Lydia Grün: Auf dem Weg
Während die ganze Welt vom Klimawandel spricht, ist an der Münchner Musikhochschule, kurz HMTM, einer aus der Nähe zu beobachten. Professorin Lydia Grün, 46, empfängt im zweiten Stock zum Gespräch, das Präsidentenbüro ist jetzt ein Präsidentinnenbüro, zum ersten Mal in der 175-jährigen Geschichte der weltweit renommierten Institution, die in den letzten Jahren nicht aus den Skandalschlagzeilen herausgekommen ist. Mit ihren wachen Augen, ihrem offenen Gesicht und ihrem unaufgesetzten Selbstbewusstsein verkörpert Grün wenige Wochen nach ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 bereits jetzt den atmosphärischen Neuanfang, für den sie gewählt wurde.
Kolleginnen und Kollegen hätten ihr von dem neuen Amt abgeraten, sie gar als „tollkühn“ bezeichnet, erzählt die neue Präsidentin. Grün konterte, gerade jetzt sei es „an der Zeit, tollkühn zu sein“. In Zeiten großer Herausforderungen sei es keine Option, „dass man sich in gemütliche Ecken verdünnisiert“. Es gehe darum, „das Veränderungsdenken, das gerade überall sprießt, mit zu prägen“. Das sind ganz neue Töne an der Musikhochschule, die vor allem durch ihren ehemaligen Präsidenten Siegfried Mauser in Verruf geraten war. Mauser war 2018 und 2019 in mehreren Fällen der sexuellen Nötigung für schuldig erklärt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er war aber nicht der einzige Professor, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden.
Trotz aller Macho-Skandale kam Grüns Wahl im Sommer überraschend, aber offenbar sind auch im konservativen München die Zeiten vorbei, in denen vorwiegend männliche Netzwerke die Besetzung der Spitzenpositionen unter sich ausmachen. In ihrer Antrittsrede sprach Grün von „Transparenz“ und „Umsicht“ in einer „diversen Gesellschaft“. Das durfte man als Grundsatzkritik an ihren Vorgän¬gern und den Strukturen der Hochschule lesen, die sie jetzt ändern will. „Mein Anspruch ist, dass wir eine Vorbildfunktion übernehmen.“
Ein erster Schritt ist bereits getan, um zu ver¬hindern, dass Professoren das Machtgefälle zwi¬schen ihnen und den von ihrem Urteil abhängigen StudentInnen ausnutzen. „Man muss möglichst viele ansprechbare Stellen schaffen, das ist im letzten Studienjahr mit unserem Netzwerk der Ver¬trauenspersonen passiert.“ Insgesamt 20 Personen – ProfessorInnen, Lehrbeauftragte, MitarbeiterInnen der Verwaltung und Studierende – stehen zur Verfügung. „Das aber ist nur der erste Schritt. Jetzt ist es wichtig, den Umgang miteinander, das Thema Nähe und Distanz zu thematisieren.“
Reformorientierte Professoren wie der Komponist Moritz Eggert, der die Zustände an seiner Hochschule seit Jahren öffentlich kritisiert, sind überzeugt, dass Grün der HMTM neues Leben einhauchen kann. Grün sei „gerade heraus“ und führe mit einem „völlig anderen Stil als die Männer vor ihr“, so Eggert. Der Musik- und Kulturwissenschaftlerin Grün, in Essen geboren, in Leipzig studiert, zuletzt Professorin für Musikvermittlung an der Hochschule für Musik in Detmold, sind konsequente, aber nachvollziehbare Entscheidungen wichtig. Sie wolle „Führung sichtbar machen. Daran werde ich mich messen lassen“.
Grün sammelte Erfahrungen als Gleichstellungsbeauftragte in Detmold und als Geschäftsführerin von Musikverbänden und Stiftungen, in denen sie oftmals die einzige Frau war. In Schubladen lässt sich eine Veränderin wie Lydia Grün aber nicht stecken. Beim Putzen zuhause oder unliebsamer Büroarbeit legt sie gerne Jamiroquai oder Prince auf, um in Schwung zu kommen. Dabei ist sie mit klassischer Musik aufgewachsen, ihre Mutter ist ausgebildete Sängerin, sie selbst spielt Klavier und hat lange Jahre Alte Musik gemacht.
Profitieren wird Grün in München zweifellos von ihrer Lieblingsserie „House of Cards“. Will frau Struk¬turen und Gebaren mächtiger Männer studieren, gibt es wohl kaum besseres Anschauungsmaterial als die Musikhochschule München. Am Ende der Serie wird eine Frau zur Präsidentin gewählt. Ob Weißes Haus in Washington oder HMTM in München – es gibt viele Räume, die sich ganz neu gestalten lassen
Ausgabe bestellen