Marine, wie die Franzosen sie nennen. Die Parteichefin konnte den Anteil weiblicher FN-Wähler nach dem Regiment ihres Vaters auf immerhin rund 20 Prozent verdoppeln. Frauenrechte führt Marine gerne im Kampf gegen Islamisten an: „Die Masseneinwanderung wirft die Frauen um Jahrhunderte zurück“, twitterte sie nach den Angriffen in der Silvesternacht 2015 in Köln. Und kürzlich sorgte sie für einen vielbeachteten Eklat bei ihrem Auftritt im Libanon. Die Französin weigerte sich, ein Kopftuch aufzusetzen, um den Großmufti zu besuchen: „Ich werde mich nicht verschleiern!“ Das Treffen mit dem Geistlichen platzte, doch Ma­rine Le Pen hatte ihr Ziel erreicht: Ihre Geste gilt bei vielen als Bekenntnis zur Emanzipation.

Kürzlich traf sie sich mit Mitgliedern ihrer Partei in New York ausgerechnet im Trump Tower zum Kaffee. „Rein privat“ sei der Besuch gewesen, behauptete Le Pen später, doch ihr Ziel hatte sie erreicht: Eine Nähe zum US-Präsidenten zu suggerieren, den sie bewundert. „Donald Trump hält seine Versprechen. Er handelt schnell, stark und im Interesse des Volkes.“

Den Präsidenten Amerikas und die Chefin des Front National verbindet Nationalismus, die Verteufelung der Globalisierung und das Spiel mit Sündenböcken. Le Pen vertrat diese Ansichten schon lange vor Trump und fühlt sich durch dessen Sieg und Großbritanniens Brexit bestätigt. Trump plädiert für America first, Le Pen will Frankreich durch die „Priorité nationale“ wieder stark machen.

„Ich bin die Kandidatin des französischen Volkes“, verkündete sie selbstbewusst. Kein anderer französischer Politiker benutzt so häufig die Worte „Nation“, „Volk“ und „Patrioten“. Die Tochter des Parteigründers befürwortet einen Austritt aus der EU, will ein Referendum zum „Frexit“ und die Rückkehr zur französischen Nationalwährung. „Frankreich zuerst“ bedeutet für sie eine Rückbesinnung auf die Nation und eine Abkehr von der „Euro Diktatur“. Heftig wettert Le Pen, die seit 2004 im EU-Parlament sitzt, ­gegen den „Brüsseler Imperialismus“.

Marines Anti-Europahaltung ist zunehmend auch mit einer ausgeprägten Deutschlandfeindlichkeit verbunden. Von „Kaiserin Merkel“ will sie sich nicht herumkommandieren lassen und kritisiert sie für ihre Flüchtlingspolitik, sie lege „ganz Europa eine illegale Einwanderung auf, nachdem sie ihm bereits ihre Finanzordnung auferlegt“ habe.

Sie warnt vor einer „Invasion der Barbaren“ und schürt Angst

Die Populistin will die Einwanderung beschränken, warnt vor einer „Invasion der Barbaren“ und setzt damit auf die Angst vieler Franzosen vor muslimischen Zuwanderern. Wie Trump hat sie ihre meisten Anhänger außerhalb der großen Städte, wo die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg und die Frustration über die Politik besonders groß sind.

Für manche Franzosen ist sie die „Tochter des Teufels“ – für zahlreiche Rechtspopulisten und Rechtsradikale in Frankreich und Europa eine Ikone. Marine Le Pens Aufstieg erfolgte mit Lichtgeschwindigkeit. In nur wenigen Jahren ist sie zur neuen Galionsfigur der Rechten geworden – zur Frontfrau einer Bewegung, die alles, was in Europa an liberaler Rechtsstaatlichkeit und verlässlicher Friedensordnung geschaffen wurde, infrage stellt.

Seit Marine Le Pen am 16. Januar 2011 die Präsidentschaft der Partei von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen übernahm, scheint den Front National nichts mehr aufhalten zu können. Die Mitgliederzahl vervierfachte sich auf 84.000 und sogar in der einst linken Elite-Universität Sciences Po gibt es schon einen Fanclub.

