Verhütung für Männer? Zu gefährlich!
"Ich weinte täglich, manchmal über die kleinste Kleinigkeit.“ – „Ich konnte mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren.“ – „Ich war einfach total niedergedrückt, dauernd.“ Solche und ähnliche Statements stehen in Frauenforen und Artikeln, in denen es um die Auswirkungen der „Pille“ auf die Stimmung der Frauen geht, die sie nehmen. Aber dort sucht – und findet – nur, wer zumindest argwöhnt, dass die seltsamen Stimmungsschwankungen und mentalen Veränderungen mit der hormonellen Verhütung zu tun haben könnten.
PMS wird durch die Pille zur handfesten Störung
Viele ahnen noch nicht einmal, dass es so sein könnte. Was nicht zuletzt daran liegt, dass die Fragen nach den psychischen Nebenwirkungen der Pille unverzeihlich lange ignoriert wurden. Geschätzte 100 Millionen Frauen schlucken derzeit weltweit Hormone zur Verhütung, seit Jahrzehnten ist die Pille das Synonym für garantierte Sicherheit beim Sex. Und da sollen die Komplikationen ungenügend erforscht sein?
Was die Pille mit dem Körper anstellt, wissen wir: Sie täuscht ihm eine Schwangerschaft vor – darum setzt der Eisprung aus. Die körperlichen Folgen der Anti-Baby-Pille – Embolie-Risiko, Gewichtszunahme etc. – wurden ab Anfang der 1970er Jahre von Feministinnen kritisiert, bald darauf erforscht und zumindest teilweise durch das drastische Zurückfahren der Hormondosis reduziert.
Die psychischen und emotionalen Nebenwirkungen jedoch kamen bisher nicht wirklich auf den Prüfstand. „50 Jahre Verhütung mit Hormonen – Zeit herauszufinden, was das mit unseren Gehirnen anstellt“, fordert deshalb die Neurowissenschaftlerin Dr. Belinda Pletzer von der Universität Salzburg – im Jahr 2014.
Entsprechend nebulös und auch widersprüchlich sind die Befunde. Manche Frauen berichten, dass sie sich mit Pille deutlich häufiger als zuvor niedergedrückt, ängstlicher und antriebsloser fühlen. Allerdings: „Echte Depressionen sind eine eher seltene Nebenwirkung der Pille“, sagt Prof. Dr. Ludwig Wildt, Chefarzt der Universitätsfrauenklinik in Innsbruck. Er hat mit seinem Team eine der wenigen einschlägigen Übersichtsarbeiten zum Thema „Pille und Depression“ veröffentlicht. „Wir können wegen der Vielfalt der Präparate auch kaum einem einzelnen Wirkstoff in den verschiedenen Verhütungsmitteln bestimmte psychische Nebenwirkungen zuordnen“, beschreibt der Experte das Dilemma. „Wenn, dann sind eher solche Pillen ein Problem, die nur Gestagene enthalten“.
Echte Depressionen als Pillenfolge muss die Mehrzahl der Frauen, die sie schlucken, also nicht fürchten, das bestätigen auch andere Studien zum Thema. Dennoch kann die Pille offenbar die Gefühlswelt erheblich derangieren. So klagen manche Frauen über Gefühlschwankungen wie sie sie ohne Pille in dieser Heftigkeit nicht kannten; andere nervt plötzlich ihre unkontrollierbare Impulsivität: „Ich wurde oft rasend vor Wut – ohne den geringsten Anlass“, klagt die britische Journalistin Jill Foster in der Daily Mail.
Die Gründe für den Lust-Verlust sind vielfältig
Dass sich die Pille auf die psychische Befindlichkeit, die Stimmung und Emotionen zumindest irgendwie auswirkt, ist nicht erstaunlich. Sie enthält in aller Regel zwei Hormonkomponenten: Östrogene und Gestagene. Am häufigsten wird Ethinylöstradiol als Östrogen mit verschiedenen Gestagenen kombiniert, reine Gestagenpillen sind selten. Die Konzentration von Östrogenen und Gestagenen reguliert den weiblichen Zyklus und ändert sich in Schwangerschaft und Stillzeit sowie in der Menopause. Dass in solchen Phasen die Hormone und mit ihnen die Gefühlswelt einer Frau durcheinander gewirbelt werden, ist Allgemeinwissen.
Viele Frauen erfahren zum Beispiel auch das Stimmungshoch um den Eisprung ebenso intensiv wie sie spüren, dass ihre Psyche in den Tagen vor der Periode Achterbahn fährt. Es gibt Hinweise, dass sich mit Pille das bekannte prämenstruelle Syndrom (PMS) zu einer handfesten Störung auswachsen könnte, der prämenstruellen Dysphorie (PMDD). Sie hat immerhin als echte Pathologie Eingang in den internationalen Katalog psychischer Erkrankungen gefunden.
Was nun die Sexualität angeht: Die Frage, ob und wie sehr die Pille die weibliche Libido vermindert, ist so alt wie umstritten – und ein heißes Eisen. Wer wagt, die lustmindernden Eigenschaften der Pille zu thematisieren, gerät leicht in Gefahr, jenen konservativen Stimmen Munition zu liefern, die die Verbreitung eines so universellen Verhütungsmittels von jeher gern begrenzt gesehen hätten. Entmutigende Schlagzeilen haben es dennoch in die Boulevardpresse und in Fachjournale geschafft: „Pille ist schuld an Sex-Unlust“ oder „Birth Control Pills Put Brakes on Women’s Sex Drive“, lauten die Schlagzeilen. Wer im Netz erst einmal einen Thread wie „NO LIBIDO while on pill“ gelesen hat, wird völlig desillusioniert. „I had ZERO sex drive“, schreibt Forenteilnehmerin Lizzie dort als eine von vielen.
