LITERATUR-NOBELPREIS: Späte Ehre für

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EMMA November 1978

Mit fast 20 Jahren Verspätung erschien 1978 in Deutschland Doris Lessings bedeutendstes Werk "Das Goldene Notizbuch". Und eigentlich ebenfalls mit 20 Jahren Verspätung erhielt die englische Schriftstellerin nun den Nobelpreis. Aber es ist es nicht zu spät: Die Freude der 87-Jährigen ist zu Recht groß. Im deutschsprachigen Raum war die Entdeckung von Lessing den Feministinnen zu verdanken, für die das "Notizbuch" zu den Schlüsselwerken eines erwachenden Bewusstseins der Frauen gehört – auch wenn Lessing selbst sich nie als Feministin verstanden hat. Das nachfolgende Porträt schrieb die deutsch-englische Schriftstellerin Jeannette Lander 1978 für EMMA.

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Über das Leben von Doris Lessing erfährt man nur spärliche nüchterne Daten: dass sie 1919 in Persien geboren wurde, dass ihr Vater britischer Offizier war, ihre Mutter irisch-schottischer Herkunft. Die Familie siedelte 1924 nach Rhodesien über, betrieb eine Maisfarm, lebte in großer Abgeschiedenheit wie die meisten weißen Farmer Afrikas. Doris besuchte erst eine Klosterschule und dann eine höhere Schule in Salisbury. Als sie 14 Jahre alt war, kehrte sie der Schule den Rücken und bildete sich selbst weiter. Sie las viel und systematisch, begann mit 15 Jahren erste literarische Versuche zu machen.

Mit 18 verließ sie Farm und Elternhaus, ging nach Salisbury und nahm Büroarbeit an. Schon zwei Jahre später heiratete sie einen Beamten. Sie hatten zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Ehe wurde nach vier Jahren geschieden. Im Jahr darauf, 1944, heiratete sie wieder, diesmal einen deutschen kommunistischen Emigranten. Mit dem einzigen Sohn aus dieser Ehe, die ebenfalls scheiterte, zog sie 1949 nach London. Es heißt, dass sie nur 20 Pfund Sterling und etliche Manuskripte bei sich hatte. Sie suchte einen Verlag, arbeitete in einem Büro.

Eins dieser Manuskripte, der dritte Roman, den sie geschrieben hatte, "The Grass is Singing" wurde gedruckt und war ein Erfolg. Doris Lessing war damals dreißig Jahre alt. Seitdem hat sie zahlreiche Erzählungen geschrieben, zehn Romane, zwei Bühnenstücke, Essays, kritische Prosa.

Selbst dieser knappen Aufzählung von Lebensdaten entnimmt man, dass es sich um einen Menschen mit einem eigenen Kopf und den Mut, sich durchzusetzen, handelt. So jung und so entschieden, die Schule zu verlassen ("Es gab eine Zeit, in der ich es bedauerte und glaubte, ich hätte etwas Wertvolles versäumt. Jetzt bin ich dankbar, dass ich glücklich davongekommen bin"); als 18-jähriges Mädchen allein in die Stadt zu ziehen; offensichtlich während ihrer Ehen und trotz der Mutterschaft weiter zu schreiben: eine Frau also von Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen.

Warum ihre Ehen in die Brüche gingen, steht nicht in den verfügbaren biographischen Informationen, steht aber in ihren Romanen und Erzählungen, natürlich als Erlebnisse ihrer Figuren. Charaktereigenschaften wie Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen sind bei einer Frau noch immer Grund genug für das Scheitern einer Ehe. Das jetzt erschienene "Goldene Notizbuch" aber schildert andere weibliche Eigenschaften (solche, die wir haben und solche, die uns angedichtet werden), die ebenfalls einer Zweierbeziehung in unserer Zeit hinderlich sind, wenn sie von Dauer und Erfüllung sein soll.