Geschafft hat Marine das mit einer kühlen Strategie. Sie hat ihrer Partei einer so genannten „dédiabolisation“ (Entteufelung) unterzogen: Marine ist für das Recht auf Abtreibung, hat nichts gegen die Homo-Ehe, ja sogar einen offen homosexuellen Bürgermeister in ihrer Partei. Vor allem: Sie ist die einzige, die den politisierten Islam bekämpft – dabei unterscheidet sie zwischen Islam und Islamismus. Sie ist keine Antisemitin. Im Gegensatz zu ihrem 88-jährigen Vater, der die Gaskammern noch als „Detail der Geschichte“ bezeichnete. Doch die Kernziele des Front National sind unverändert geblieben, sind geprägt von Natio­nalismus und Feindbildern, denen sie eine ideale Welt gegenüberstellt.

Bei den Europawahlen 2014 kam es zum Eklat: Jean-Marie Le Pen hatte sich abfällig über den in Algerien geborenen jüdischen Sänger Patrick Bruel geäußert. Der in Frankreich sehr beliebte Künstler engagiert sich gegen Rassismus und hatte, wie andere Künstler auch, erklärt, dass er Frankreich verlassen wolle, wenn der Front National siegte. Jean-Marie Le Pen kommentierte: „Wissen Sie, da machen wir das nächste Mal eine Ofenladung“ – eine unverhohlene ­Anspielung auf die Vernichtungslager der Nazis. Marine Le Pen distanzierte sich von ihrem Vater, der schimpfte laut über sie: „Ah, sie will die Nabelschnur abschneiden, den Vater töten ...“

Schließlich schloss die Tochter den Vater aus der Partei aus. Ein Großvater ihres Lebensgefährten war übrigens jüdisch.

Um Marine Le Pen zu verstehen, muss man auch ihre Familiengeschichte kennen. Die Geschichte des Aufstiegs des Front National ist auch die Geschichte einer Familie, einer Politdynastie. Und sie ist ebenso die Geschichte eines Familiendramas, unterhaltsamer als jede Seifenoper.

Ihre Familien-
geschichte liefert Stoff für eine Seifenoper

Das erste Trauma ihres Lebens erlebte Marine mit acht Jahren – ein Bombenattentat gegen ihr Elternhaus im bürger­lichen 15. Arrondissement von Paris. Sie beschrieb die nächtliche Explosion in ihrer Autobiografie später als ihren Eintritt in die Politik, die sie „von ihrer gewalttätigsten, grausamsten und brutalsten Seite“ kennengelernt habe. Ein erheblicher Teil des Mietshauses wurde durch die 20-Kilo-Bombe zerstört.

Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt oder getötet. Die Attentäter wurden niemals ermittelt, doch ein Privatdetektiv sagte später, das Attentat sei möglicherweise eine private Rache gewesen, weil Vater Le Pen gerade das 430 Quadratmeter große Anwesen Montretout in Saint-Cloud bei Paris von einem reichen Gönner der Partei geerbt hatte. Dort hielt er danach jahrzehntelang Hof.

Das Bombenattentat war nicht das einzige traumatische Erlebnis für Marine. Als sie am 10. Oktober 1984 aus der Schule kam, sagte ihre vier Jahre ältere Schwester Yann: „Maman ist weg.“ Für Marine ging eine Welt unter. Mutter Pierrette hatte ihren Mann verlassen und war mit einem Journalisten davongelaufen.

Die Eltern lieferten sich drei Jahre lang einen schmutzigen Kampf in der Öffentlichkeit, dabei ließ sich Pierrette sogar einmal nackt und nur mit Schürze bekleidet im Playboy abbilden. „Die nackte Frau Le Pen macht sauber“, stand auf der Titelseite. Vorher hatte Jean-Marie Le Pen erklärt, er gäbe seiner Frau kein Geld, die solle gefälligst arbeiten gehen, „wenn nötig auch als Putzfrau“.

