Linda Rennings: Die Stehauffrau

Foto: Silvia Reimann
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Letzte Woche hat wieder so ein Typ angerufen. „Den obdachlosen Frauen müsste unbedingt geholfen werden, hat er jesacht“, erzählt Linda Rennings mit kölscher Reibeisenstimme. Aber sie ahnte schon, was dann kam. Er würde gern eine Frau bei sich aufnehmen, sagte der Mann. Die müsse ein bisschen was im Haushalt können. „Und wat der sonst noch erwartet, iss ja klar“, sagt Linda. Sie kennt diese Typen. „Wohnungsfreier“ nennt sie sie. Sie sprechen Frauen an, die auffallend lange auf derselben Parkbank sitzen, und bieten ihnen eine heiße Dusche und ein Bett an. Was in diesem Bett passieren soll, ist klar. Linda weiß, dass es genug obdachlose Frauen gibt, die verfroren und verdreckt genug sind, um das Angebot anzunehmen. „Menschenunwürdig ist das!“ schimpft sie und ihr ohnehin sehr direkter Blick aus braunen Augen, die schon zu viel gesehen haben, wird noch ein bisschen schärfer. Den Mann am Telefon, erzählt sie, hat sie angebrüllt: „Ich bin keine Frauenvermittlungs-Agentur!“

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Nein, das ist Linda Rennings ganz bestimmt nicht. Aber sie ist eine Art Frauenhilfs-Agentur für all jene, die ihr Leben aus der Bahn und auf die Straße geworfen hat. So wie Linda selbst. Fünf Jahre lang hat sie „Platte gemacht“, wie das im Jargon heißt. Sie weiß, wie schnell das gehen kann, nämlich „ratzfatz“. Deshalb hat sie, nachdem sie die harten Zeiten überstanden hatte und wieder in einer Wohnung und bei sich selbst angekommen war, einen Verein gegründet: „Heimatlos in Köln“. Sie hilft, die nächste Notschlafstelle zu finden, sie geht mit bei Ämtergängen. Sie organisiert ein Herbstfest, bei dem sich die Obdachlosen vor dem kalten Winter mit gespendeten Jacken und Schlafsäcken eindecken können. Gemeinsam mit ihrem Dutzend MitstreiterInnen packt sie Geschenktüten mit „Outdoor-Sachen“: Heiße Tasse, ein Feuerzeug oder eine Packung Binden für die Frauen.

Die Frauen liegen ihr besonders am Herzen. Rund 5.000 Menschen sind in Köln „ohne festen Wohnsitz“ gemeldet, jeder fünfte davon ist weiblich, Tendenz steigend. Stichwort Altersarmut. Die obdachlosen Frauen, weiß Linda Rennings, leben auf der Straße „brandheißgefährlich“. Und: „Viele haben Gewaltgeschichten“. In Lindas Selbsthilfegruppe für obdachlose Frauen, die jeden Donnerstag im Gemeindezentrum tagt, erzählen sie davon.

Linda hat auch eine Gewaltgeschichte, und zwar eine mit mehreren Fortsetzungen. „Mit acht war meine Kindheit vorbei“, erzählt die 53-Jährige. Die Mutter: Alkoholikerin. Der Vater: „Kenn ich nicht.“ Linda musste waschen und putzen, verprügelt wurde sie trotzdem und floh vor Schreien und Schlägen so manches Mal in den Wald oder zur Großmutter. Die drängt darauf, dass das Kind was lernt. Linda wird Fleischereifachverkäuferin. Ehemann eins ist ein Schläger. Ehemann zwei auch. „Für Männer hatte ich keine gute Hand“, sagt Linda. „Meine Mutter hat es mir so vorgelebt.“ Als ­Verkäuferin und Putzfrau schafft sie das Geld für Ehemann und Tochter ran, die mit 14 das Haus verlässt. Irgendwann kapituliert Lindas Körper mit einer schweren Lungenentzündung, und auch ihre Seele klinkt sich aus. „Ich habe Stimmen gehört und Bilder gesehen, am Ende konnte ich nicht mal mehr meinen Namen sagen.“ Der Job ist weg, und bald darauf auch die Wohnung.

In ihrer Verzweiflung tut die zwangsgeräumte Linda das, was ihr als Kind schon geholfen hat: Sie geht zur Großmutter. Die ist zwar inzwischen tot, aber es gibt ja ihr Grab. Ein Jahr lang lebt Linda Rennings auf dem Friedhof in Köln-Dünnwald. Abends, wenn die Tore abgeschlossen werden, versteckt sie sich im Gebüsch. Nachts schläft sie auf einer der Bänke. „Ich habe mich da wohljefühlt“, erzählt Linda. Wenn im Dunkeln die roten Grablichter brannten, fand sie das heimelig. Tagsüber hatte sie zu tun: „Ich hab die Blumen aus dem Abfall geholt und in die Gräber gepflanzt, um die sich keiner gekümmert hat.“ Eins ist ihr besonders wichtig: „Ich habe nicht gebettelt!“ Stattdessen ging sie „Containern“, magerte auf 45 Kilo ab. Psychisch war sie so heftig angeschlagen, dass die Mitarbeiter eines Obdachlosenheims, in dem Linda einen Kaffee trank, den Amtsarzt riefen. Der wies sie sofort in die geschlossene Psychiatrie ein.

Das dreiviertel Jahr in der Geschlossenen war „Horror pur“, erzählt Linda. Die Medikamente, die Enge, die Fremdbestimmung. „Wenn ich auch im Nachhinein sagen muss: Es war wahrscheinlich die Rettung.“ Die Eingesperrte und Ruhiggestellte verweigert sich jeder Therapie – bis ihre Tochter auftaucht und sie bittet, Hilfe anzunehmen. „Da dachte ich: Es kann nicht sein, dass dat Kind sich für dich schämt.“ Linda zieht in eine WG für psychisch kranke Obdachlose. Sie macht eine Ausbildung zur „Genesungsbegleiterin“ für Menschen mit Psychiatrie-Diagnose. Seit 2011 lebt sie in ihrer kleinen Wohnung in Köln-Mülheim, von einer Minirente plus Grund­sicherung. Und sie kämpft dafür, dass die besonderen Probleme obdachloser Frauen endlich wahrgenommen werden. Darüber schreibt sie immer wieder in der Obdachlosen-Zeitschrift Draußenseiter. ­Gerade mal 21 Notschlafplätze gibt es in Köln für Frauen, davon nur neun mit Hund. „Dabei darf man gerade den Frauen ihre Hunde nicht wegnehmen“, sagt Linda. „Das sind doch ihre Beschützer!“

Das einzige männliche Wesen, das Linda noch in ihre Nähe lässt, ist Clayd. Sie hat ihn als Welpen, krank und apathisch, einer zwielichtigen Hundehändlerin entrissen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Auch an diesem Morgen in einem Kölner Café ist Clayd ­natürlich dabei. Er mag sich nicht so recht hinlegen, offenbar stört ihn der gestreifte Strickmantel, den Linda ihm angezogen hat. Aber da muss er durch. Clayd soll es schließlich warm haben.

Chantal Louis

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