Ist Doris Lessing also eine feministische Autorin? Nein, das wäre zu einfach. Ihre Beziehung zur Frauenbewegung erklärt sie in einem Vorwort, das sie neun Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches schrieb und das der Goverts-Ausgabe vorangestellt ist: "Um das Thema ,Woman's Liberation' hinter mich zu bringen - natürlich unterstütze ich sie, weil die Frauen, wie sie in vielen Ländern energisch und kompetent zum Ausdruck bringen, Bürger zweiter Klasse sind. Man kann sagen, dass sie Erfolg haben, und wenn auch nur bis zu dem Grade, dass man sie ernsthaft anhört. Alle möglichen Leute, die früher feindselig oder gleichgültig waren, sagen jetzt: ,Ich unterstütze ihre Ziele, aber ich kann ihre schrillen Stimmen und ihr greuliches und unhöfliches Benehmen nicht leiden.' Dies ist ein unvermeidliches und leicht erkennbares Stadium in jeder revolutionären Bewegung: Reformer müssen damit rechnen, dass sie von denen abgelehnt werden, die nur allzu froh sind, zu genießen, was sie erreicht haben. Dennoch glaube ich nicht, dass die Frauenbewegung viel ändern wird - nicht, weil etwas mit ihren Zielen nicht stimmt, sondern weil es jetzt schon klar ist. dass die ganze Welt durch die Umwälzung, die wir jetzt erleben, in ein neues Muster geschüttelt wird: Möglicherweise werden die Ziele der Frauenbewegung zu dem Zeitpunkt, an dem wir ,durch' sind, falls wir überhaupt durchkommen, sehr geringfügig und altmodisch aussehen."

In diesem Vorwort erzählt Doris Lessing auch, dass sie, als das Buch herauskam, Leserbriefe bekam, die es als ein Buch über den "Geschlechterkampf" und andere, die es als ein Buch über die linke Bewegung ansahen. Neuerdings bekommt sie Briefe, die es als ein Buch über Geisteskrankheit bezeichnen. Sie selbst nennt es "Zusammenbruch - dass es manchmal, wenn Leute ,zusammenklappen', ein Weg der Selbstheilung ist" und schreibt weiter: "Aber niemand hat dieses Zentralthema auch nur wahrgenommen, weil das Buch sogleich, von freundlichen wie von feindlichen Rezensenten, als eines, das vom Geschlechterkampf handle, verharmlost oder von Frauen als nützliche Waffe im Geschlechterkampf beansprucht wurde."

Frauen stehen im Mittelpunkt des weitaus größten Teils ihrer Erzählungen und aller Romane - mit einer Ausnahme. Sie erzählt vom Standpunkt der Frau aus. Als sie anfing zu schreiben, schrieb sie übrigens über Afrika und man schob sie sofort in die Kategorie "Rassenkampf" ab. Scheinbar brauchen wir diese Etiketten.

Rassenkampf, Klassenkampf, Geschlechterkampf, Wahnsinn - worüber schreibt denn Doris Lessing überhaupt und worüber im "Goldenen Notizbuch" insbesondere? Offensichtlich findet jeder hier seine eigene Problematik reflektiert. Für mich handelt das Buch vorwiegend von der Problematik der Schriftstellerin: die Hauptperson, Anna Wulf, ist eine Schriftstellerin und der Roman ist gegliedert nach den Notizbüchern, die sie führt: das schwarze Notizbuch, das blaue, das rote und das gelbe. Wenn wir hinschauen, was Anna Wulf in diesen Notizbüchern schreibt, dann klärt sich manches von der Verwirrung auf, was das Zentralthema betrifft.

In dem roten Buch sind Aufzeichnungen über ihr politisches Leben, zunächst als engagierte Mitarbeiterin, dann als Mitglied der Kommunistischen Partei, zum Schluss als enttäuschte Sozialistin. (Doris Lessing war Mitglied der KP Englands bis zur sowjetischen Intervention in Ungarn.) Anna Wulf erlebt die inneren Auseinandersetzungen, die die Stalin-Ära in linken Kreisen Europas ausgelöst hat. Ihre persönlichen Zweifel, ihre Ernüchterung, Desillusionierung und schließlich ihr Widerwille zeichnet sie nacherlebbar auf in der Form von Sitzungen, Diskussionen, Gesprächen, Liebesbeziehungen. Ein Teil hiervon sind Erinnerungen Anna Wulfs an die Anfänge ihres politischen Engagements in Afrika während des zweiten Weltkriegs. In der Figur des deutschen Emigranten Willi, wird man sicherlich Züge von Doris Lessings zweitem Mann sehen können.

Das blaue Notizbuch ist eine Art Tagebuch, das heißt: Anna versucht hier ein Tagebuch zu führen, um emotional ungefärbte Tagesabläufe als Basis für einen Roman oder Erzählungen zu haben. Sie notiert hier aber auch ihre Gefühle, und wenn wir sehen, dass das gelbe Notizbuch wie ein Romanmanuskript beginnt und Daten aus dem Tagebuch verwendet, und dass im schwarzen neben einer Rubrik "Geld" auch eine Rubrik "Quelle" steht, ebenfalls mit Material zum späteren schriftstellerischen Gebrauch, dann ist es klar, wie die Notizbücher überlappen und sich ergänzen, so dass Anna immer wieder in dem einen einen Gedanken aufschreibt, über den sie dann bemerkt, er gehöre eigentlich in ein anderes.