Es klingt wie ein Treppenwitz der Verhütungsgeschichte, dass just das Symbol für die sexuelle Befreiung der Frauen sie offenbar auch von sexueller Lust befreit. Unplausibel ist das nicht. Manche Pillen, zum Beispiel Diane35®, die auch gegen vermehrten Haarwuchs verschrieben wird, enthalten das potente Anti-Androgen Cyproteronacetat, das die Wirkung von Testosteron abschwächt. Testosteron gilt zwar als „männliches“ Hormon, aber jenseits dieser Geschlechtsetikettierung ist es auch bei der Frau für Libido und Lust zuständig. Anti-Androgene zur Blockade von Testosteron kommen beispielswiese bei Prostatakrebs zur „hormonellen Kastration“ zur Anwendung: Man will damit die krebsfördernde Wirkung, die Testosteron auf diesen Tumor hat, ausschalten. Anti-Androgene gelangen auch zur Behandlung der Hypersexualität zum Einsatz, bei so genanntem „gesteigertem Drang nach sexueller Betätigung und Befriedigung “.
Dass die Mittel bei Frauen wie Männern Unlust erzeugen, folgt dem einfachen Dreisatz: Die Libido hängt vom Testosteron ab, ein Anti-Androgen blockiert die Testosteronwirkung, folglich mindern Anti-Androgene die Libido.
Aber nicht nur Androgen-Hemmer wirken lusthemmend. Eine weitere Ursache liegt beim SHBG (Sexual Hormone Binding Hormone), ein Eiweiß, dessen Konzentration bei Einnahme der Pille im Blut ansteigt. Es fängt andere Sexualhormone quasi ab, so dass weniger an freien, wirksamen Komponenten vorhanden ist.
Einen dritten Grund für verminderte Lust lieferten kürzlich italienische Neurowissenschaftler. Sie fanden im Tierversuch Hinweise dafür, dass gängige Hormone aus der Pille die Konzentration von Allopregnanolon, ein Verwandter des Progesterons, der vor allem auf Nervenzellen im Gehirn wirkt, dort verringern und dadurch zentral die Libido ungünstig beeinflussen.
Wie relevant das alles ist, ist offenbar abhängig davon, wen man fragt. Die Häufigkeit von sexuellen Störungen durch die Pille wird in wissenschaftlichen Veröffentlichungen als „insgesamt relativ gering“ eingestuft, stellt zum Beispiel Prof. Alfred Mueck von der Universitätsfrauenklinik in Tübingen fest. „Viele Ärzte“, so der Mediziner und Biochemiker, „halten die Mitteilungen für psychologisch oder psychosomatisch bedingt“. Sprich: Sie gehen davon aus, dass die verminderte Lust keine körperlichen Gründe hat, sondern seelische. Deshalb messen sie den Aussagen der Frauen nicht allzu große Bedeutung bei, vermutet er.
Aus diesem Grund haben die Tübinger Wissenschaftler das Phänomen selbst untersucht. Ihre Studie kommt zu dem Ergebnis, dass immerhin bei jeder dritten der von ihnen befragten Medizinstudentinnen bei Pilleneinnahme „ein Risiko“ für „sexuelle Dysfunktionen“ bestand und jede fünfte über manifeste Probleme mit ihrer Sexualität klagte. Sechs Prozent berichteten konkret über Libidoverluste und immerhin neun Prozent – fast jede Zehnte – über Schwierigkeiten beim Orgasmus.
Die Pille als hormoneller Koitus interruptus? Soweit will kein Wissenschaftler gehen, alle betonen, mit solchen Umfragen ließe sich keinesfalls ein zwingender Kausalzusammenhang à la „Pille dämpft Libido“ ableiten.
Doch wie auch immer: Bemerkenswert viele Frauen sind mit der Pille unzufrieden – rund ein Drittel derer, die mit einem Präparat starten, nimmt es nach einem Jahr nicht mehr. Klar ist auf jeden Fall, dass psychosexuelle Nebenwirkungen der Pille jedenfalls in medizinischen Lehrbüchern immer noch notorisch unterschätzt werden.
Viele Frauen sind mit der Pille unzufrieden
Erstmals haben nun kanadische Forscher FrauenärztInnen und AllgemeinmedizinerInnen danach befragt, wie häufig Pillenanwenderinnen ihnen von Problemen mit der Pille berichten. Die Befragten bekannten, dass sich ein weitaus höherer Prozentsatz als offiziell veranschlagt über Verschlechterungen von Stimmung und Sexualleben beklagte.
„Das offensichtlich Paradoxe an der Situation ist, dass viele Frauen die Pille eigentlich nehmen, um ihre Sexualität frei von der Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft voll auszukosten“, beschreibt Dr. Nicole Smith von der Princeton Universität das Dilemma. Und sie bedauert, dass bislang jenen Frauen, die von Stimmungstiefs und sexueller Unlust geplagt werden, viel zu wenig Alternativen geboten werden.
Alfred Mueck von der Tübinger Frauenklinik empfiehlt, in solchen Fällen auf eine Pille mit anderem Gestagen umzusteigen. Außerdem sollten Präparate mit niedrigen Östrogendosen gewählt werden.
„Neuerdings“, so der Experte aus Tübingen, „gibt es auch Pillen mit dem natürlichen Östrogen, dem Östradiol.“ Es soll die Stimmung eher bessern, allerdings sind diese Präparate teurer. Aber wer weiß, vielleicht werden sie irgendwann von der Kasse bezahlt – als Antidepressiva.
Martina Lenzen-Schulte