In ihrer Wut und Trauer über die verlorene Mutter wurde der Vater für Marine zu einer Identifikationsfigur. Erst 15 Jahre später versöhnte sich die Familie, und die Mutter zog in ein kleines Haus auf dem Grundstück des Anwesens der Le Pens in Saint-Cloud, wo Marine bis heute lebt.

Alle drei Le-Pen-Töchter waren dem Front National immer eng verbunden und suchten sich ihre Männer in der Partei. Marines Lebensgefährte, der Jurist Louis Aliot, ist der Vize der Partei. Der Front ­National ist ein „Front familial“, heißt es in Frankreich.

Marine passte perfekt in die Fußstapfen des Vaters. Als Jura-Studentin an der ­erzkonservativen Pariser Universität Panthéon-Assas, die auch ihr Vater besucht hatte, kamen viele ihrer Freunde, mit denen sie Partys feierte, aus dem rechten Milieu. Als Anwältin war sie für ihre brillanten Plädoyers bekannt. Doch alle Versuche, sich nach dem Examen eine Karriere aufzubauen, schlugen fehl wegen ihres Namens. Schließlich bekniete sie 1998 ihren Vater, eine Rechtsabteilung in der Partei aufzubauen, mit ihr als Chefin.

Damals war Marine gerade mit ihrer ersten Tochter schwanger. Ein Jahr darauf bekam sie Zwillinge, vom Vater der Kinder trennte sie sich schnell.

Der Aufstieg der jüngsten Le-Pen-Tochter begann am 5. Mai 2002, dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, die ihr Vater verlor. Sie musste die Ergebnisse im Fernsehen kommentieren und wirkte selbstsicher, aber nicht aggressiv.

Marine wurde über Nacht zum Star, gilt seither als „telegen“ und „publikumswirksam“. Bei einer TV-Sendung, zu der sie die farbige Moderatorin nach Hause einlud, plauderte sie über ihre Liebe zu Blumen, verriet Kochrezepte und dass sie gern Champagner trinkt. Auf ihrem Blog postet sie Fotos mit Katzen oder von Abendessen mit Freunden.

„Lügenpresse“ - ein bevorzugter Ausdruck von Marine

Lorrain de Saint Affrique, ein Berater ihres Vaters, beschrieb sie so: „Ihre wirkliche Natur ist es, zu befehlen und zu verlangen. Bekommt sie nicht, was sie will, steigert sie sich in zerstörerische Wut.“ Einen Einblick in diese Seite ihres Charakters gab Marine kurz nach Enthüllungen über Offshore-Geschäfte des Front National. Sie bezeichnete diese als „einen Haufen Exkremente“ und beschimpfte die Journalisten.

„Lügenpresse“ ist ein bevorzugter Ausdruck von Marine Le Pen, die Medien sind für sie ebenso wie Frankreichs Politiker „Teil der Elite“ und des „Systems“, gegen das sie protestiert.

Marine beschuldigt die etablierten Parteien, die gesamte französische Elite, mit Schuld am Abstieg ihres Landes zu sein. Den Front National inszeniert sie als eine Partei, mit der sich die Armen und Rechtlosen identifizieren können und tritt damit an die Stelle der einst mächtigen Linken als Fürsprecher des  Volkes. Die Krise Europas und eine in den Augen vieler aus den Fugen geratene Welt scheinen ihr recht zu geben.

Heute ist Marine Le Pen weit über ihre Parteigrenzen hinaus durchaus geachtet und beliebt. Auch viele Franzosen wollen es „dem Establishment zeigen“. Es ist also nicht auszuschließen, dass Marine Le Pen am 7. Mai zur Präsidentin Frankreichs gewählt wird. Nur eine Koalition aller Gegner des Front National – die sich allerdings untereinander keineswegs immer einig sind – könnte das noch verhindern.

Tanja Kuchenbecker
Von der Paris-Korrespondentin erschien gerade "Marine Le Pen - Tochter des Teufels" (Herder).

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