Den Rahmen für diese Notizbücher bilden Berichte aus dem tatsächlichen Leben Annas, die jeweils den Titel "Ungebundene Frauen" tragen. Die ungebundenen Frauen sind Anna und ihre Freundin Molly, eine Schauspielerin, beide geschieden, jede mit einem Kind. (Bemerkt sie, dass dieser Titel im Original "Free Women" heißt, was gleichzeitig "ungebunden", "frei" im Sinne von "verfügbar" oder "zu haben", aber auch [als Imperativ] "Befreit Frauen!" bedeutet. Wie man sieht, ist es schwer, dieses Buch zu übersetzen; ihm in einer Übersetzung wirklich gerecht zu werden, ist unmöglich.)

Die Beziehungen der ungebundenen Frau Anna, zu verschiedenen Männern durchziehen die Rahmenerzählung und alle Notizbücher. Am wesentlichsten ist die Beziehung zu einem verheirateten Mann, Michael, die fünf Jahre von Annas Leben in Anspruch nimmt und damit endet, dass er sie verlässt. Über den Abbruch dieser Beziehung kommt sie lange Zeit nicht hinweg.

Sie sucht den "echten Mann", die "wahre Liebe" und untersucht ihr eigenes Verhalten sowie das einer Reihe von Männern und Mann-Typen unter diesem Aspekt. Natürlich stellt sie auch die Tatsache in Frage, dass sie gerade dies sucht und nur dies für sie befriedigend ist. Ihre Beschäftigung hiermit während großer Teile des Buches führen zu der Einschätzung, dass das Zentralthema der Geschlechterkampf ist.

Aber Anna ist eine Schriftstellerin und die Mittel, mit denen sie über sich selbst nachdenkt, sind schriftstellerische Mittel. Sie macht aus jedem Erlebnis eine Geschichte, wo sie Personennamen und Details aus der Wirklichkeit verändert, stilisiert, in einen erdichteten Rahmen setzt. So kann sie sich und die anderen Figuren sowie die ganze Handlung aus einer anderen Perspektive sehen, distanzierter und objektiver. Sie kann wie ein unbeteiligter Dritter darüber urteilen.

Für den Leser ist dieser Vorgang ein Abenteuer: er kennt die Wirklichkeit und die daraus entstandene "Dichtung", erlebt, wie leicht ein Sachverhalt durch geringe Änderungen der Darstellungsweise andere Schwerpunkte bekommt, wie er selbst in seinem Urteil manipuliert werden kann; er lacht über eine parodierte "Fernseh-Fassung" des gleichen Stoffes oder über die Sachbuch-Version. (Wenn man die Zeitschriften-Fassungen auf die deutsche Szene überträgt, erkennt man auch eine "Brigitte"- und eine EMMA-Fassung.)

In bezug auf die Schriftstellerin lässt Doris Lessing die besonderen Schwierigkeiten der Frau in diesem Beruf nicht weg. Vor allem geht sie darauf ein, dass eine Art "Treue" von der Frau erwartet wird, die es ihr verbietet, Freunde und Bekannte in ihrer Arbeit zu "benutzen", während diese Praxis bei einem Mann als Zeichen seiner Unabhängigkeit und Integrität als Schriftsteller hoch geschätzt wird. Selbst seine Ehefrau fragt ihn nicht, ob er tatsächlich mit einer solchen Frau so geschlafen hat, wie er es in seinem Buch so sinnesnahe schildert: Sein Buch ist doch Kunst. Umgekehrt fragt Ehemann, Geliebter oder Bekannter (bisweilen leider auch Freundin) eine Autorin, wer das wohl war.

Dieses Abenteuer, dieses Leser-Vergnügen, nämlich: mit zu beobachten, wie sich Anna als Schriftstellerin beobachtet, erfüllt ganz nebenbei eine unschätzbar wichtige Funktion für eine Frau auf dem Wege zur eigenen Emanzipation: Es bringt ihr bei, wie sie sich selbst kennenlernen kann. Nachdem sie auch nur die Hälfte der 634 Seiten dieses Romans (der sich sehr schnell liest, weil man ihn nämlich nicht aus der Hand legen will) hinter sich hat, ist sie schon von alleine in ähnliche Denk-Gewohnheiten gefallen, wie Anna sie hat, und wenn sie das Buch ausgelesen hat, ist ihr diese Denkweise so geläufig und hat sich als so fruchtbar erwiesen, dass sie sie nicht mehr ablegen will.

Das zentrale Problem der Schriftstellerin Anna ist, dass sie nicht mehr schreiben kann. Sie hat das, was in Künstlerkreisen als "Block" bezeichnet wird. Dieses Problem ist Brennpunkt; hier kommen die diversen "Themen" zusammen; hier erweist sich, dass das eigentliche Thema "Zusammenbruch" ist. Hätte Anna noch eine sinnvolle politische Zielsetzung, wäre die Glaubwürdigkeit der Partei und der Bewegung nicht zusammengebrochen, dann wäre die Basis gegeben, die Anna braucht, um schreiben zu können. Hätte sie eine sinnvolle Liebesbeziehung, so wäre dies die Basis, entweder schreiben zu können oder nicht schreiben zu wollen. Aber auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Beziehung, die Anna sucht, sind zusammengebrochen.

Anna selbst, wie sie immer wieder feststellen muss, ist nicht "ganz": dass sie vier Notizbücher braucht, anstatt eins, ist ein Zeichen für Annas Gefühl, die Teile ihrer Erlebniswelt (der äußeren wie der inneren) nicht übereinbringen zu können. Und das Bewusstwerden ihrer eigenen Spaltung, das Anna während des ganzen Buches betreibt, ist der "Weg zur Selbstheilung", von dem Doris Lessing spricht.

Der letzte Schritt auf diesem Weg ist eine zwanghafte Liebesbeziehung gegen jede Vernunft mit Saul Green, einem psychisch labilen Mann, in dessen "kranke" Welt sich Anna nach und nach, unter Zusammenbruch der eigenen Persönlichkeit, hineinbegibt. Dieser Zusammenbruch ist die Voraussetzung dafür, zusammenzuwachsen, wieder ganz zu werden. Aber der Prozess der Heilung wird im "Goldenen Notizbuch" nicht mehr verfolgt.

Wir wissen, dass sie stattfindet, weil Saul Green den ersten Satz eines neuen Romans in Annas goldenes Notizbuch schreibt. Nun hat sie ein Notizbuch; nun schreibt sie. Man erkennt den Satz wieder als den ersten des Romans, den wir gerade beenden. Ihn hat Anna (oder Doris Lessing) gebraucht, um alles zusammenzubringen, um wieder weiterzumachen.

Die literarische Qualität ihrer Bücher ist auf einem Rang mit den besten Werken der Weltliteratur überhaupt und so werden sie in der englischsprachigen Kritik gewertet. Dass deutschsprachige Länder so spät dran sind, Doris Lessing zu übersetzen, mag daran liegen, dass sie kein großes Wesen um sich macht, mag aber auch daran liegen, dass gerade ihre Sprache (nicht Stil: Sprache) im Deutschen ihre Eigenheit verliert, ihre Subtilität und Differenzierung, denn sie lebt von der präzisen Wahl unter Synonymen, die es im Deutschen gar nicht so differenziert gibt; sie lebt von Nuancen in der Satzstellung, die in der Übersetzung notgedrungen verschwinden, so dass ein Beigeschmack des im schlechten Sinne "Romantischen" der Übersetzung anhaftet, der im Original nirgendwo da ist.

Das Buch wirkt altmodisch, manchmal sogar schwülstig, wobei die Sprache Doris Lessings funktional ist, unbelastet von jedem Stilmittel (die hebt sie für Parodie auf), klare Gedanken transportiert und Bilder entstehen lässt, die man in einem Film gesehen zu haben glaubt. In "The Four-Gated City", dem fünften Roman in einem großen Roman-Zyklus, den Doris Lessing noch vor dem "Goldenen Notizbuch" begonnen hatte und danach erst zu Ende führte, ist die Hauptfigur Martha Quest, eine Frau, die zu ganz anderen Antworten auf Annas Probleme kommt. Hier fungiert sie als verantwortlicher Teil einer sich selbst zerstörenden Gesellschaft und weder ihr Verhalten noch dessen Konsequenzen ist mehr abtrennbar in die Kategorie: Frau.

In diesen Büchern überschreitet Doris Lessing die Grenzen eines nur weiblichen Erlebens. Man kann sagen, dass in diesen Büchern die Frau zum Menschen geworden ist.
Jeannette Lander, EMMA 11/1978

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